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Wie Taavi Kotka im mehrmals untergegangenen Estland einen unsterblichen digitalen Staat gründete.

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Hannes Grassegger, photographiert von Sebastian Magnani.

«Was braucht man als erstes für einen Staat?», fragt Taavi Kotka. «Ein Land!», sage ich. Er schüttelt den Kopf: «Menschen. Bürger.»

Wir sitzen im «Juur», das ist Kotkas Lieblingsrestaurant, irgendwo im Südteil von Tallinn, der Hauptstadt Estlands, und gerade kommt der Nachtisch. Gefrorene Waldameisen auf Milchschaumcrème.

New Nordic heisst die Küche, die man hier pflegt. Das «Juur» ist in einem nagelneuen Backsteinbau im Stil alter Fabrikanlagen untergebracht. Rundherum gibt es Lofts, Universitätsinstitute, Start-ups. Das «Juur» steht für die Aufstiegsgeschichte dieses nördlichsten der drei baltischen Staaten: Estland – ein Land so gross wie die Schweiz, 1,4 Millionen Einwohner, 1991 in die Unabhängigkeit entlassen, seither zum digitalen Vorreiter in Europa, vielleicht weltweit aufgestiegen. Skype kommt von hier. An jeder Ecke gibt es Digitalunternehmen, seit 2007 kann man landesweit digital wählen.  

1991 übernahm eine blutjunge Generation Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hier einen eigentlich noch nicht existierenden Staat. Einen Staat, den man erst wieder beleben musste. Und die Esten sahen diese Geburt als Chance, den Staat an sich neu zu erfinden. Der strubbelige Kotka, Informatiker im Kapuzenpullover, Surferfigur, war einer von ihnen. Er begründete den unsterblichen Staat.

2013, mit 34, übernahm der damalige Jungunternehmer die Position als CIO, Chief Information Officer, seines Heimatlandes. Er wurde Datenchef einer Nation, die bereits damals eine papierlose Verwaltung hatte. Die Bürger Estlands finden es seit Jahren völlig normal, eine ID mit einem staatlichen Login-Code zu haben, um damit auf der Staatsplattform ihre persönlichen Daten einsehen und deren Nutzung kontrollieren zu können. Doch Kotka wollte noch einen Schritt weiter gehen: Menschen aus aller Welt sollten digitale Staatsbürger seines an Bevölkerungsrückgang leidenden Heimatstaates werden können. Er startete das sogenannte E-Residency-Projekt; sein Ziel waren zehn Millionen E-Residents. Jeder, dessen Strafregister sauber war, sollte sich als digitaler Neubürger bewerben können. Die digitale Bürgerschaft allerdings ist eine begrenzte: sie bringt weder die Rechte noch die Pflichten einer estnischen Staatsbürgerschaft mit sich, sondern ist vor allem die Möglichkeit, damit innerhalb des estnischen und damit EU-Raums Geschäfte zu machen und Firmen zu eröffnen. Zur Wahlurne kann man damit nicht. Während die Weltpresse die Idee bejubelte, machten sich Kotka und seine Leute an die Arbeit.

«Eine digital orientierte Diaspora»

Denn das ganze Projekt war auch Vorsorge für den Fall einer Besatzung. Das verhältnismässig reiche Estland ist eine digitale Glasperle vor den Füssen eines nervösen Bären namens Russland, dem allmählich das Ölgeld ausgeht. Immer wieder wird Estland in russischsprachigen Medien als aggressive Vorhut des Westens porträtiert. So ging es auch schon der Ukraine, bevor die Krim annektiert wurde. «Sapad» (Westen) nannte Russland seine Ende September abgeschlossene Militärgrossübung.

Die Menschen in Estland führen eine hitzige Diskussion darüber, wie lange es brauchen würde, bis man vom russischen Militär überrollt würde, bei allem Widerstand. Die einen glauben drei Tage. Die anderen sagen 24 Stunden.

 «Wie wahrscheinlich ist es denn, dass Ihr Land in den nächsten Jahren besetzt wird?», frage ich. Kotka nimmt eine Ameise zwischen die Fingerspitzen: «Vor Donald Trump dachte ich, das sei unmöglich. Wir sind ja sogar Nato-Mitglied geworden, um uns vor Angriffen zu schützen.» In der Nato gelte das Prinzip alle für einen – einer für alle. «Trump aber hat klargemacht, dass man sich da nicht mehr drauf verlassen kann.» Er zerbeisst die Waldameise. 

«Es ist egal, ob die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Besetzung bei 0,1 oder 1 Prozent ist», sagt Kotka, der seit Anfang 2017 wieder Student ist und somit nicht als Staatsmann spricht. Das Land sei immer wieder besetzt worden in den letzten Jahrhunderten. «Die Frage, die wir uns in meiner Amtszeit stellten, war: wie bauen wir unseren Staat wieder auf, nach einer Besatzung. Oder könnten wir ihn sogar am Laufen halten – trotz einer Besatzung?»

Die Erkenntnis, dass Bürger einen Staat ausmachen, nicht der Boden, hat man bei der Neugründung Estlands gewonnen. Denn 1991 musste die wiedergeborene Nation sich entscheiden, wer Bürger werden durfte. Man ging Menschen sammeln. Damals beschloss Estland, in das während der Sowjetzeit hunderttausende Sowjetbürger aus allen Flecken der UdSSR angesiedelt worden waren, dass all jene die neue estnische Staatsbürgerschaft erhalten würden, die nachweisen konnten, bereits vor der Besatzung von 1944 hier Vorfahren gehabt zu haben. «Dafür brauchten Einbürgerungswillige Papiere. Belege aus Kirchenbüchern beispielsweise.» Wie wild machten sich die Leute auf die Suche nach alten Dokumenten. Von denen viele vernichtet worden waren. Andere wurden gefälscht und einfach umgeschrieben. Es war ein Riesendurcheinander. Wie all das erst wohl in der papierlosen Gegenwart funktionieren sollte, fragte sich Kotka als CIO seines Landes. Er erkannte, solche Daten dürften niemals verlorengehen. Ein Staat müsste digital weiterleben können, sollte das reale Estland nach allen bisherigen Definitionen ausgelöscht oder erobert sein. Kotkas Gedanken sind grundsätzliche; er ist globaler Vordenker eines neuen Staatsmodells. «Virtuelle Staaten» lautet denn auch der Titel seiner anstehenden Doktorarbeit.

Damit die Dateien der digitalen Bürger im Falle eines Hacks oder einer Besatzung sicher wären, entwickelte Kotka das Konzept von Datenbotschaften. Das sind schlicht Kopien aller Staatsdaten auf Harddisks, sicher untergebracht in befreundeten, entfernten Ländern. «Man weiss nie, wann irgendwo etwas hochgeht», sagt Kotka. Darum müsse Estland diese Daten dezentral abspeichern. An mehreren Orten. Gleichzeitig müssen die Speicherorte gut ans Netz angeschlossen sein, um sie laufend aktualisieren zu können.

Sollte das Land einst wirklich erobert werden, das physische Territorium verlorengehen, würde der virtuelle Staat einfach weiterfunktionieren. Denn dann würden sich die Speicher der Datenbotschaften zusammenschliessen und die Staatsplattform wieder zum Leben erwecken. Inklusive aller digitalen Bürger. Im besten Fall würden die Bürger, Nutzer der Staatsplattform, nicht einmal eine Unterbrechung im System bemerken. Man könnte weiterhin online eine Regierung wählen, Geburtsurkunden bekommen, sogar Geschäfte abwickeln. «Wie eine digital organisierte Diaspora.» Kürzlich unterschrieb Estland nun mit Luxemburg den ersten offiziellen Vertrag zur Errichtung einer sogenannten digitalen Botschaft.

Eingriffe in Echtzeit

Doch Kotka hatte nicht nur das Ziel der Unsterblichkeit. Er dachte auch noch daran, den Sterblichen die mühselige Staatsarbeit ganz aus der Hand zu nehmen. «Wir führten ein Tool ein, bei dem Unternehmen alle Geschäfte untereinander auf der Staatsplattform durchführen.» So wird sichtbar, wer wem was zahlt. Kotka schaffte dadurch die Unternehmensmehrwertsteuer ab. Während andere Länder mittels des aufwendigen Steuersystems versuchen zu erkennen, wie es um ihren Wirtschaftskreislauf steht – und so erst mit grosser Verspätung ihre Steuern anpassen können –, gewinnt die junge Tech-Nation in Echtzeit Einsicht in den realen Wirtschaftskreislauf. Die Firmen wiederum profitieren von der Rechtssicherheit.

Wenn die Technik so weit sei, in wenigen Jahren, und wenn die Leute in den Verwaltungen diese Möglichkeiten erst zu nutzen wüssten, könnte sich so vieles entwickeln. «Wir könnten beispielsweise sofort sehen, wenn in der chemischen Industrie 3000 Jobs bedroht wären. Wenn ein Schiff mit Touristen im Hafen einfährt, könnten wir die Steuer für Souvenirs kurzzeitig anpassen.» Theoretisch liesse sich in Echtzeit das Steuersystem anpassen. In naher Zukunft könnten Algorithmen die ökonomische Steuerung übernehmen, träumt Kotka. Es wäre die Geburt eines ganz neuen Wirtschaftssystems. Eine Marktwirtschaft, gesteuert durch künstliche Intelligenz. Wähler würden über Computerprogramme abstimmen, entscheiden zwischen rechten oder linken Algorithmen. Kotka lächelt. Alles möglich. Aber noch nicht so weit.


Hannes Grassegger
ist Ökonom und Journalist. 2016 wurde er mit dem Zürcher Journalistenpreis geehrt. Seine Reportagen, Essays und Artikel erschienen in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen. Zuletzt von ihm erschienen: «Das Kapital bin ich» (Kein & Aber, 2014).

 

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