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Rehabilitieren wir den Kapitalismus!
Arbeiter in einer Raffinerie. Bild: mauritius images/cultura.

Rehabilitieren wir
den Kapitalismus!

Freie Märkte und Unternehmergeist sind nicht das Problem, im Gegenteil: In der Krise zeigt sich ihre Stärke. Gleichwohl braucht der Kapitalismus ein Update.

 

Erst die Zeit wird zeigen, wie tiefgreifend die Veränderungen sein werden, die das Coronavirus mit sich gebracht hat. Aber schon jetzt ist klar, dass wir langfristig mit ihnen werden leben müssen. Viele versuchen sich einzureden, dass die derzeitige Situation durch das kolossale Scheitern des «neoliberalen Modells» bewirkt worden sei. So schrieb beispielsweise die italienische Ökonomin Mariana Mazzucato: «Ein Killervirus hat grosse Schwächen in westlichen kapitalistischen Ökonomien offengelegt. Nun, da die Regierungen miteinander auf Kriegsfuss stehen, haben wir eine Chance, die Mängel des Systems zu beheben.» Dieser Artikel stellt die entgegengesetzte These auf: Der Kapitalismus steht in keiner Beziehung zum Coronavirus, was übrigens auch niemand behauptet (nicht einmal Mazzucato selbst). Es ist daher nicht einzusehen, weshalb unsere Reaktion auf Covid-19 darin bestehen soll, ihn auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern. Im Gegenteil: Gerade unsere Fähigkeit, auf die Krise zu reagieren, beweist, dass er funktioniert.

Kapitalismus als intelligentes Design

Dies zeigt schon ein einfaches Beispiel. Die erste Regel zur Eindämmung des Coronavirus ist die Einhaltung von Hygienevorschriften: häufiges Händewaschen mit Wasser und Seife, Einsatz von Desinfektionsmitteln und die Vermeidung von Infektionsquellen. Dies setzt das Vorhandensein von Trinkwasser in jedem Haushalt voraus.

Heute ist die Wasserversorgung eine komplexe Infrastruktur, die Wasser erst entnimmt, dann von schädlichen Elementen säubert, um es nach Gebrauch wieder abzuleiten und gereinigt in den natürlichen Kreislauf zurückzuführen. Um ein solches System betreiben zu können, braucht es Technologie, Kapital und viel Energie. Die Energie, die unsere Wasserversorgung speist, wäre ohne die Aberhunderte Kilometer Stromleitungen, die ganz Europa miteinander verbinden, und die unzähligen, von erneuerbaren und herkömmlichen Brennstoffen gespeisten Anlagen kaum so zuverlässig und wirtschaftlich. In diesen langen Elektronenautobahnen stecken Materialien (das Aluminium der Leitungen, Stahl oder Beton der Leitungsmasten, Keramik für die Isolierteile), Technologie und Design. Das simple Betätigen eines (Plastik-)Schalters am Föhn zu Hause bringt ganze Produktionsketten ins Rollen.

Fossile Energieträger, die ihren Teil zur Stromerzeugung leisten, werden auch anderweitig eingesetzt. So ist Erdöl der wichtigste Bestandteil von Kunststoffen. In einer Situation, in der man jeden Kontakt mit potentiell infizierten Personen oder Oberflächen meiden muss, hat die Lebensmittelhygiene oberste Priorität. Die industrielle Lebensmittelproduktion und eben Kunststoffe stellen sie sicher, Schutzanzüge und andere Schutzausrüstung bestehen aus Kunststoff. Jahrelang haben wir versucht, den Konsum von Plastik einzudämmen, dessen übermässiger Gebrauch zusammen mit einem ungenügenden Recyclingsystem gravierende ökologische Folgen besonders für die Weltmeere hat. Heute aber garantieren nur Industriever­packungen aus Kunststoff ein Mindestmass an Schutz vor dem Virus. Gewerbe- und Industrieabfälle sowie Haushaltsmüll müssen entsorgt werden. Dies wäre ohne die Firmen und Beschäftigten in dieser Branche und die entsprechenden Behandlungstechnologien nicht möglich.

Die Chemie (von der auch die Erträge der Landwirtschaft und damit unser Überleben abhängt) hat einen Zwilling, dem wir in diesen Zeiten buchstäblich unsere Zukunft anvertrauen: die Pharmaindustrie. Während Eindämmungsmassnahmen die Ausbreitung des Coronavirus verlangsamen, können nur Medikamente, mit denen wir bereits die Symptome behandeln, sowie Impfstoffe, die seine fatalen Auswirkungen stoppen, langfristige Lösungen darstellen. Wir sollten unser schwieriges Verhältnis zur Wissenschaft und zu Wissenschaftern hinterfragen und ihnen Abbitte leisten für all die Male, in denen wir sie ignoriert oder gescholten haben. Genauso sollten wir uns vor Augen führen, dass wir den Herstellern von Schutzausrüstung (Masken, Einweghandschuhe, Anzüge), von Krankenhaustechnik und lebensrettenden Geräten letztlich unser Überleben verdanken. Ihre Arbeit, ihre Fähigkeiten und die damit verbundenen Produktionsketten sorgen bei vielen von uns für den Unterschied zwischen Leben und Sterben, bei vielen weiteren für den zwischen einem guten und einem schlechten Leben. Und dennoch stehen Arzneimittel, Impfstoffe und Pharmaunternehmen – ob in Hollywood oder in der Politik – auf der Liste der Bösewichte immer ganz oben. Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, unsere Vorurteile abzulegen. Das gilt auch für die Finanz-, Banken- und Versicherungsbranche, die wir nun anflehen, unsere Ersparnisse zu schützen und die Ressourcen bereitzustellen, um das Überleben der Gesellschaft zu ­sichern, ganz zu schweigen von den Investitionen, die in Zukunft noch benötigt werden.

Ohne industrielle Errungenschaften kein «Social Distancing»

Man lebt nicht vom Brot allein und bekämpft eine Epidemie nicht nur mit Medikamenten. Aber auch Social Distancing ist nur dank einer Vielzahl von Technologien möglich. Etwa dem guten alten Kühlschrank, ohne den wir Lebensmittel nicht ohne Bedenken so lange aufbewahren könnten, und neuen Errungenschaften wie den digitalen Kommunikationswegen. Während die Schulen geschlossen blieben, sorgten die Investitionen, die Dienste und die Arbeit der Telekommunikationsunternehmen dafür, dass unsere Kinder dem Unterricht folgen konnten und ihre Lernziele nicht (völlig) abschreiben müssen. Und was ist mit den Online-Plattformen? Sky und Netflix stellen eine Unzahl an Unterhaltungsprodukten zur Verfügung. Über Amazon gelangen Artikel von Unternehmen und Herstellern aller Art in unsere Haushalte. Dank Deliveroo, Glovo, JustEat und anderen Lieferdiensten mussten viele auch in diesen Zeiten nicht auf ihr Lieblingsrestaurant verzichten. Je länger einige Personengruppen weiterhin das Haus hüten müssen, desto unverzichtbarer wird die Unterstützung durch digitale Instrumente. Dasselbe gilt für die Einzelhandelsketten, die jeden Tag Produkte aller Art beschaffen, die wir zum Leben benötigen.

Alle Güter, die wir täglich konsumieren – und hoffentlich auch in Zukunft konsumieren werden –, gelangen dank der Beschäftigten und Unternehmer der Logistikbranche ans Ziel. Um Menschenansammlungen zu begrenzen, werden viele von uns künftig öffentliche Verkehrsmittel meiden (für die ein neues Konzept erfunden werden muss) und auf die individuelle Mobilität ausweichen. Wir werden also wieder mit den so verhassten Ölkonzernen zu tun haben, denn auch wenn alternative Treibstoffe (von Strom bis Methan) wachsende Marktanteile verbuchen können, wird der Grossteil des bestehenden Fahrzeugparks mit herkömmlichen Brennstoffen (Benzin und Diesel) betrieben, denen Biokraftstoffe beigemischt sind. Rohöl deckt ca. 41 Prozent des weltweiten Energiebedarfs, in Europa sind es 35 Prozent. Jeden Tag sollten wir also den stillen Helden danken, die in den Raffinerien arbeiten, die Lagerlogistik besorgen, Leitungsanlagen warten und uns ermöglichen, zu günstigen Preisen vollzutanken (wobei der Staat den Löwenanteil davon als Steuern kassiert).

In dicht bevölkerten Gegenden ist das eigene Auto keine nachhaltige Option, wenn wir unsere Zeit nicht im Stau oder mit der Parkplatzsuche verbringen wollen. Hier sind alternative ­Mobilitätslösungen wie Uber gefragt. Wenn wir den Blick auf den Boden der Tatsachen senken, sehen wir: Asphalt, Zement, Stahl, Kabelgewirr, Kunststoffe, Rohre – das Skelett unserer Zivilisation und Lebensweise. Es gibt diese Dinge, weil jeden Tag Millionen von Arbeitern ihre Mühen in den Dienst des Kapitals von Unternehmern stellen, welche ihr Eigentum und ihren guten Ruf aufs Spiel setzen, um die Nachfrage der Menschen zu stillen. Die Messlatte ihres Erfolgs – der Profit – ist kein Teufelszeug, sondern der Beleg dafür, dass sie ein Produkt entwickelt haben, für das ein ­Bedarf bestand, und darin besser waren als die Konkurrenz. Es ist Zeit für eine geistige und kulturelle Entrümpelung der Vorurteile, die unsere Wirtschafts- und Industriepolitik bestimmen. Fragen wir uns jetzt, wie der metaphorische Weg beschaffen sein soll, der aus diesem Albtraum herausführt. Geschichte und Erfahrung lehren uns, dass gute Absichten dafür nicht ausreichen. Aber menschlicher Ideenreichtum und wirtschaftliche Freiheit können uns dabei helfen.

«Wir sollten unser schwieriges Verhältnis

zur Wissenschaft und zu Wissenschaftern

hinterfragen und ihnen Abbitte leisten für all die Male,

in denen wir sie ignoriert oder gescholten haben.»

Effizienter Staat, innovative Wirtschaft

Um einen Weg aus der Coronakrise zu finden, müssen wir verstehen, dass die Ökonomie ein Ökosystem ist: Wollen wir, dass sie gedeiht, benötigen wir Sauerstoff. Wir müssen die animalischen Instinkte des Marktes wecken, die zu lange wie gefährliche Bestien fortgejagt oder in Gefangenschaft gehalten worden sind.

Dem Staat kommt dabei eine zentrale Rolle zu: Er muss jetzt die Schwächsten schützen, die Notlage abfedern, die Gesundheitsversorgung garantieren, Unternehmen ohne Liquidität und Umsatz helfen. Er muss tief in die Tasche greifen und Schulden machen (wie Ex-EZB-Chef Mario Draghi es ganz offen gesagt hat). Neben nachvollziehbaren Eingriffen – wie der Aussetzung oder Senkung von Steuerlasten – werden grosse Teile dieser Massnahmen sich als unproduktive Rinnsale herausstellen oder eine Günstlingswirtschaft am Leben erhalten. Einige Unternehmen werden vermutlich ohne Grund verstaatlicht werden, andere werden mehr oder weniger nachvollziehbaren, aber nur selten effizienten Auflagen oder Verboten unterworfen. All das gilt es zu vermeiden. Wir müssen vernünftig Gebrauch vom Geld heutiger (Steuern) und zukünftiger Steuerzahler (Verschuldung) machen. Aber noch wichtiger ist es, dafür zu sorgen, jene Regulierungsauflagen möglichst auf unbegrenzte Zeit abzumildern, die Unternehmen so häufig daran hindern, sich rasch Veränderungen anzupassen. Der Staat muss die Aufgaben bestmöglich erfüllen, für die er geschaffen wurde und aus denen er seine Legitimität bezieht. Alle, die heute politische Ämter bekleiden, sollten sich dringend mit der Frage beschäftigen, wie eine schrittweise Wiederöffnung unseres Wirtschafts- und Soziallebens durchgeführt werden kann. Um mit dem Ökonomen Michele Boldrin zu fragen: Wie ­gelangen wir von einem Staat, der «schliesst, verbietet und bestraft auf Grundlage improvisierter und erratischer Entscheidungen», zu einem, der «sachlich und ausführlich informiert, infizierte oder verletzliche Menschen unterstützt und seine Mittel dazu einsetzt, den Bürgern zu helfen, die weiter für das Allgemeinwohl zu arbeiten und zu produzieren gewillt sind»?

Eines kommt klar zutage, ist aber eine komplexe Aufgabe: Der Staat muss Beschäftigten und Unternehmen Schutz bieten. Für erstere sind Ergänzungsleistungen und Weiterbildungsmassnahmen vorstellbar, um die berufliche Neuorientierung zu erleichtern. Den zweiten könnte er Geld leihen und steuerliche Aufschübe (oder Erlasse) gewähren. Ohne die einen gegen die anderen auszuspielen – Angestellte gegen Selbständige, grosse gegen kleine Firmen, Beamte gegen Private – und ohne alle um jeden Preis retten zu müssen. Jene, die nicht fähig sind, auf eigenen Füssen zu stehen, sollte er nicht vor dem Bankrott bewahren, und Unternehmen, die ohne Covid-19 tadellose Bilanzen aufweisen würden, nicht zum Verschwinden verdammen. Kurz: Dem Moral Hazard, also ökonomischen Fehlanreizen, vorzubeugen, sollte momentan nicht unser erster, aber auch nicht unser letzter Gedanke sein.

Genau deshalb spielen die Gewerkschaften eine wichtige Rolle: Sie können Veränderungen im öffentlichen und privaten Sektor begünstigen oder behindern. Wir müssen sie herausfordern, zuverlässigere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, damit sie sich nicht in Streiks und vorbeugende Schliessungen flüchten, die viel zu oft zu endgültigen Schliessungen werden. Wir sollten alle verfügbaren Mittel einsetzen, um nicht nur die Arbeitsprozesse selbst, sondern auch den gestaffelten Zugang zu Werken und Büros – wenn möglich mit eigenen Fortbewegungsmitteln – zu ermöglichen. Wenn es einen historischen Moment gibt, in dem Gewerkschaften ihren gesellschaftlichen Nutzen wieder unter ­Beweis stellen können, ist er jetzt gekommen. Die Rückkehr zur Arbeitsstätte ist so zu organisieren, dass potentiell weniger an­fällige Gruppen (junge Leute und Frauen) die Vorhut bilden und wo immer möglich auf Smart Working gesetzt wird.

«Es ist Zeit für eine geistige und kulturelle Entrümpelung der Vorurteile,

die unsere Wirtschafts- und Industriepolitik bestimmen.»

Unternehmensanteile und Immobilien verlieren in der Krise an Wert und werden sich kurz- oder mittelfristig nicht erholen. Noch nie haben Unternehmen eine Liquiditätskrise dieses Ausmasses erlebt. Die Leistungsfähigkeit und das Innovationsver­mögen des Finanzsystems sind gefragt, um einen Weg aus der Krise zu finden. Daher müssen Regierungen und Regulierer für ihre Zuständigkeitsbereiche rasch Instrumente bereitstellen, um neue Ansätze im Finanz- und Versicherungsbereich zu fördern, die Einsparungen zugunsten der Realwirtschaft ermöglichen. Fintech und InsureTech werden zur Finanzierung des Wiederaufschwungs beitragen, sofern sie ihr Neuerungspotenzial voll ausspielen.

Ganz allgemein müssen wir den Unternehmergeist und den Hunger nach Neuem wiederentdecken. Sie allein sind die Garanten für Wachstum. Der Staat möge sich auf das besinnen, was ihn auszeichnet: Rahmenbedingungen mit vernünftigen Regeln aufstellen, ihre zügige Umsetzung garantieren und diejenigen unterstützen, die vorübergehend Hilfe benötigen. Die Öffentlichkeit aufzurufen, von der derzeitigen Situation zu profitieren, um sich des Privatsektors zu bemächtigen – wie es Mariana Mazzucato und andere tun –, ist immer falsch; jetzt würde es sich als desas­trös erweisen. Wir brauchen keine Günstlingswirtschaft, sondern einen mutigen Kapitalismus, keinen wichtigtuerischen, sondern einen effizienten Staat.


Dieser Artikel basiert auf einer früheren Fassung, die am 30. März 2020 in der italienischen Tageszeitung «Il Foglio» publiziert wurde.

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