Rechtsstaatlichkeit ist
unverzichtbar, aber unzureichend
Egal, wie klar und detailliert die Regeln sind, es bleibt stets ein gewisser Ermessensspielraum für Beamte oder Richter. Vor dessen Missbrauch schützt nur ein umfassendes System individueller Rechte.
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Rechtsstaatlichkeit ist heute quer durch das politische Spektrum als unverzichtbare Schranke für die Ausübung politischer Macht in aller Munde. Historisch gesehen wurde der Begriff erstmals eingeführt, um der offensichtlichen totalitären Gefahr zu begegnen, die mit der abschreckenden Maxime Justinians verbunden ist: Quod principi placuit legis habet vigorem – was dem Fürsten gefällt, hat Gesetzeskraft. In diesem Rechtssystem können despotische Impulse eines Königs oder eines Gesetzgebers verhindern, dass allgemeine Rechtserlasse, die im voraus bekannt und formuliert wurden und die dem normalen Bürger die Grenze zwischen legalem und illegalem Verhalten sowohl im öffentlichen als auch im privaten Recht deutlich machen, gleichmässig und unparteiisch angewendet werden. Dabei verlangt die vorherrschende Auffassung, die eng mit John Locke und Friedrich August von Hayek verbunden ist, dass alle Parteien in den Genuss der ehrwürdigen Verfahrensgarantien des Naturrechts kommen sollten, einschliesslich des Rechts, gehört zu werden und vor einem neutralen Richter Beweise in eigener Sache vorzulegen.
Dieses «schlanke» Konzept der Rechtsstaatlichkeit stellt keinen Bezug auf den materiellen Inhalt der geltenden Regeln her. Ich kenne jedoch keinen ernst zu nehmenden Denker, der dieses minimale Konzept der Rechtsstaatlichkeit ablehnt, auch wenn es viele gibt, die meinen, dass ein «dickeres» Konzept der Regeln – das heisst eines mit ernsthaften inhaltlichen Verpflichtungen – erforderlich sei, um das System zu vervollständigen.
Die Verwaltung übermarcht
Doch dieses einfache verfahrensrechtliche Modell der Rechtsstaatlichkeit wird weltweit mit der Tatsache konfrontiert, dass es mit der zunehmenden Komplexität des Verwaltungsstaates immer schwieriger wird, seine Bedingungen zu erfüllen. Der erste Punkt ist, dass das moderne Verwaltungsrecht praktisch durchs Band Schwarz-Weiss-Regelungen vermeidet und stattdessen ständig versucht, durch die Entwicklung allgemeiner Grundsätze erweiterten inhaltlichen Zielsetzungen Rechnung zu tragen – dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit am Arbeitsplatz, der Kontrolle von Umweltbedrohungen durch alle möglichen Aktivitäten, vom Bergbau bis zur Nutzung fossiler Brennstoffe. Diese weitgefassten inhaltlichen Ziele können nicht von der Legislative umgesetzt werden, die von allgemeinen Grundsätzen ausgeht. Der Inhalt wird notwendigerweise verfeinert und erweitert, zunächst durch Verwaltungsvorschriften und dann durch spezifische, auf Einzelfälle zugeschnittene Urteile. Beispiele dafür sind die effiziente Verringerung der Umweltverschmutzung und die besondere Fürsorge für ärmere oder marginalisierte Gruppen.
In diesem Rahmen kann es zu enormen Abweichungen kommen, selbst bei rein technischen Fragen. Die Übertragung von Verwaltungsbefugnissen kann ein nicht gewähltes Gremium ermächtigen, eine eigene Agenda zu verfolgen, die leicht von der des Gesetzgebers abweichen kann. Das öffnet politischen Intrigen Türen, die nur schwer zu schliessen sind. Idealerweise sollte das beauftragte Gremium die Details der grundlegenden Regelungen ausfüllen, anstatt eigene Regelungen zu entwickeln. Viele Gerichte scheuen sich jedoch, strenge Beschränkungen einzufordern, weil sie befürchten, dass ihnen das technische Fachwissen fehlt, um eine Behörde in ihrem angeblichen Zuständigkeitsbereich zu beurteilen. Daher ziehen sie es vor, sich solchen Verwaltungsbehörden nicht nur bei Sachfragen, sondern auch bei der Auslegung geltender Rechtsgrundsätze zu fügen. Das Handeln der Verwaltungsbehörden reicht zwangsläufig von vernünftig bis tollkühn, so dass in jedem einzelnen Fall unklar ist, ob eine Behörde ihre Befugnisse überschritten oder ein Gericht seine Aufsichtspflicht missbraucht hat.
Es ist wichtig, das Ausmass des Risikos zu erkennen. Ein Gesetz kann einer Behörde die Kompetenz erteilen, die Nutzung von schiffbaren Gewässern zu regeln. Eine Lesart dieses Auftrags erlaubt es der Regierung, Wasserstrassen auszubaggern und zu füllen. Nach einer anderen Lesart kann die Regierung Bewilligungen erteilen, um die Gründung von Unternehmen und den Bau von Häusern zu regeln, die meilenweit von einem schiffbaren Fluss entfernt liegen, damit jeglicher Gefahr einer künftigen Verschmutzung vorgebeugt wird. Ein anderes Gesetz kann vorschreiben, dass Kraftwerke die besten Systeme zur Emissionskontrolle einsetzen. Die engere Sichtweise erlaubt es der Regierung, Sicherheitsventile an jeder beliebigen Anlage anzubringen, während eine weiter gefasste Sicht in der Emissionskontrolle die Kompetenz einschliesst, die Nutzung fossiler Brennstoffe zu reduzieren, verbunden mit einer erzwungenen Abhängigkeit von Wind- und Sonnenenergie.
Leider ist nicht klar, wie man mit dem Appell an die Rechtsstaatlichkeit einen Mittelweg finden kann. Meiner Meinung nach ist es am besten, Verwaltungsbehörden bei der Feststellung von Tatsachen zu folgen, bei der rechtlichen Auslegung von Gesetzen und Verordnungen jedoch nicht, da hier die Gerichte unabhängig von der Materie einen komparativen Vorteil haben. Das tiefere Problem besteht jedoch darin, dass die Bandbreite möglicher Lösungen in all diesen Bereichen so gross ist, dass der Ermessensspielraum, den entweder die Verwaltungsbehörden oder die Richter ausüben, in einigen Fällen der Inbegriff der reinen Vernunft sein könnte, in anderen aber die allgemeine Absicht des Gesetzgebers zunichtemachen würde. Die Sache wird noch komplizierter, weil viele ambitionierte Regulierungspläne mit der Begründung angefochten werden können, dass sie die Religionsfreiheit (z.B. die Lockdowns von Kirchen während der Pandemie) oder die Redefreiheit (z.B. die Einschränkung der Kritik an Coronamassnahmen) einschränken oder eine Enteignung darstellen (z.B. gesundheitspolitisch begründete Beschränkungen der Nutzung oder Verfügung über Privateigentum). An diesem Punkt könnte die Stärke verfassungsrechtlicher Normen die Auslegung der Vorschriften beeinflussen.
Es braucht Schutzmechanismen
Die vielfältigen Herausforderungen, die der Verwaltungsstaat für die Rechtsstaatlichkeit mit sich bringt, geben Anlass zu einer zweiten Angriffsrunde: Das schlanke Modell der Regulierung lässt, selbst wenn es realisierbar ist, viel zu wünschen übrig, da seine verfahrenstechnischen Tugenden allenfalls lediglich notwendige Bedingungen für die Rechtsstaatlichkeit sind. Doch es ist zu einfach, sich vorzustellen, dass viele totalitäre Regime Todesstrafen verhängen könnten, während sie Anhörungen vor unparteiischen Richtern abhalten und Regeln durchsetzen, die es den Behörden erlauben, Redner zu verhaften, die sich gegen irgendeine Politik der Regierung wenden. Solche Regeln können auch genaue Verfahren vorsehen, die es den Regierungen erlauben, religiöse Einrichtungen nach einer umfassenden und rechtzeitigen Vorankündigung zu schliessen, oder die es Beamten gestatten, Häuser und Unternehmen im Privatbesitz zu beschlagnahmen, nachdem der Staat erklärt hat, dies geschehe aus Gründen des öffentlichen Bedarfs.
Es ist kein Zufall, dass jedes dieser Beispiele eine Situation widerspiegelt, in der die verfassungsrechtlichen Ansprüche gegen die Unterdrückung von Redefreiheit, Freiheit und Privateigentum in westlichen Demokratien am höchsten sind. Es scheint uns daher geradezu eine Pflicht zu sein, diese Schutzmechanismen einzuführen. Und wenn das geschehen ist, wird deutlich, dass die Verbindung zwischen Rechtsstaatlichkeit und klassischer liberaler Theorie eng ist. Die einzige Möglichkeit, die von der Rechtsstaatlichkeit angestrebte Kontrolle des Ermessensspielraums zu gewährleisten, besteht darin, ein umfassendes System individueller Eigentumsrechte mit klaren Rahmenbedingungen und klaren Spielregeln zu entwickeln. Diese allgemeine Forderung schliesst nicht aus, dass der Staat betrügerische oder zur Gewalt anstiftende Äusserungen oder religiös motivierte Menschenopfer unter Strafe stellt. Die Beantwortung dieser Herausforderung führt wiederum zu der Frage, welche Rechtfertigungen in das System aufgenommen und welche ausgeschlossen werden sollten.
Selbst eine aggressive Anwendung des Konzepts starker Rechtsstaatlichkeit stösst auf unüberwindliche Einwände, wenn Regierungen wichtige Entscheide zur Bereitstellung öffentlicher Güter fällen müssen: wie viel sie für öffentliche Strassen und Infrastruktur ausgeben sollen, wie viel sie für militärische Einsätze aufwenden sollen, wie und wann sie diese Ressourcen gegen unsere Feinde oder für unsere Verbündeten und Freunde einsetzen sollen. An diesem Punkt wird eine Entwicklung hin zu einem schlankeren Konzept von Rechtsstaatlichkeit selbst in gut regierten Staaten unvermeidlich. Es müssen Verfahren entwickelt werden, um das Mass an Diskussion zu gewährleisten, das erforderlich ist, bevor einige staatliche Akteure Budgets festlegen, wichtige Mitarbeiter ausbilden und entlohnen, Verträge abschliessen, Kriege erklären und militärische Einsätze durchführen dürfen, insbesondere wenn das Gemeinwesen in politischen Fragen stark gespalten ist. Hier ist die Rechtsstaatlichkeit ein nützliches Instrument zur Begrenzung des Ermessensspielraums. Aber sie ist nie mächtig genug, um vernünftige kollektive Entscheidungen zu diktieren, was erklärt, warum die Politik in ihrem Kern ein anfechtbares Urteil enthält, das zu korrigieren sich der Macht eines einfachen politischen Theoretikers entzieht.