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Regulierung der Biotechnologie

Akzeptierte und verborgene Realitäten

Ende Mai 2005 findet in Montreal die erste Verhandlungssitzung über eine internationale Haftpflichtregelung im Rahmen des Protokolls von Cartagena über biologische Sicherheit statt. Es spricht einiges dafür, dass diese den Auftakt zu einem jahrelangen kontroversen und kostspieligen Verhandlungsprozess mit zweifelhaftem Ausgang bilden wird. In den letzten 20 Jahren produzierten diverse Verfahren zur Erarbeitung internationaler Haftpflichtregeln in verschiedenen Umweltbereichen nach mehrjährigen Verhandlungen zum Schluss Papiertiger. Weshalb lässt sich nun die internationale Gemeinschaft angesichts dieser Erfahrungen erneut auf ein solches Experiment ein – noch dazu in einem ohnehin höchst kontroversen Bereich wie dem der Biotechnologie?

Eine mögliche Antwort ist, dass internationale Umwelt-Verhandlungsprozesse mit einem ideologisierten Weltbild arbeiten. Dieses akzeptiert nur einen vereinfachten und damit oft verfälschten Teil der – zumeist komplexen – Realität des Verhandlungsgegenstandes. Im Zentrum dieser «akzeptierten» Realität steht jeweils die Umwelt in den Entwicklungsländern als Opfer der Staaten des Nordens und vor allem ihrer Industrie. Die Überzeugung, dass «die Wirtschaft» grundsätzlich Umwelt- und Entwicklungszielen entgegenwirkt, scheint als Relikt aus der Zeit der frühen Umweltbewegung überdauert zu haben, obwohl viele Unternehmen und Verbände heute seriöse und pragmatische Beiträge zur Lösung der einschlägigen Probleme leisten.

Vertreten wird dieses Weltbild jeweils in erster Linie von Umwelt- und Entwicklungsorganisationen, die sich als Vertreter der internationalen öffentlichen Meinung und damit als ethische Kontrollinstanz in den Verhandlungen sehen. Die Exponenten der Gruppe der Entwicklungsländer verinnerlichen diese Sichtweise. Damit wird es für den Gesamtprozess unmöglich, denjenigen Teil der Realität, der dem propagierten Weltbild nicht entspricht – die «verborgene» Realität – in die Erwägungen einzubeziehen. Wer es dennoch tut, wird als Bösewicht gebrandmarkt, der den Zielen des Prozesses zuwiderhandelt. Die überwiegende Mehrheit der verhandelnden Staaten sucht dies um jeden Preis zu vermeiden, selbst wenn es ihren tatsächlichen Interessen widerspricht.

Gemäss der «akzeptierten» Realität, die den Verhandlungen über das Protokoll von Cartagena von Anfang an zugrunde lag, ist die Biotechnologie eine potentielle Gefahr für die Umwelt und die menschliche Gesundheit, ja ein Mittel der einschlägigen Industrie des Nordens, sich auf Kosten der Entwicklungsländer zu bereichern. Vor allem die afrikanischen Staaten unter der Führung Äthiopiens traten vehement für diese Sichtweise ein. Mit der Unterstützung von Umwelt- und Entwicklungsorganisationen forderten sie bereits als Teil des Protokolls eine internationale Haftpflichtregelung, um die Industrie in ihre Schranken zu weisen. Die «verborgene» Realität, dass nach dem heutigen Stand der Wissenschaft keine durch die Biotechnologie verursachten Umweltschäden bekannt sind und dass diese Technologie im Bereich der Ernährungssicherheit positive Beiträge gerade für die Entwicklungsländer leistet, wurde ausgeblendet. Industrieländer und Vertreter der Wirtschaft, die auf dieser Basis Zweifel an der Angemessenheit eines Haftpflichtinstrumentes äusserten, wurden als Verhinderer gesehen, die dem Übel Biotechnologie Vorschub leisten, statt es zu bekämpfen. Eine offene und kritische Diskussion über Nutzen und Gefahren der Biotechnologie war und ist in dieser Atmosphäre unmöglich.

Der internationale Verhandlungsprozess zur Biotechnologie ist zwar ein prominentes, aber keineswegs das einzige Beispiel für das Phänomen der «akzeptierten» und «verborgenen» Realitäten. Die Exponenten der Entwicklungsländer stützen ihre Forderungen nach inhaltlichen Zugeständnissen und finanziellen Mitteln auf die «akzeptierte» Realität des jeweiligen Prozesses. Abweichende Meinungen innerhalb der Gruppe der Entwicklungsländer existieren zwar, werden aber nicht laut. Auch die USA und ihre Verbündeten stellen die «akzeptierte» Realität nicht öffentlich in Frage. Sie weichen auf andere Argumente wie die Kosten oder die Machbarkeit einer Massnahme aus. Die Schweiz nimmt oft – und oft erfolgreich – eine Vermittlerrolle ein, mit dem Ziel, eine Verhandlungslösung herbeizuführen.

Die Ausklammerung der «verborgenen» Realität verhindert letztlich eine echte Lösung der Probleme. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob sowohl die «akzeptierte» als auch die «verborgene» Realität Teile einer komplexeren Gesamtrealität sein könnten, ist dringend nötig. Dafür könnten sich die internationalen Umweltprozesse beispielsweise des Instruments der Mediation bedienen, das in anderen Bereichen der Konfliktlösung erfolgreich angewendet wird. Findet diese Auseinandersetzung nicht statt, ist die Gefahr gross, dass im Rahmen des Cartagena-Protokolls nach jahrelangen Verhandlungen schliesslich eine Haftpflichtregelung verabschiedet wird, die der Gesamtrealität nicht gerecht wird und deshalb toter Buchstabe bleibt.

Katharina Kummer-Peiry ist Inhaberin des Beratungsbüros Kummer EcoConsult und Lehrbeauftragte für internationales Umweltrecht an der Universität Bern. Sie war an den Verhandlungen zum Protokoll von Cartagena über biologische Sicherheit als Ver-treterin der Universität Bern seit 1998 aktiv beteiligt. Sie äussert in diesem Kommentar ihre persönliche Meinung.

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