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Rezepte für eine bessere Gesundheitsversorgung
Melanie Häner, zvg.

Rezepte für eine bessere Gesundheitsversorgung

Die Akteure im Gesundheitswesen haben wenig Anreize, die Kosten tief zu halten. Abhilfe schaffen können Qualitätsvergleiche, verstärkte Koordination und das Labor des Föderalismus.

Der Herbst ist jeweils die Jahreszeit, in der Herr und Frau Schweizer mit bangem Blick auf die Medienmitteilungen des Gesundheitsministers schielen. Im kommenden Jahr werden die Krankenkassenprämien um mehr als sechs Prozent steigen. Gleichzeitig stehen wir vor politischen Weichenstellungen: Ende Oktober konstituiert sich das neue Parlament, und nach der Bundesratswahl im Dezember wird auch der neue Gesundheitsminister beziehungsweise die neue Gesundheitsministerin erkoren. Ein idealer Zeitpunkt also, um sich Gedanken zur Zukunft des Schweizer Gesundheitswesens zu machen. So ist es wohl kein Zufall, dass kürzlich grundlegende Debatten über das Obligatorium der Krankenpflegeversicherung, einkommensabhängige Prämien oder die Einführung einer Einheitskasse entflammten.

Fakt ist: Die Gesundheitskosten und die daraus resultierenden Prämien belasten den Durchschnittsschweizer. Gemäss den Haushaltsbudgetbefragungen machen die Gesundheitsausgaben über 9 Prozent der totalen Ausgaben aus.1 Mehr als ein Viertel der obligatorisch Krankenversicherten beziehen individuelle Prämienverbilligungen.2 Was sind die Gründe für das Kostenwachstum, und was ist zu tun?

Zum einen führt der demografische Wandel dazu, dass die Gesellschaft altert, und mit zunehmendem Alter nimmt der Bedarf an Gesundheitsleistungen zu. Zum anderen steigert der technologische Fortschritt die Kosten.3 Das klingt kontraintuitiv, ermöglichen doch in den meisten Märkten technologische Innovationen günstigere Produkte. Nicht so aber im Gesundheitswesen: Der medizinisch-technologische Fortschritt schafft zwar neue Behandlungsmöglichkeiten, erhöht aber auch die Kosten. In anderen Branchen hingegen führen zusätzliche Forschungs- und Entwicklungsausgaben oft zu kostensenkenden Prozessinnovationen, d.h. das Produkt kann bei gleicher Qualität günstiger hergestellt werden. Im Gesundheitsmarkt sind die Produktinnovationen jedoch meist kostentreibend. Das ist nicht in jedem Fall Ausdruck von Ineffizienz. Gewisse Produktinnovationen sind effizient, weil die neuen Produkte zwar teuer, aber auch besser sind. Andere wiederum sind ineffizient, weil die Verbesserung die Kosten nicht aufzuwiegen vermag. Auf einem durch vollständigen Wettbewerb geprägten Markt würden solch ineffiziente Produktinnovationen aussortiert. Im Gesundheitsmarkt, wo die Nachfrager nicht die wahren Kosten tragen, ist das aber oft nicht so.4

Schliesslich ist die Kostenzunahme auch auf ein Mengenwachstum (also einen Mehrkonsum von Leistungen) zurückzuführen, das sich medizinisch nur bedingt erklären lässt und v.a. auf Fehlanreize der Akteure zurückzuführen ist. Eine vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Auftrag gegebene Studie beziffert solche Ineffizienzen auf satte 16 bis 19 Prozent.5

Die Akteure des regulierten Wettbewerbs und ihre Anreize

Eine grosse Herausforderung im Gesundheitswesen ist die Informationsasymmetrie. Die Patienten können kaum einschätzen, ob und in welchem Ausmass eine Behandlung notwendig ist. Dies hat zur Folge, dass die Ärzte die Behandlungen beinahe beliebig ausweiten können. Man spricht dabei von der «angebotsinduzierten Nachfrage». Studien belegen denn auch, dass eine höhere Ärztedichte zu wachsenden Gesundheitskosten führt.6

Nicht nur die Leistungserbringer, sondern auch die Patienten haben wenig Anreize, die Gesundheitskosten niedrig zu halten. Wer nicht mehr die vollen Kosten seiner Behandlung tragen muss, hat einerseits weniger Anreize, vorzubeugen, und ist andererseits eher versucht, eine zusätzliche Leistung in Anspruch zu nehmen, nach dem Motto: «Nützt’s nüt, so schadt’s nüt.» Die obligatorische Krankenversicherung bringt einen solchen Fehlanreiz mit sich, den Ökonomen als «moralisches Risiko» bezeichnen.

Schliesslich können die Krankenversicherer nicht als Pförtner fungieren, um das Kostenwachstum zu hemmen. Aufgrund des Kontrahierungszwangs sind sie verpflichtet, die Leistungen von jedem zugelassenen Leistungserbringer zu vergüten. Ferner haben sie keinen Anreiz, dass Leistungen ambulant statt stationär erbracht werden, was aus einer Gesamtsicht die Kosten senken würde. Denn die Kantone finanzieren nur die stationären Leistungen im Spital mit.

Der steckbriefartige Überblick macht deutlich: Trotz und teilweise aufgrund der zahlreichen Regulierungen bestehen für alle Akteure gewisse Fehlanreize, die zum weiteren Kostenanstieg beitragen.

Bestimmte Herausforderungen, wie der demografische Wandel, betreffen jedes Gesundheitswesen, andere sind abhängig von dessen Ausgestaltung. Deshalb lohnt sich ein kurzer Ländervergleich. Wie Grafik 1 zeigt, zeichnet sich die Schweiz durch einen geringen Anteil an Bedarf an medizinischen Leistungen aus, die nicht erfüllt werden – und dies in allen Einkommensklassen. Berücksichtigt werden dabei Hinderungsgründe wie Wartezeiten, geografische Gegebenheiten sowie finanzielle Möglichkeiten.

Allerdings leistet sich die Schweiz eines der teuersten Gesundheitssysteme. Wie aus Grafik 2 hervorgeht, belaufen sich unsere Gesundheitsausgaben auf knapp 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Deutschen und Franzosen lassen sich ihr Gesundheitswesen gar über 12 Prozent kosten. Obwohl die Österreicher und Niederländer bezüglich Qualität ähnlich abschneiden, geben sie verhältnismässig weniger aus als die Schweiz.

Über die letzten Jahrzehnte wurden etliche Massnahmen ergriffen mit dem Ziel, die Kosten einzudämmen: von Zulassungsstopps bei den Ärzten über Managed-Care-Modelle bis hin zur Einführung der freien Spitalwahl. Auch die aktuelle Übersicht zu den Kostendämpfungsmassnahmen7 zeugt davon, dass es nicht an Versuchen fehlt, eine weitere Kostenexplosion zu verhindern.

Eines ist klar: Das Ei des Kolumbus scheint es nicht zu geben, dafür sind die Herausforderungen im Gesundheitswesen zu vielfältig. Radikale Ideen wie die Abschaffung des Obligatoriums, die Einführung einer Einheitskasse oder der Systemwechsel zu einkommensabhängigen Prämien mögen zwar die Diskussion befruchten, doch dürfte es lohnender sein, die Energie dafür einzusetzen, das bestehende System effizienter auszugestalten. Aus politökonomischer Perspektive gibt es drei wegweisende Ansätze, um das Gesundheitswesen zu therapieren.

Therapieformen für das Schweizer Gesundheitswesen

Erstens braucht es klare Qualitätsindikatoren und entsprechende Transparenz. «Value-Based Healthcare» gilt als Schlagwort der Stunde. Die Idee ist aber bereits über 15 Jahre alt. 2006 entwarfen der Managementtheoretiker Michael E. Porter und die Gesundheitsökonomin Elizabeth O. Teisberg einen Vorschlag für einen verstärkten Qualitätswettbewerb im Gesundheitswesen.8 Viele der Daten, die für solche Vergleiche notwendig wären, werden bereits erfasst, so dass sich der zusätzliche Bürokratieaufwand in Grenzen halten liesse. Dies würde einerseits die Informationsasymmetrie zwischen den Leistungserbringern und den Patienten reduzieren. Andererseits böten die Qualitätsindikatoren die Möglichkeit, die sogenannten WZW-Kriterien des Leistungskatalogs der obligatorischen Krankenversicherung besser zu evaluieren. Gemäss diesen Kriterien muss jede Behandlung, die über die Krankenkassen abgerechnet wird, wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich (WZW) sein.

Eine solche Überprüfung ist bei mehr Transparenz und Qualitätsindikatoren einfacher und kann damit weiter zur Kostensenkung beitragen, ohne Qualitätseinbusse. Schliesslich würde dadurch auch das moralische Risiko der Patienten verringert, wären doch unnötige Überbehandlungen nicht mehr leicht zu erhalten, weil die Leistungserbringer in einem transparenten Qualitätswettbewerb miteinander stünden und die WZW-Kriterien fortlaufend bei den Leistungen im Katalog geprüft würden. Um die Eigenverantwortung der Versicherten zusätzlich zu stärken, könnten auch günstigere Modelle mit höheren Franchisen angeboten werden. Da die Versicherten in einem solchen Modell (freiwillig) mehr aus der eigenen Tasche bezahlen, würden Qualitätsindikatoren noch eine grössere Rolle spielen.

Mit der Qualitätstransparenz in Verbindung steht der zweite Grundsatz, den es bei künftigen Lösungen zu beachten gilt: die verbesserte Koordination zwischen den Akteuren. In der erwähnten Auftragsstudie des BAG werden 8 bis 11 Prozent des gesamten Effizienzpotenzials in der mangelnden Koordination in der Versorgung geortet. Insbesondere chronisch kranke Patienten werden oft redundant von mehreren Leistungserbringern behandelt, was bestenfalls unnötig und schlimmstenfalls schädlich ist. Durch die verbesserte Koordination liessen sich ohne Qualitätseinbussen erhebliche Kosten einsparen.9 Ein möglicher Bestandteil wäre ein elektronisches Patientendossier, aus dem für die verschiedenen Spezialisten die bisherige Krankheits- und Behandlungsgeschichte ersichtlich wird. Damit liessen sich Doppelspurigkeiten ausmerzen, was die Kosten senken und die Behandlungsqualität für die Patienten erhöhen würde. Ein anderes Element wäre die seit langem diskutierte und bereits erwähnte einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären (Spital-)Leistungen.

«Chronisch kranke Patienten werden oft redundant von mehreren

Leistungserbringern behandelt, was bestenfalls unnötig und

schlimmstenfalls schädlich ist.»

Und drittens gilt es, die föderalen Zuständigkeiten im Gesundheitswesen nicht auszuhebeln. Im Labor der Kantone lassen sich verschiedene Ansätze für den effizienteren Mitteleinsatz testen und miteinander vergleichen. Das geschah bereits bei der integrierten Versorgung, welche die verbesserte Koordination zwischen den Akteuren zum Ziel hat. Die Bestrebungen zur integrierten Versorgung in den Kantonen gehen auf die 1990er-Jahre zurück und zielen auf die verstärkte Vernetzung und Koordination von Leistungserbringer, Patient und Kostenträger ab, um Qualität, Sicherheit und Effizienz der Versorgung zu steigern.10 Eine Evaluation der verschiedenen Initiativen zeigte, dass es je nach Kanton unterschiedliche Ansätze zur verstärkten Integration gab, die als Vorbilder für andere Gebiete fungieren.11

Bevor im Blindflug weitere Kostendämpfungspakete geschnürt werden, lohnt sich die Priorisierung der drei Grundsätze: verbesserte Qualitätsvergleiche, verstärkte Koordination zwischen den Akteuren und Wahrung des föderalen Labors. Dadurch können die bestehenden Informationsasymmetrien sowie das moralische Risiko der Versicherten reduziert werden, ohne Verzicht auf die Vorzüge des bestehenden Systems der obligatorischen Krankenversicherung. So lässt sich eine gravierende Erkrankung unseres qualitativ hochstehenden Gesundheitssystems vermeiden.

  1. Bundesamt für Statistik (BfS): «Detaillierte Haushaltsausgaben sämt­licher Haushalte nach Jahren», 2022. http://www.bfs.admin.ch/asset/de/je-d-20.02.01.02.01

  2. BfS: «Obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKPV): Kennzahlen zur Prämienverbilligung», 2023.

  3. Siehe dazu auch Peter Werder: In der Medizin führt Innovation zu Mehrkosten. In: Schweizer Monat 1104, März 2023, S. 24–27.

  4. Konstantin Beck (Hrsg.): «Risiko Krankenversicherung. Risikomanagement in einem regulierten Krankenversicherungsmarkt. 3., teilweise überarbeitete Auflage», 2013.

  5. Beatrice Brunner et al.: «Effizienzpotenzial bei den KVG-pflichtigen Leistungen. Eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit», 2019.

  6. Oliver Reich, Cornelia Weins, Claudia Schusterschitz, Magdalena Thöni: «Exploring the Disparities of Regional Health Care Expenditures in ­Switzerland: Some Empirical Evidence». European Journal of Health ­Economics, 13, 2012, S. 193–202.

  7. Bundesamt für Gesundheit (BAG): «Übersicht Kostendämpfungsmassnahmen», 6. April 2023.

  8. Michael E. Porter, Elizabeth O. Teisberg: «Redefining Health Care: ­Creating Value-Based Competition on Results». Boston: Harvard ­Business School Press, 2006.

  9. Z.B. Institut für Wirtschaftsstudien Basel (IWSB): «Stärkung der ­(Ergebnis-)Qualität, der Koordination und der Interprofessionalität in bestehenden Abgeltungssystemen», 2017.

  10. Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren. «Integrierte Versorgung in den Kantonen». http://www.gdk-cds.ch/de/­gesundheitsversorgung/integrierte-versorgung.

  11. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium Obsan: «Soins intégrés en Suisse. Résultats de la 1re enquête (2015–2016)». Obsan Dossiers 57, 2017.

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