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Reisen Schreiben Leben

Um sich der Bedeutung von Freiheit, Heimat und dem Überschreiten von Grenzen bewusst zu werden, braucht es nicht immer eine Krise – manchmal reicht eine Reiseerzählung. Eine Erinnerung an Annemarie Schwarzenbach, Ella Maillart und Nicolas Bouvier.

 

Dienstag, 6. Juni 1939. Im Kofferraum befindet sich eine kleine Bibliothek: Marco Polo, Pelliot, Evans-Wentz, Vivekananda, Maritain, Jung, eine Biografie von Alexander dem Grossen, Grousset, der «Zend-Avesta», «The Darvishes» von John P. Brown und H. A. Rose. Am Steuer sitzt Annemarie Schwarzenbach, auf dem Beifahrersitz eine weitere Weltreisende, Ella Maillart.

Aufbruch. Der alles entscheidende, immer wiederkehrende Aufbruch, der einen Abschied mit sich zieht. Ade, Genf, ade, Heimat. Ade, altbekanntes Leben. Wie viele Kilometer? Das weiss keiner genau. Wie viele Tage, Wochen und Monate bis zum Ziel vergehen werden? Ungewiss. Ob es überhaupt ein Ziel gibt? Ungewiss. Geografisch soll es Kabul im weit entfernten Afghanistan heissen, aber man ist auf der Suche nach etwas, ja nach was eigentlich? Über ein Jahrzehnt später, im Jahr 1953, stellt sich auf dieser Route ein weiterer Reisender diese Frage: Nicolas Bouvier.

Für den 24-Jährigen ist die Autoreise mit seinem Freund, dem Maler Thierry Vernet, die erste grosse Reise gen Osten – in einem Fiat Topolino, ebenfalls in Genf gestartet. Für Schwarzenbach, die 1942 nach einem Unfall im Engadin ums Leben kommt, wird es eine der letzten sein. Und Ella Maillart steht im Zenit ihres Lebens und schreibenden und fotografischen Schaffens. Warum lassen sie ihre Schweizer Heimat, die Wiesen und Berge, die Freunde und Familien, den Wohlstand und das Wohl­bekannte zurück und begeben sich auf die lange Reise ins ferne Afghanistan?

Magie der Worte

Die drei Schweizer hinterlassen uns Bücher in drei verschiedenen Sprachen von zwei Reisen, die uns über Istanbul, Erzurum und Täbris bis nach Teheran führen. Die beiden Frauen wählen die Nordroute über Maschhad, Herat und Masar-e-Scharif; Bouvier führt uns südlich durch den Iran und Afghanistan über Isfahan, Schiras, Kerman und Quetta, bis beide Routen in Kabul zusammentreffen. Schwarzenbach schafft es nicht mehr, ein Buch über diese Reise zu veröffentlichen; ihre Texte werden nach ihrem Tod editiert. «Alle Wege sind offen», sagt uns einer ihrer Buchtitel, dabei sind die Grenzübergänge teilweise abenteuerlich und mit Schwierigkeiten verbunden, gar zum Fürchten. Wie empfindet man sie, die Grenze? «Kennt ihr, die Sesshaften und Beheimateten, den Schrecken und jähen Zauber dieses Worts?», fragt Schwarzenbach ihre Leser, während sie die Grenze zu Afghanistan überquert. Wohl kaum, wenn es nach der Reisenden geht, denn Bezeichnungen und Namen von Ort- und Landschaften erhalten erst eine Bedeutung, wenn man sie am eigenen Leibe erlebt hat: «Ich zog aus, nicht um das Fürchten zu lernen, sondern um den Gehalt der Namen zu prüfen und ihre Magie am eigenen Leibe zu spüren.» Dies gilt es aufzuschreiben, weiterzugeben, denn Erinnerungen sind vergänglich.

Was die drei Reisenden wortwörtlich erfahren haben, sind ­Erinnerungen an Momente, die sie zu vergessen befürchten. Sie halten sie für uns fest, schwarz auf weiss, für die Ewigkeit. Dabei ist es nicht einfach, den Inhalt ihrer Erzählungen wiederzugeben. Sie bestehen aus einzelnen Erlebnissen und Episoden. So finden wir bei Maillart Begegnungen mit fremden Sprachen, die uns ermutigen: «Er lachte uns zu, als wir langsamer fuhren, und rief uns den üblichen Gruss ‹Mandana bashi!› (Werde nicht müde!) zu, den wir mit ‹Zenda bashi!› (Sei lebendig!) erwiderten», oder bei Bouvier solche, die uns Hoffnung geben: «Farda (morgen), das Zauberwort. Voll von Verheissungen. Farda wird das Leben schöner sein…»

Neun Leben

Bouvier schreibt am Anfang seiner «L’usage du monde» (Die Erfahrung der Welt), er habe das Gefühl, mit dem Beginn seiner Reise in das zweite der neun Katzenleben einzutreten. Zu dem Zeitpunkt weiss er noch nicht, dass er sogar noch mehr als neun Leben erfahren wird. So viele Reisen erwarten ihn noch. Die Zeit eines Reisenden vergeht nicht schneller. Sein Leben währt nicht länger. Es sind die eigene Vergänglichkeit und die einzelnen ­Leben im eigenen Leben, die ihm beim Reisen bewusst werden. Auch für Ella Maillart beginnt bei jedem Aufbruch der Eintritt in ein neues Leben: «Von der Galatabrücke aus an Bord der ‹Ankara› in See zu stechen, war wie der Beginn eines neuen Lebens – unser Kontinent, unsere Vergangenheit, unsere Fehlschläge, alles schwand dahin.» Eine Reise besteht aus vielen Leben, aber am Ende gleicht das Leben selbst einer einzigen Reise; so Schwarzenbach: «Und endlich begreift man, dass der Ablauf eines Lebens nicht mehr enthält als eine beschränkte Anzahl solcher ‹Episoden›, dass es von tausendundeinem Zufall abhängt, wo schliesslich wir unser Haus bauen dürfen.»

Reiseliteratur zeigt die Wechselwirkung zwischen Bewegung und Stabilität, zwischen Gewohnheiten und Unbekanntem, Ferne und Heimat. Während Maillart auf ihrer Reise bewusst wurde, dass sie nirgendwo hingehört, oder eben überallhin, hat das Unterwegssein Bouvier und Schwarzenbach hingegen gezeigt, dass die Heimat nicht wie ein Anker ist, der einfach an jedem beliebigen Ort geworfen werden kann. Auch wenn Bouvier, Schwarzenbach und Maillart solche Anker mehrmals ausgeworfen haben mögen, sind sie letztendlich in ihren Schweizer Heimathafen zurückgekehrt.

Lesend reisen

Es ist das Freiheitsgefühl der Aufbruchslust und der unendlichen Weiten, das uns an diesen Reiseberichten fasziniert, aber dessen Nichtvorhandensein, das uns stutzig macht. Bouvier erkennt: «Die Reise gibt einem Gelegenheit, sich wachzurütteln, aber nicht – wie man gedacht hatte – die grosse Freiheit. Man muss sich eher mit Einschränkungen abfinden; aus seinem täglichen Rahmen ­herausgerissen, seiner Gewohnheiten beraubt…» Eine Reise ist unberechenbar, eine Schule des Lebens, die keine Rücksicht nimmt, in der es hart auf hart kommt, und doch schenkt sie uns wertvolle Momente und Begegnungen, die zu unserem Zusammenleben beitragen und uns intensive Erfahrungen mit unserem Lebensraum schenken. Bouvier, Maillart und Schwarzenbach wollen uns mit ihren Erzählungen in die Ferne schicken, fordern uns auf, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und den Moment zu leben; so Maillard: «Der weiche Wiesenboden, die strahlende Reinheit der Bergluft, der tiefe Friede des wunderbaren Tales, all das rief in uns höchstes Entzücken hervor.»

Es ist das unsterbliche Blau, das sich von Griechenland bis Persien zieht.

Es ist der Duft der Honigmelonen, der uns in die Nase steigt.

Es ist die Musik des Balkans und die der Sprache, deren Klang uns in den Ohren bleibt, der Geschmack von türkischem Kaffee, der auf der Zunge zergeht.

Man muss sie spüren, diese Welt.

In Kabul trennen sich die Wege der drei Reisenden. Für Maillart wird es weitergehen bis nach Indien, wo sie Schwarzenbach noch ein letztes Mal kurz trifft, bevor es diese im Januar 1940 in die Heimat zurückzieht. Über eine Schiffsreise durch den Suez­kanal gelangt Schwarzenbach aufs europäische Festland. Der tagelangen Fahrt auf See mit kurzen Aufenthalten in Hafenstädten widmet sie nur wenige Seiten, denn Aden, Mocha, Massaua, das Rote Meer, der Suezkanal, Port Said sind nur «Stationen am Wege», Namen, die namenlos bleiben.

Bouvier verlässt Kabul am 3. Dezember 1954. Doch seine Reise wird noch weitergehen, über Indien und Sri Lanka, wo er Thierry Vernet wiedertreffen wird, bis ins Land der unlesbaren Zeichen, Japan. Ein Land, das er noch mehrfach erleben wird.

Ein Blick mag manchmal mehr sagen als 1000 Worte, auch der Blick in ein Buch. Manchmal erfahren wir am meisten über unser Land, wenn wir uns hinter den Landesgrenzen befinden, erkennen die Bedeutung unserer Heimat erst, wenn wir sie verlassen haben, wissen nur durch andere, wer wir sind; manchmal bewegt sich am meisten in einem Moment, in dem alles stillzustehen scheint. Auch das lehrt uns die Reiseliteratur.


Literatur:Nicolas Bouvier: Die Erfahrungen der Welt (Originaltitel: L’usage du monde). Basel: Lenos-Verlag, 2010.Ella Maillart: Flüchtige Idylle – Zwei Frauen unterwegs nach Afghanistan ­(Originaltitel: The Cruel Way). Bern/Dortmund. Efef-Verlag AG, 1993.Annemarie Schwarzenbach: Alle Wege sind offen – Die Reise nach Afghanistan 1939/1940. Basel: Lenos-Verlag, 2000.Annemarie Schwarzenbach: Les quarante colonnes du souvenir – Die vierzig ­Säulen der Erinnerung. Noville-sur-Mehaigne: Esperluète Editions, 2008.

 

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