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Religionsneutral ist nicht neutral

Der neue Laizismus – ein Ausweg aus der Sinnkrise im christlichen Abendland?

Der Laizismus postuliert die absolute Trennung von Kirche und Staat mit dem Ziel, kirchliche Einflüsse vom öffentlichen Leben fernzuhalten. Dabei hat der Laizismus zunehmend pseudoreligiöse Züge angenommen – unter dem Titel der Glaubens- und Gewissensfreiheit übt sich der Staat demonstrativ in weltanschaulicher Neutralität und hält zwanghaft das Bild einer multikulturellen Gesellschaft hoch, in der möglichst alle Spuren christlicher Kultur getilgt werden.

Den Laizismus kann nur verstehen, wer sich dessen Genese vergegenwärtigt. Er entstand in Frankreich und hatte zu Beginn einen kämpferisch-antiklerikalen Schub. Dieser richtete sich gegen die römisch-katholische Kirche, die seit dem Widerruf des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV. im Jahre 1685 – das Edikt hatte den calvinistischen Protestanten (Hugenotten) Bürgerrechte gewährt – bis zur Revolution von 1789 als einzige zulässig war.

Der Hintergrund der Frontstellung gegen die Kirche ist die jahrhundertelange enge Verbindung zwischen ihr und dem französischen Königshaus. Seit der Bekehrung und Taufe des Königs Clovis I. (ca. 499) galt Frankreich als die erstgeborene Tochter der Kirche, und es war ein französischer König, der kurz nach seinem Tod heiliggesprochen wurde: Ludwig IX., besser bekannt als Saint Louis (1214–1270). Er sehnte sich nach christlicher Vollkommenheit, war Anhänger der grossen Bussbewegung und galt als Idealtypus eines christlichen Herrschers. In Frankreich lancierte er ein moralisch-religiöses Aufrüstungsprogramm: Blasphemie und Wucher wurden unter Strafe gestellt, und in Absprache mit dem Papst wurde der jüdische Talmud verbrannt. Auf seinem zweiten Kreuzzug erlag Ludwig IX. in Tunesien einer Seuche und wurde in St. Denis bei Paris beigesetzt.

Dank ihm verlieh der Papst den französischen Königen den Titel «Allerchristlichster König». Noch im Zeitalter des Absolutismus, als von Frömmigkeit kaum mehr etwas übrig war, nutzten die Herrscher den päpstlichen Autoritätsanspruch, indem sie ihn säkularisierten und für ihre Machtausübung in Anspruch nahmen. Nach der Revolution schien sich das Verhältnis zwischen Kirche und Staat zu entspannen. Die katholische Kirche verlor ihre Sonderstellung, und die aus dem Untergrund aufgetauchten Protestanten gelangten überproportional in hohe Ämter.

Konkordate zwischen Staat und Kirche beruhigten die Lage in Frankreich wie anderswo. Nach Einführung des allgemeinen Stimm- und Wahlrechts bekam es die römisch-katholische Kirche jedoch mit der Angst zu tun. Ob die Marginalisierung auch sie heimsuchen könnte? Papst Pius IX. floh in den Absolutismus zurück und boxte im Ersten Vatikanischen Konzil (1869) die Unfehlbarkeit des Papstes durch. Und so kam es, wie es kommen musste: 1905 schnitt der französische Staat die Verbindungen zu sämtlichen Kirchen radikal durch. Umgekehrt erklärte die katholische Kirche die Moderne zum Feindbild, und die Kleriker wurden von 1910 bis 1967 auf den Antimodernisteneid verpflichtet.

Die Französische Revolution blieb unfertig, und die jakobinische Utopie fand ihre neue Heimat im Kommunismus. Sie und keineswegs die Arbeiterbewegung bildet dessen ideologische Basis. Deshalb erzielte die kommunistische Partei in Frankreich verblüffende Wähleranteile auch dann noch, als der Kommunismus durch Stalin längst diskreditiert war. Das nur halbherzig zur Republik mutierte Land duldet bis heute Präsidenten, die sich als absolutistische Herrscher gebärden. Die unfertige Revolution zeigt sich auch in den magischen Daten der Revolutionsereignisse, die wie Heiligengedenktage das säkulare Kirchenjahr gliedern: 14. Juli (Sturm der Bastille), Februarrevolution, Junimassaker. Seit 1789 wird nicht in Jahren und Jahrhunderten, sondern in Monaten und Tagen datiert, was zur Biographie eines jeden Franzosen gehört. Was Frankreich zusammenhielt und -hält, ist nicht eine republikanische Identität, sondern der Antiklerikalismus als Beweis der fortschrittlichen Gesinnung. Hier liegt der Schlüssel für das Verständnis des Laizismus.

Bereits vor 1905 wurden die Kirchen aus den Schulen verbannt. 1901 wurden religiöse Vereinigungen unter besondere staatliche Aufsicht gestellt. Das Leitmotiv dieser Massnahmen war die «laïcité» des Staates in einer kämpferisch-antiklerikalen Deutung. Diese erfuhr im Laufe der Zeit eine pragmatischere Handhabung. Die «laïcité nouvelle» wird vom Verfassungsgericht als Neutralität des Staates, aber nicht mehr als Frontstellung gegen die Kirche interpretiert. Faktisch wird jedoch die Bestimmung, wonach der Staat keine Gottesdienste, sondern nur kulturelle Projekte subventionieren darf, leicht zur Diskriminierung. Religiöse Denkweisen sind nun einmal eine gesellschaftliche Realität, und viele von ihnen münden in öffentliche Aktivitäten. Christlicher Glaube wie andere Religionen sind in manchen Fällen die innerste Triebfeder für kulturelle Leistungen und Errungenschaften.

Die Idee des Laizismus erfreut sich heute angesichts der demographischen Veränderungen einer neuen Beliebtheit – nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa, mithin auch in der Schweiz. Das Zürcher Volksschulamt schreibt mit Blick auf Weihnachten: «Von der aktiven Teilnahme an Handlungen und Liedern mit religiösen Inhalten – zum Beispiel solchen, die Jesus als Gottes Sohn bezeichnen – soll abgesehen werden.» Der Staat will keine religiösen Gefühle verletzen, und im Islam gilt Jesus nicht als Sohn Gottes. Gemäss der amtierenden Bildungsdirektorin des Kantons Zürich, Regine Aeppli, müssen die Schulen Weihnachten zwar nicht ohne Jesus feiern. Lieder wie «Der Heiland ist geboren», «Es ist ein’ Ros’ entsprungen», «Ihr Kinderlein kommet», «Stille Nacht, heilige Nacht» sind jedoch zu vermeiden. Unproblematisch sind Lieder ohne Jesus, wie «O Tannenbaum».

Auch Schweizer Grossfirmen zeigen sich religionsneutral. Anstatt Weihnachtswünsche werden bei ABB «schöne Festtage» sowie «alles Gute und viel Erfolg im neuen Jahr» übermittelt. Hinweise auf den christlichen oder einen anderen Glauben meidet man, ja fürchtet man wie der Teufel das Weihwasser. Die Credit Suisse versieht ihre Kundenkarten in der Schweiz mit dem Wort «Festtage» und in den USA mit «happy holidays». Als weltweit tätiges Unternehmen wolle man überkonfessionell agieren, und «der Begriff ‹Weihnachten› steht bei uns nirgends im Vordergrund», sagt der CS-Sprecher. Auch die grösste Schweizer Firma verschickt Grusskarten mit neutraler Aufschrift. Laut einer Nestlé-Sprecherin können diese «natürlich individuell, je nach Adressat, mit Grüssen versehen werden».

Sowohl der Staat als auch Teile der Wirtschaft halten den Laizismus für die richtige Haltung, mit der sich Spannungen und Konflikte vermeiden lassen. Die bereits zitierte Regierungsrätin Regine Aeppli nimmt in einem Aufsatz für die Zeitschrift «Leben & Glauben» aus dem Jahre 2006 Bezug auf die konfessionellen Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert und fügt an, seither sei die Erhaltung des religiösen Friedens ein zentrales Anliegen des schweizerischen Bundesstaats und seiner Verfassung. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit gehörten zu den Grundrechten, und die öffentlichen Schulen seien dem Gebot der konfessionellen Neutralität verpflichtet. Doch was heisst Glaubensfreiheit eigentlich? Es heisst, dass der Staat niemandem einen Glauben aufzwingen können soll – aber nicht, dass jegliche Manifestationen des Religiösen im staatlichen Kontext zu amputieren seien.

Bekenntnisse sind nun einmal nicht ausschliesslich im Intellekt beheimatet und sollen es auch nicht sein. Die Aussenansicht der Religionen, die die Politik heute für den Staat als die einzig richtige betrachtet, erfasst nicht deren Wesen, sondern bestenfalls deren Phänomenologie. Die Bildungsbürokratie stützt sich auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, der zwischen «teaching in religion» und «teaching about religion» unterscheidet. Die zweitgenannte Form sei überkonfessionell und dürfe deshalb an öffentlichen Schulen obligatorisch erklärt werden. Doch «teaching about religion» reklamiert, recht besehen, für sich – jenseits aller Weltanschauungen – eine objektive Warte, die es gar nicht gibt. Jedes Welt- und Menschenbild ist fragmentarisch und setzt eine Position voraus. Wird für schulische Weihnachtsfeiern und -lektionen die Erwähnung der Gottessohnschaft Jesu abgelehnt, so ist das ein Eingriff in eine theologische Debatte. Ob Jesus Gottes Sohn sei, war bereits in der Alten Kirche Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Die sogenannte überkonfessionelle Betrachtung ist auch ein Positionsbezug – allerdings einer, der nicht deklariert wird.

Dass sich staatliche Institutionen so hastig in den Laizismus als Ersatzreligion flüchten, hängt mit der Einwanderung der vergangenen 20 Jahre zusammen. Der sprunghaft angestiegene Zuzug aus Kulturen, die man teilweise kaum dem Namen nach kannte, überfordert die Leute und schädigt Institutionen, allen voran die Schule. Um den Tatsachen nicht ins Auge blicken zu müssen, flüchteten sich viele Verantwortungsträger in den romantischen Entwurf einer multikulturellen Gesellschaft, die es nicht gibt – und auch nie geben wird.

Die natürlichen Hürden der Migration bestanden über Jahrtausende hinweg in zwei Fragen: Erreiche ich heil und lebendig mein Zielland? Gelingt es mir, mich dort zu ernähren und mich später zu etablieren? Diese Fragen schreckten viele Leute von der Auswanderung ab, weil die Misere in der angestammten Heimat das kleinere Übel zu sein schien als das Scheitern in einem fremden Land. Keine der beiden Fragen braucht irgendwer sich heute noch zu stellen. Die Reise gelingt aus technischen Gründen fast von selbst, und wer sich im Gastland nicht über Wasser halten kann, wird von der Sozialhilfe ernährt oder – je nach Destination – oft genug verwöhnt. Das Problem wird erschwert durch die Tatsache, dass eine umfangreiche Sozialindustrie diesen Problemen ihre Jobs verdankt und kein Interesse daran hat, die Verhältnisse wirklich zu korrigieren.

Der Laizismus aus den Zeiten des Kulturkampfes ist jedoch kein taugliches Mittel, die durch die Einwanderung entstandenen Schwierigkeiten zu beruhigen, geschweige denn zu beheben. Gerade dem Islam, mit dem wir zunehmend konfrontiert sind, ist die Trennung von Religion und Staat fremd. Eine Ausnahme bildet die Türkei, wo Atatürk nach der Ablösung des Osmanischen Reiches radikale Massnahmen zur Verdrängung des Islams aus dem öffentlichen Leben durchsetzte. Seit 1937 verpflichtet die Verfassung den türkischen Staat auf den Laizismus. Die Re-Islamisierungsbewegungen sind jedoch alles andere als überwunden und verfügen über Einfluss bis in hohe Führungsetagen. Bemerkenswert ist überdies, dass sich zahlreiche türkische Auswanderer in der Fremde auf den Islam besinnen, um einer Identitätskrise zu entgehen – darunter solche, die in ihrer alten Heimat völlig säkularisiert waren.

Die Kirchen stehen dem neuen Laizismus ratlos gegenüber. Die römisch-katholische Seite hat den Vorteil, dass ihre Kurie christliche Positionen hochhält und Flagge zeigt. Sie tut dies jedoch zu einem hohen Preis. Seit Papst Johannes Paul II. steht das reaktionäre Erste Vatikanische Konzil höher im Kurs als das Vaticanum II, das als Reformkonzil Hoffnungen geweckt hatte («ecclesia semper reformanda»). Der garstige Graben zwischen den Glaubensinhalten und der modernen Welt verläuft durch die katholische Kirche hindurch, genauer zwischen der Kurie und der Basis, wobei er sich ständig verbreitert.

Aber auch auf evangelischer Seite ist die Aufarbeitung des agnostischen Neuprotestantismus aus dem 19. Jahrhundert gescheitert. Die grossen Theologen, die diese Aufarbeitung geleistet haben – allen voran Karl Barth und Rudolf Bultmann –, werden kaum mehr rezipiert. Der Hang mancher evangelisch-kirchlicher Wortführer zu Entwicklungshilfe und Umweltschutz ist ein Ersatz für vernachlässigte Inhalte und verlorenen Glauben. Anstatt am Evangelium wärmen sie sich an Hegels Vorstellung vom vollkommenen Staat als Vollendung des Seins. Angesichts des Islams, dessen Bekenntnis wenig reflektiert und deshalb trittsicher ist, geraten sie in Verlegenheit und wissen sich nicht anders als dadurch zu helfen, dass sie dem Islam hofieren.

Dass der Staat gegenüber dem christlichen Bekenntnis auf Distanz geht, ist richtig. Aber nur dann, wenn er in der Ausländerpolitik sowie im Sozial- und Schulwesen die nötigen Korrekturen anpackt und sich über seine Handlungsmaximen Klarheit verschafft. Die als «Laizismus» getarnte Kirchenfeindlichkeit hat sich überlebt, weil die Kirchen ohnehin keinen Einfluss mehr haben. Die Kirchen ihrerseits müssen merken, dass mit zunehmender Distanz zum Staat die alten Strukturen brüchig werden – und dass das Bekenntnis an Bedeutung gewinnt. Glauben und Verstehen vermitteln einen Teil jener Identität, die der moderne Mensch braucht – nicht nur für sich privat, sondern auch für das Gemeinwesen, wenn es nicht Schiffbruch erleiden soll.

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