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Reich ist, wer Aufmerksamkeit erhält

Das Selbstbewusstsein eines einzelnen Menschen hängt von seinem Einkommen an Aufmerksamkeit ab, sagt Georg Franck. Nach seiner Theorie des «mentalen Kapitalismus» werden Konsumenten sinnentleerter TV-Sendungen ausgebeutet, Leser von Gesprächen über diese Ausbeutung jedoch nicht.

Reich ist, wer Aufmerksamkeit erhält

Herr Franck, weil Sie hier vor mir sitzen, darf ich davon ausgehen, dass Sie mir Ihre ganze Aufmerksamkeit schenken. Doch – und das soll jetzt nicht unhöflich klingen: Wenn man Ihren Publikationen glaubt, so schenken Sie sie mir ja eigentlich gar nicht!

Stimmt: wir verschenken Aufmerksamkeit nicht, wir tauschen sie. Und es wird öffentlich registriert, wer mit wem tauscht und wer wie wichtig für jemanden ist. Dabei wird auch ein Wert, ja ein Preis der Beachtung ermittelt. Dieser Preis ist das soziale Ansehen.

Das heisst, Sie messen dem Gespräch mit mir – oder dem Erscheinen in unserer Publikation – einen Wert bei, der Sie dazu veranlasst, zu investieren?

Richtig. Es geht hier um ein Investment in die Reputation. Reputation hat, wer in einem Fachgebiet, in einer Profession ein zuverlässig hohes Einkommen an Aufmerksamkeit erzielt. Die Aufmerksamkeit ist also die Währung der Reputation und des Renommees, und es ist die Währung der Prominenz und letztlich des Ruhms. Um das festzustellen, muss man kein Narziss sein: Wir sind alle von Kindesbeinen an nicht nur wahnsinnig empfindlich dafür, wie viel Aufmerksamkeit wir bekommen, sondern vor allem, ob diese ungeteilt ist oder nicht. Wir haben ein Sensorium dafür. Beobachten Sie mal ein wohlgefüttertes und gut gebettetes Baby: nichts ist ihm wichtiger als ungeteilte Aufmerksamkeit. Gar nicht ertragen können wir es bis ins Erwachsenenalter, wenn man uns nur mit halbem Ohr zuhört oder auf einer Party ein Promi vorbeikommt, alle Köpfe sich drehen und man selber nur noch Statist ist.

Der Leser, der hier noch weiterliest, zahlt also bereits an uns.

Richtig.

Schön und gut. Aber ist die Aufmerksamkeit, wie Sie eben meinten, wirklich eine Währung? Also: kann man mit ihr auch bezahlen, bewusst bezahlen?

Ja. Insofern wir etwas beachten, signalisieren wir nicht nur Zahlungsbereitschaft, wir zahlen schon. Ich könnte schliesslich, statt hier vor Ihnen zu sitzen, auch durch Zürich spazieren und mir an der Bahnhofstrasse einen neuen Mantel kaufen. Weil ich aber den intellektuellen Austausch schätze, verzichte ich dafür gern auf alle anderen möglichen Alternativen, das ist eine Art Bezahlung. Wir sagen mit der Vergabe unserer Aufmerksamkeit also viel mehr, als wir mit 1000 Worten abstreiten können. Und vielleicht sogar mehr, als uns selber klar ist.

Eine Währung zeichnet sich – rein ökonomisch – dadurch aus, dass sie anerkannt und zudem knapp ist.

Genau.

Wenn die Aufmerksamkeit nach einem Tag erschöpft ist, kommt sie am nächsten Morgen einfach wieder: Sie wachen, wie ich, auf und können sie wieder verteilen. Wo ist da die Knappheit?

Ja, wenn Sie so wollen, ist die Aufmerksamkeit eine erneuerbare Energie. Die mentale Präsenz ist am frühen Morgen, bald nach dem Aufstehen, noch sehr hoch, geht dann aber am Nachmittag schnell zurück – bis zu einer kritischen Schwelle, wo die Präsenz nicht gänzlich verschwindet, aber wo wir die Kontrolle über den Fokus verlieren – und zu träumen beginnen. Und wenn wir irgendwann traumlos schlafen, ist von der Aufmerksamkeit gar nichts mehr da.

Kann man nicht seine Aufmerksamkeitskapazität trainieren, sprich: vermehren?

Versuchen Sie mal, eine Buchseite mit der doppelten Geschwindigkeit zu lesen. Da kommen Sie sehr schnell ans Ende mit der Ausweitung dieser Kapazitäten! (lacht) Die Kapazität des bewussten Erlebens ist organisch limitiert und verdammt eng. Wir können nur ganz wenige Dinge auf einmal wahrnehmen oder uns auf einmal vorstellen. Sobald es komplexer wird, müssen wir in die Zeit, also in die Zukunft ausweichen.

Indem ich Kaffee trinke, bleibe ich schon mal länger wach…

Mit Drogen wie Koffein, Kokain und Ritalin können wir unsere Aufmerksamkeitsspanne ein wenig verlängern. Doch wenn wir versuchen, die Bandbreite zu dehnen, kommen wir ganz schnell an unsere Grenzen. Also müssen wir sie rationieren – und uns zwingen, auf das Richtige und Wichtige zu achten.

Das klingt schön, aber auch normativ. Erstens sind unsere Sinnesorgane für Relevanzabwägungen in der allgegenwärtigen Informationsgesellschaft bisher nur dürftig ausgestattet. Und zweitens können Sie doch gar nicht wissen, was Ihr Nachbar für richtig und wichtig erachtet.

Beides stimmt. Trotzdem: auf der sinnvollen Verwendung der eigenen Aufmerksamkeit gründet unsere Intelligenz – das ist eine Beobachtung, die jeder von uns machen kann. Intelligenz, wie auch immer man sie sonst noch definieren mag, ist erst einmal effiziente Verwendung der eigenen Aufmerksamkeit. Dumm ist demzufolge nicht, wer nicht bis drei zählen kann, sondern wer nicht weiss, worauf es für ihn im eigenen Leben ankommt, wer die Relevanzen verkennt. Deswegen nervt Dummheit so: Leute, die – subjektiv betrachtet – immer auf das Falsche achten und die falschen Einwürfe machen, nerven.

Gut. Aber wie kommen wir dazu, auf das «Richtige» zu achten?

Ich weiss, ob ich etwas in einer bestimmten Situation angemessen beachte, indem ich bemerke, welche Beachtung mir dafür tatsächlich zurückgegeben wird. Bei der Beachtung geht es um Taten, denn Worte sind billig. Jeder kennt das: Wenn ich mit einem Kollegen angeregt diskutiere, erhalte ich im aufmerksamen Gespräch stets etwas zurück, das mich befriedigt. Stehe ich aber vor einem Werbeplakat, auf dem steht: «Wir kümmern uns um Sie», so erhalte ich trotz einer schönen Bekundung erst einmal gar nichts. Damit wird klar: Das Selbstbewusstsein, das wir uns leisten können, hängt von unserem Einkommen an Aufmerksamkeit von Mitmenschen ab. Darauf sollten wir achten und natürlich darauf, wie man uns in diesem Punkt manipulieren kann. Denn: ich glaube sehr wohl, dass es in diesem Markt, in diesem «mentalen Kapitalismus», der über das Zwischenmenschliche weit hinausgeht, auch Ausbeutung gibt.

Wer beutet hier wen aus? 

Nehmen wir ein beliebtes Beispiel: einen ganz plakativen Langzeitarbeitslosen ohne Ambitionen. Er glotzt vielleicht den ganzen Tag fern, weil ihm nichts Besseres einfällt. Er vernachlässigt sogar seine direkten Kontakte, von denen er wenigstens ein gewisses Einkommen an mitleidender, mitfühlender Aufmerksamkeit hätte. Beim Glotzen gibt er immer nur – und bekommt nichts zurück. Das ist eine präzise Definition von Ausbeutung im mentalen Kapitalismus.

Einspruch: wer vor dem Fernseher sitzt, setzt sich meistens ziemlich freiwillig dahin. Von Ausbeutung kann also nur die Rede sein, wenn Sie TV-Konsum per se damit gleichsetzen.

Wenn ein Konsument nichts für sich und seine Selbstachtung zurückerhält, während er seine Aufmerksamkeit investiert, wird er ausgebeutet. Unser Langzeitarbeitsloser könnte also auch grossartige Wissenschaftssendungen anschauen und bekäme trotzdem nichts, um seine Selbstachtung zu steigern.

Nochmals: wenn ich eine Hollywood-Komödie zur Zerstreuung schaue und mich darüber freue oder mir als Unternehmer die Wirtschaftsnachrichten anschaue: natürlich kriege ich etwas zurück!

Nur, wenn Sie damit – wie in Ihrem Beispiel – ein konkretes Ziel verfolgen und das Programm dieses Ziel befriedigt. Das ist aber immer seltener der Fall. Und intendiert ist es bei den Medien- und Sendeanstalten schon gar nicht: Die Angebote sind oft nicht gemacht, um zu unterhalten oder zu belehren, sondern um Quote zu machen. Und diese Quote kann man ziemlich gut erhöhen, indem man einfach die richtigen Stimuli bedient. Also Geld, Sex und Crime. Indem man diese Stimuli richtig codiert, erzeugt man ein anreizendes, kitzliges Gefühl, das den Konsumenten am Schirm hält, ohne dass die Person wirklich etwas davon hat. Kinder oder konzentrationsresistente Leute bringt man noch leichter dazu, die Aufmerksamkeit zu verbrauchen, ohne etwas zurückzubekommen. Sie haben das Credo verinnerlicht: «Es spielt gar keine Rolle, ob du dich konzentrierst, du bekommst immer was geliefert, es flimmert immer. Lass dich treiben! Wenn du dich dann hinterher etwas leer fühlst – halb so wild…»

Einverstanden. Trotzdem: auf einem Markt ist niemand gezwungen, das dürftige Angebot wahrzunehmen. Das ist, wenn ich Sie richtig verstanden habe, auch beim Aufmerksamkeitsmarkt der Fall. 

Richtig, und ich will mit meinem Votum gegen die bewusste Verdummung auch diesen Markt nicht schlechtreden. Das Besondere am Aufmerksamkeitsmarkt ist, dass es sich um einen Markt im unmetaphorischen Sinne handelt. Das heisst, er ist ein wirklicher Markt. Viele Mitmenschen sehen Märkte ja als etwas sehr Abstraktes, etwas Technisches an. Das ist aber in diesem Fall ein Trugschluss, da Aufmerksamkeitsmärkte – ganz anders als ein Amazon-Marketplace – sehr oft unmittelbar zwischenmenschlich funktionieren! Aber auch wer Märkte als Informationssysteme, also abstrakter, untersucht, wie das etwa Friedrich August von Hayek getan hat, wird rasch herausfinden, dass sie unglaublich gut funktionieren und sehr viel tiefer greifen, als es vom Menschen entworfene technische Systeme tun. Märkte fördern viele Dinge zutage, die man selbst vielleicht nicht unmittelbar erforschen kann.

Viele Zeitgenossen fühlen sich von Märkten bedroht. Warum?

Was ihnen suspekt ist, sind nicht die Märkte an sich, denn die
allermeisten Marktfeinde gehen ja trotzdem in die Bäckerei und haben beim Brötchenkauf kein schlechtes Gewissen. Die «Vermarktung» von Dingen, von denen sie sich nicht gewohnt sind, ist ihnen unbequem. Nehmen wir etwa die Prostitution: Der Verkauf von «Liebe» hat sich im Westen eingebürgert. Trotzdem findet doch jeder von uns, der zum ersten Mal mit Prostitution in Kontakt kommt: «Das geht doch nicht! Da verkauft jemand sich und seinen Körper!» Die Vermarktung der Aufmerksamkeit setzt noch eins oben drauf: Es wird nämlich hier Handel getrieben mit dem Individuellsten, das es überhaupt gibt: mit unserer seelischen Präsenz.

Das klingt nun nach Metaphysik.

Nein, das ist eine ganz praktische Selbsterkenntnis. Individuelles seelisches Erleben, auch in der Wertschätzung, hängt von zweierlei Werten ab. Erstens von der Zuwendung an sich: was wird mir zuteil? Und zweitens von dem Wert, den der Empfänger der Person des Senders beimisst – wenn mir also ein mit der Materie vertrauter Kollege zu einem gelungenen neuen Buch gratuliert, so ist mir das wahrscheinlich wichtiger, als wenn es meine Nachbarin macht, die davon nur aus der Zeitung weiss. Beide Werte, jener der Zuwendung und jener des Absenders, ändern sich übrigens ständig. Innerhalb der meist individuellen Beziehungen und auch durch Einflüsse von aussen. Da kommt, wie auf den allermeisten anderen Märkten, nie eine Homogenität zustande. Das Besondere an der Aufmerksamkeit ist nun, dass es ein Bewusstseinsphänomen ist, welches man von aussen nicht sehen, riechen, schmecken, quantifizieren, sprich: nicht direkt messen kann.

Der Hirnforscher wird Ihnen da widersprechen.

Das glaube ich nicht. Sie werden, auch wenn Sie in ein Gehirn hineinschauen, nie eine mentale Präsenz oder Gefühle entdecken, sondern immer nur anatomische Strukturen, chemische und elektrische Prozesse, also blosse physikalische Realität. Das Bewusstsein ist ja selbst der Psychologie verdächtig, weil es aus der Perspektive der dritten Person, also aus der des unbeteiligten Beobachters, nicht sichtbar ist. Es ist nur in der Perspektive der ersten Person sichtbar, also jener Person, die das Nervensystem selbst ist.

Trotzdem wird Aufmerksamkeit gemessen: Einschaltquoten, Auflagenzahlen oder Besucherklicks sind quantifizierte Aufmerksamkeit.  

Sind sie nicht. Und hier sind wir beim Problem! Bei diesen Messungen ist ein Prozent Quote so gut wie jedes andere. Da wird kein Unterschied gemacht. Auch bei der Auflage: ob ich das 7. oder 7000. Exemplar einer Zeitung erhalte, ist egal. Und bei den Besucherklicks im Netz zählt eine Maschine völlig unabhängig davon, ob ich mich für den Inhalt interessiere oder nicht. Der Inhalt wird bei dieser Messart völlig irrelevant.

Können Sie das an einem Beispiel näher erläutern?

Nehmen wir Google. Seine Suchmaschinen Google Earth oder Google+ sind ziemlich ausgefuchste teure Dienstleistungen, die Sie geschenkt bekommen – freilich um den Preis, dass Ihr Blick auch auf die Werbebanner daneben fällt. Mit diesem eigenartigen Geschäftsmodell können diese Unternehmen heute sehr viel mehr Geld verdienen, als wenn sie Autos oder Zement herstellten! Für die neuen Medien ist die Messung der Klicks – und der potentiellen Blicke auf die Werbung – absolut zentral. Dabei passiert noch etwas anderes: Es findet eine Art der Entfremdung statt, denn diese Vereinfachung der Realität ist ein Prozess, bei dem etwas, was bestimmte sinn-liche und psychische Qualitäten hat, zu einem homogenen Wertmass um-gedeutet wird: zu Klicks, zu Sam-mel-punk-ten, zu Quote.

Sie meinen: Diese Messergebnisse bilden die Wirklichkeit der Aufmerksamkeitsökonomie nicht wirklich ab.

Richtig. Es gibt Programme, die auf Websites Klicks generieren – sprich: fälschen – und: ob ich tatsächlich fernsehe, wenn gerade mein Fernseher läuft, oder doch nebenbei koche, meinen Müll rausbringe oder telefoniere, können diese Messungen auch nicht eruieren.

Sind die angeblich objektiven Quoten und Klickraten ein Fake? Oder anders gefragt: warum wird überhaupt gemessen, wenn das Mass so willkürlich ist?

Natürlich, als Mass für die Aufmerksamkeit ist das Prozedere sehr fragwürdig, aber die Messung ist sozial trotzdem relevant. Sie wird so gut gemacht, wie es die Methoden der Sozialwissenschaft eben erlauben, und es wird auch die Attraktionskraft des jeweiligen Mediums gemessen, die dann an die Werbewirtschaft verkauft wird – nicht aber die gezielte Aufmerksamkeit. Die lässt sich nämlich nur individuell von jedem einzelnen messen, nie aber objektiv.

Nun kommen wir zu den Schnittstellen zwischen der Aufmerksamkeitsökonomie und der monetären Ökonomie…

Und damit zu den Wechselstuben! Die wichtigsten Wechselstuben sind tatsächlich die neuen Medien, die sich aus der Werbung finanzieren. Vom Privatfernsehen bis zum Internet: Werbung ist die realwirtschaftliche Basis dieser neuen Medien. In der Werbepause der Übertragung des amerikanischen Superbowls kosten deshalb 30 Sekunden etwa 3,5 Millionen Dollar. Facebook und Co. wandeln Quote sogar unmittelbar in Geld um – und legen somit den Wechselkurs fest. Marktpreise für vermeintliche Aufmerksamkeit – hier haben wir sie.

Die neuen Medien lassen folglich den Verkauf der Information, der früher ihr Kerngeschäft war, hinter sich?

Sie werfen die Information dem Publikum geradezu hinterher, nur um an die Aufmerksamkeit der Konsumenten zu kommen, um diese zu verkaufen und sich dadurch zu finanzieren! Ihr Geschäft ist es, herauszufinden, was die breite Masse sehen und lesen will. Und zwar, um diese Wünsche zu bedienen und dadurch möglichst viel Aufmerksamkeit aus den Haushalten, die sie mit Information beliefern wie mit Strom und Wasser, herauszuholen. Das erweist sich als unglaublich gutes Geschäft.

Und wenn ich mir das so anhöre: auch als ziemlich guter Nährboden für aufmerksamkeitsgenerierende Täuschungsmanöver und Desinformation?

Wer die richtigen Reize bietet, um die Aufmerksamkeit zu kitzeln, ohne tiefergehenden Inhalt oder Aussage dahinter, der ist ein
Täuscher, ein Populist. Die Märkte der Aufmerksamkeit sind ein Tummelplatz für diese Leute: Es wird auch hier geschummelt, geschmuggelt, betrogen und gelogen – und zwar nicht zu knapp. Eine ganz komische Beobachtung in diesem Zusammenhang ist, dass die Konsumenten anscheinend nichts lieber sehen als Promis, also bekannte Gesichter, die im Glanz ihrer Publicity strahlen. Es fing damit an, dass ausserhalb der Yellow Press die seriöse Tagespresse Klatschspalten eingeführt hat. Inzwischen spielen die People-Sendungen im Fernsehen, auch im staatlichen Fernsehen, eine immer grössere Rolle. Oder nehmen Sie People-Magazine wie die «Bunte». Das sind die einzigen, die völlig unbeschadet durch die Pressekrise gehen! Die wachsen und wachsen – und zeigen dabei nichts anderes als Promis. Egal ist übrigens dabei, warum die eigentlich prominent sind!

Das können ästhetische Werturteile sein…

Warum diese Leute berühmt sind, ist ab einem gewissen Punkt egal. Prominent ist, wer prominent ist – eine reine Tautologie. Der Reichtum an Aufmerksamkeit wird ab einer kritischen Masse so attraktiv, dass er sich verzinst – sich also selber vermehrt. Je
reicher man wird, desto stärker vermehrt sich dieser Reichtum. Das gilt für die Sphären der Wissenschaft, des Sports oder Hollywoods genauso wie für die Sphäre der Politik.

Bald wählen die USA wieder, und im Zuge des dort tobenden Wahlkampfs muss man fragen: Bedeutet mehr Geld für eine Wahlkampagne automatisch auch mehr Aufmerksamkeit, oder schalten die Leute irgendwann ab, weil es ihnen zu viel wird?

Ein gutes Beispiel! Die PR-Berater der US-Präsidentschaftskandidaten sagen diesen mittlerweile sogar, welche Krawatte, welchen Anzug sie zu welchem Anlass tragen sollen. Bis zur Wortwahl wird alles minutiös durchstilisiert. Da orientiert man sich an empirisch geprüften Regeln. Insofern werden da Aufmerksamkeit und letztlich die Wählerstimmen einfach gekauft, ja. Je mehr Geld einem Kandidaten zur Verfügung steht, desto besser ist der PR-Berater, den er sich leisten kann. Was aber das ganz grosse Geld verbraucht, sind Sendezeiten und Präsentationsflächen. In die Nutzung des Mediums fliesst viel mehr Geld als in die Produktion der Werbespots. Und genau das finde ich sehr bedenklich. Es fehlt uns an einer politischen Bewegung, die genau diese Stimulus-Perfektions-Maschinerie diskriminiert. Die einfach mal sagt: «Pfui, das ist schlecht – wir wollen Inhalte, keine PR!»

Neu ist die Idee ja nicht. Sie riecht obendrein nach Verweigerung – das kann wohl nicht die Lösung sein?

Was die Politik betrifft, so befindet sich diese in einem denkbar schlechten Zustand, denn sie kultiviert diese legale Form des Stimmenkaufs zunehmend. Am besten wäre es, wenn sich die Kandidaten dem Trara des Aufmerksamkeitskapitalismus verweigern würden – ich könnte mir vorstellen, dass gerade in der jetzigen Zeit der Politikverdrossenheit diese Art des Wahlkampfs Anklang fände. Nicht nur für mich wäre das ein grosser Anreiz, so eine Person oder eine solche Partei zu wählen. Einzig: wenn sie konsequent ganz ohne mediale Aufmerksamkeitspflege auskäme, wüsste ich wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nichts von ihr.

 


 

Das Treffen mit Georg Franck

Am 19.11.2011 las ich einen Artikel Georg Francks in der NZZ, der mich veranlasste, mehr über den Autor wissen zu wollen. Unter dem Titel «Über Thomas Bernhard schimpft man nicht mehr» schrieb Franck über den Prozess der Kanonbildung der «Klassiker» in Kunst und Literatur. Klingt staubig, las sich aber höchst anschaulich. Er ging auf einen Artikel des Kunsthistorikers Beat Wyss (den finden Sie übrigens auf S. 88 dieser Ausgabe) ein, der behauptet hatte, der Kunstmarkt trenne auf lange Sicht die künstlerische Spreu vom Weizen. Franck aber meinte, zum Klassiker werde ein künstlerisches Werk dann, wenn es das «Säurebad der kollektiven Aufmerksamkeit» längerfristig überdauere, sich also nicht auf dem Kunstmarkt, sondern auf einem «Aufmerksamkeitsmarkt» bewähre. Mehr als ein halbes Jahr später, das mittlerweile zusammengetragene Recherchedossier schlummerte auf meinem Schreibtisch, traf ich Franck zufällig bei einem Vortrag an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) wieder. Die Studenten waren wach, nahmen ihn ins Kreuzverhör, und er selbst legte grosse Teile seiner selbstentwickelten Theorie von der Aufmerksamkeitsökonomie dar. Mir wurde klar: diese Theorie betrifft nicht nur die Kunst- und Kulturwissenschaft, sie betrifft einen jeden von uns. Das ganze Leben ist ein einziges Aufmerksamkeitsgeben und -nehmen. Nach dem Vortrag fragte ich Franck, ob er Zeit für mich habe. Er hatte. Am nächsten Morgen unterhielten wir uns beinahe zwei Stunden, schlenderten durch Zürich. Er schenkte mir seine Aufmerksamkeit nicht, sondern zahlte mit ihr, mehr noch: für ihn war dieses Gespräch ein ziemlich sicheres Investment. Je mehr Sie nämlich davon lesen, so Francks Logik, desto grösser wird sein Reichtum an Beachtung.

Michael Wiederstein

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