Reduit der kurzen Socken
Jeroen van Rooijen: Hat das Stil? 200 Fragen und Antworten zur kultivierten Lebensart. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2011.
Vorbei sind die Zeiten, in denen die gehobene Lebenswelt vor Stilsicherheit strahlte: Überall trampelt das Bäurische voran, das Stumpfe und Rohe dringt in die besten Häuser. Das Turnschuhwesen hat sich auf eine Weise ausgebreitet, dass einem bange werden muss. Und bei alldem ist das zivilisierte Bewusstsein immer leicht überfordert. Denn Hand aufs Herz: Wem fiele die Entscheidung, ob er in Vollfilzpantoffeln oder skandinavischen Hüttenfinken sein Zuhause durchmessen soll, immer ganz leicht?
Doch es gibt Hoffnung. Denn wo die Not am grössten ist, wächst das Rettende auch. Jeroen van Rooijen plädiert auf seiner soeben erschienenen Reise durch die zeitgenössischen Umgangsformen für Werte wie Augenmass, Anstand, Grosszügigkeit, Diskretion und Humor, Geist und Haltung. Wer wollte ihm hier widersprechen? Zu Recht hält der Autor die Diskussion, der er sich hingibt, für ein «überdeutliches Zeichen einer extrem verfeinerten Hochkultur». In dieser Kultur jedenfalls besteht die Menschenpflicht zu einer minimalen erotischen Ausstrahlung, die nicht zuletzt durch Stil erreicht werden kann. Allerdings müssen nach Ablauf der Spätadoleszenz, so ab 50, andere Muster zur Geltung gebracht werden als das bis anhin vielleicht gerade noch ausreichende natürliche Kapital.
Das Brustgut der Frau etwa bedarf zunehmender konservatorischer Beachtung. Büstenhalter erweisen sich nicht nur in Finanzkrisen als eine der wichtigsten Formen von asset protection, und so ist es richtig, dass ein Streiflicht van Rooijens auch den thermoplastisch geformten Büstenhalterschalen gilt. Der Fortschritt führt aber zu noch fundamentaleren Problemkonfigurationen: Wer in vorindustrialisierten Zeiten ein einziges Paar Schuhe hatte, war immerhin vom Zwang zur Wahl befreit. Heute aber steht die Dame nach der nächtlichen Erneuerung im Ankleidezimmer und muss mit Mut und hochentwickelter Selektionskompetenz Entscheide fällen, die auch für die Sphäre ihrer männlichen Artgenossen von enormer Bedeutung sind. Auch diese müssen übrigens vor ästhetischer Selbstverstümmelung gewarnt werden: Van Rooijen wendet sich gegen den klassischen gerippten Opa-Slip und die gemusterten Boxershorts, er gibt Hinweise über lebensverlängernde Massnahmen bei abgelatschtem Schuhwerk oder auch darauf, wie man Fahnenstangen zu ein wenig Fülle und Format verhilft. Bei ihm können sich Männer verlässliche Ar-gumente gegen den Terror ihrer Angetrauten holen, wenn etwa für angeblich gefährliche Auslandreisen Bauch-gürteltaschen gefordert werden. Sie sind, sagt unser Experte, «richtiggehend fürchterlich» und damit schon aus weltanschaulichen Gründen abzulehnen. Und van Rooijen weicht auch Tabuthemen wie Mundgeruch oder Hosenträgern nicht aus. Beim Frisurwesen lässt er deutlich durchscheinen, dass es nichts Erfreulicheres gibt als Männer, die ihr Hauptesgrau mit der Würde souveräner Natürlichkeit tragen.
Selbstverständlich überschreitet der Autor den Kreis seiner fachlichen Autorität allenthalben. Aber man nimmt auch in diesen Fällen den dezenten Eifer, den er an den Tag legt, und die schöne Pose der Dezidiertheit gerührt zur Kenntnis. Völlig unverständlich zum Beispiel ist, wie er, aus einer panischen Angst vor haarigen Waden heraus, für bis zum Knie reichende Männersocken einsteht. Was er für ein zähes Stildefizit der Eidgenossen hält, ist vielmehr eine modische Delikatesse, zitiert doch ein von Socke und Hose gerahmter Beinstreifen die vitale Animalität des Männergeschlechts aufs trefflichste. Auch hier also ist der Schweiz für ihre Gegenläufigkeit zu gratulieren: Kurze Socken sind ein letztes Reduit, in dem echte Schweizer einen individuellen Beitrag zur ästhetischen Landesverteidigung entrichten können. So gelangt man zur Überzeugung, dass Benimmfibeln wie diese gerade auch in ihren Irrtümern einmal zu den verlässlichsten Gegenständen soziokulturgeschichtlicher Forschung gehören werden.