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Reiseregel: Sprich jeden Tag mit einer hübschen Frau!

Andri Perl: «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel». Zürich: Salis, 2010.

Christoph Roth, ein frischdiplomierter Historiker und in einer frischen Liebe enttäuscht, verlässt, nach einem unglücklichen Kuss zwischen ihm und der Verlobten seines Bruders, seine Heimatstadt Chur Hals über Kopf, jedoch – um das Chaos im Innern einzudämmen – mit einigen Reiseregeln:

Nimm dein Mobiltelefon nicht mit auf deine Reise!

Wenn du weiterreisen möchtest, reise früh, ja, reise sogar vor neun Uhr!

Spare am Logis, nicht an der Kost!

Trink nicht zuviel!

Sprich jeden Tag mit einer hübschen Frau!

Folge Lorenz’ Gedichten!

Die 4. Regel hat Christoph bald wieder gestrichen und beherzigt diese Streichung mindestens genauso wie das Einhalten der verbleibenden fünf Regeln. Sie sind, abgesehen von der letzten, der wichtigsten, verständlich angesichts des Alters und des Geschlechts der Hauptfigur. Mit Lorenz’ Gedichten hingegen sind die Gedichte des verschollenen Bruders von Christophs Grossmutter gemeint, der Chur Jahre zuvor ebenso fluchtartig verlassen hat und angeblich aus den verschiedenen Stationen seiner Reise Gedichte anstelle von Postkarten geschickt habe.

Die Aussage des Grossneffen, er fliehe nicht, sondern folge Lorenz’ Gedichten, scheint nicht einmal ihn selbst zu überzeugen: einer Flucht zu folgen, das spricht für sich. Er macht sich auf die Reise, über Lavin, Meran und Venedig bis nach Rom, zuerst allein, bald jedoch mit Weggefährten, die – da ähnlich ziellos – sich ihm an schliessen.

Andri Perl, der Autor von «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel», ist 1984 in Chur geboren, Student der Germanistik an der Universität Zürich und vor allem als Mitglied der Rapcrew Breitbild bekanntgeworden. Für seinen Débutroman hat er sich ein klassisches Thema der realen wie der fiktiven Welt ausgesucht (die Reise eines Jünglings zwecks Selbstfindung), überträgt es jedoch in eine Welt, die seiner eigenen, mindestens dem äusseren Schein nach, ziemlich nahe kommt. Er stellt an den Anfang jedes Kapitels eines von Lorenz’ Gedichten und lässt dann Christoph an jenen Ort reisen.

Mit diesem strengen Schema wird erst in Rom gebrochen. Die Gedichte reisen allein weiter, und Christoph macht sich auf, seine Flucht in ein echtes Nachforschen nach seinem Gross-onkel umzuwandeln. Weite Partien dieses zweiten Teils des Romans nimmt die Erzählung des Professore Biancardi ein, des ehemaligen Reisebegleiters von Lorenz. Mit der Struktur wechselt auch der Erzählstil, von einem spielerischen, assoziativen Umgang mit der Sprache und der Erinnerung zu einer solideren, jedoch auch konventionelleren Erzählung der Tatsachen – die auch dem Geheimnis um Lorenz ein Ende setzt. Darüber geht die Selbstsuche Christophs vergessen. Er verwandelt sich in einen bedachten und klugen Zuhörer. Obwohl Lorenz’ Flucht sich als spektakulärer erweist als diejenige Christophs, ist das insofern schade, als der Roman damit in zwei Teile zerfällt, die erst am Schluss wieder – es sei nur so viel verraten: nicht sehr geschickt – verbunden werden.

Denn gerade aus den unbedeutenden, jedoch mit Liebe zum Detail beschriebenen Reiseerlebnissen, durchtränkt von Erinnerungen an die letzte durchzechte Nacht in seiner Studentenvilla oder den roten Perserteppich in Grossmutters Wohnung, sowie dem unentschlossenen Blick in eine uninspirierte, von der Vergangenheit verschieden gewollte Zukunft entsteht eine Schwebe, die gut zu einer Reise an einem heissen Sommertag mit unbekanntem Ziel passt.

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