Recht im digitalen Raum
Die Schweiz versäumt es immer wieder, einen sinnvollen Rahmen für die digitale Zukunft zu bauen. Das schafft Unsicherheit.
Bildung und Wissen sind die wichtigsten Rohstoffe der Schweiz, das ist längst ein Gemeinplatz. Darum müsste auch im digitalen Raum gewährleistet werden, dass sich Geist und Geld zu Innovation und damit letztlich zu Wohlstand verbinden. Und tatsächlich: es besteht Einigkeit! Gruppierungen wie die Initiative Digital Switzerland und der Wirtschaftsverband Swico oder Meinungsführer wie Ständerat Ruedi Noser und Ringier-Geschäftsführer Marc Walder setzen sich öffentlich dafür ein, dass die Schweiz die Chancen der Digitalisierung nutzt. Das ist erfreulich.
Wenn es allerdings um tatsächliche Entscheide geht, erweist sich die Einigkeit oft als trügerisch und der Einsatz als nicht zielführend. Die Schweiz verpasst es immer wieder, sich auch in der digitalen Wirtschaft als global vernetzte und innovative Wirtschaftsmacht zu positionieren. So beschloss das Parlament in den letzten Jahren beispielsweise, den Überwachungsstaat in der Schweiz erheblich auszubauen, und stimmte kürzlich erstmals staatlich angeordneten Netzsperren zu. Solche Entscheide sind in manchen Fällen gut gemeint, schwächen im Ergebnis jedoch die Zukunftsfähigkeit des Landes.
Heimatschutz mit Netzsperren
Netzsperren sollen verhindern, dass Menschen in der Schweiz online auf Angebote im Ausland zugreifen können – im vorliegenden Fall ging es um die Seiten von Onlinecasinos. Offiziell begründeten Befürworter die Sperre mit dem Schutz von Spielsüchtigen. Tatsächlich aber sind ausländische Angebote eher deshalb unerwünscht, weil die Gewinne aus den verschiedenen Geldspielen – letztlich auf Kosten von Spielsüchtigen – weiterhin innerhalb der Schweiz zwischen Branche und Staat aufgeteilt werden sollen. Auf den Versuch, den Markt unter Einbezug von ausländischen Anbietern zu regulieren, lässt man sich deshalb gar nicht erst ein. Mit Netzzensur wird Heimatschutz betrieben, was bei anderen Branchen Begehrlichkeiten weckt. Deren Vertreter wissen nun, dass sich fast alle Parlamentarier mit fiskalischen und monetären Argumenten überzeugen lassen, sofern sie nicht sowieso schon Angst vor dem ihnen fremden digitalen Raum als Neuland haben.
Dabei sind sich Wirtschaft und Wissenschaft einig, dass Netzsperren nicht nur ineffektiv sind, sondern auch schädliche Auswirkungen haben. Zensur im Internet höhlt zahlreiche Grund- und Menschenrechte aus, insbesondere die Informations- und Meinungsfreiheit sowie die Wirtschaftsfreiheit. Sie untergräbt das Vertrauen in die Zuverlässigkeit jener digitalen Infrastruktur, ohne die unser Alltag nicht mehr denkbar wäre. Gleichzeitig sind Netzsperren einfach zu umgehen. Viele Menschen verfügen über das dafür notwendige Wissen, weil sie trotz den Ländersperren der amerikanischen Unterhaltungsindustrie längst nicht mehr auf den Zugriff auf attraktive – und kostenpflichtige! – Fernsehserien und Filme im Ausland verzichten möchten. Doch jede Umgehung verursacht Aufwand, der im internationalen Wettbewerb einen entscheidenden Unterschied zum Nachteil der Schweiz bedeuten kann.
Realitätskonstruktion mit rechtlichen Mitteln
Die neuen Netzsperren sind leider keine Ausnahme, sondern lediglich die letzte Folge in einer Serie von Fehlentscheiden. Mit weiteren Folgen: wer heute Informationstechnologie (IT) in der Schweiz nutzt, setzt häufig auf Angebote aus dem Silicon Valley, dem amerikanischen Zentrum der weltweiten IT. Die Angebote aus den USA sind Angeboten aus der Schweiz und dem übrigen Europa – sofern es vergleichbare Angebote überhaupt gibt – meistens funktional und preislich überlegen. Gerade beim stark wachsenden Markt für Software as a Service (SaaS), wo Software als vernetzte und umfassende Dienstleistung in der Cloud verstanden wird, dominieren Anbieter aus den USA. Auch bei Big Data und künstlicher Intelligenz sind mehrheitlich Anbieter jenseits von Europa führend. Dies, obwohl der digitale amerikanische Traum vielfach starke Schweizer Wurzeln hat, darunter erfolgreiche Forschung an der ETH Zürich oder mit Erfolg in die USA emigrierte Start-up-Unternehmer aus der Schweiz.
Aus rechtlicher Sicht präsentiert sich im Umgang mit der Digitalisierung seit Jahren das immer gleiche Bild: Trotz Schönwetterreden mit Bekenntnissen zu Grundrechten und digitaler Transformation vermindern ständig neue Regulierungen die Zukunftschancen der Schweiz. Die Gesetzgeber verstehen das Recht nicht mehr als sorgfältige Antwort auf die Herausforderungen einer ständig wechselnden Realität. Vielmehr versuchen sie, motiviert von Partikularinteressen, eine jeweils erwünschte Realität mit rechtlichen Mitteln zu erzwingen. Schädliche Auswirkungen werden ausgeblendet oder Entscheide als alternativlos verharmlost.
Digitaler Rückstand in der Schweiz
Ein Beispiel ist das Datenschutzrecht, das in der Schweiz momentan revidiert wird und erheblich verschärft werden soll. Der vorliegende Entwurf würde voraussichtlich im Einklang mit dem Datenschutzrecht der Europäischen Union (EU) stehen, die aber nicht als Vorbild im digitalen Raum taugt: Der deutsche digitale Rückstand, bisweilen nur halbwegs scherzhaft als DDR abgekürzt, führt in der EU zu einem Datenschutz mit wachsender Bürokratie und nochmals verstärktem Heimatschutz gegenüber den USA. In der Schweiz könnten insbesondere innovative Start-ups darunter leiden. Man setzt beim Datenschutz nicht auf bessere Rahmenbedingungen, um die Konkurrenzfähigkeit im digitalen Raum zu fördern, sondern legt jenen Menschen und Unternehmen, die zukunftsgerichtet handeln, regulatorische Steine in den Weg. Gleichzeitig wird die Klärung wichtiger Fragen wie beispielsweise des Rechts auf Kopie an den eigenen Daten zur Förderung einer Open-Data-Kultur auf die lange Bank geschoben.
Die Folge ist erhebliche Rechtsunsicherheit, in welchem Umfang datenbasierte Geschäftsmodelle in der Schweiz noch zulässig sind. Dies ist umso ärgerlicher, als das bürokratische Datenschutzrecht vielfach nur ein Placebo ist: Gleichzeitig findet staatlich erzwungen ein umfassender Datenaustausch mit Ländern in aller Welt statt, der nicht wirksam kontrolliert wird – zum Beispiel über den automatischen Informationsaustausch der Banken oder den Datenbasar von Sicherheitsbehörden wie dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB). Die Schweiz ist mit ihrem Anspruch, ein rechtssicherer und vertrauenswürdiger Hafen für Daten und Informationen zu sein, längst am eigenen staatlichen Datenhunger gescheitert. Wer im Glashaus der eigenen Massenüberwachung aller Menschen ohne Anlass und Verdacht sitzt, kann nicht glaubwürdig für Datenschutz einstehen.
Grundrechte als Massstab
Glücklicherweise ist die Bereitschaft zur Rechtsstaatlichkeit als Grundlage für Innovation und Wohlstand im digitalen Raum durchaus noch vorhanden. Dazu reicht es allerdings nicht aus, für angestrebte Eingriffe jeweils eine gesetzliche Grundlage zu schaffen – das ist eine Selbstverständlichkeit. Vielmehr muss jede Regulierung im Einklang mit den Grundrechten und dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit stehen. Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Wirtschaftsfreiheit müssen den Massstab für jedes staatliche Handeln bilden, auch wenn die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennt. In bezug auf den Datenschutz bedeutet das: Es gilt Menschen vor dem Missbrauch ihrer Daten zu schützen, ohne gleichzeitig die Chancen der modernen Datenwirtschaft zu verpassen.
Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit bedeutet in vielen Fällen den zwingenden Verzicht auf eine Regulierung, wenn sie nicht geeignet, erforderlich und zumutbar ist und nicht im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt. Zielführende Anreize sind gegenüber Regulierungen zu bevorzugen und Regulierungen, die ihren behaupteten Zweck nicht oder nicht mehr erfüllen, sind ausser Kraft zu setzen. Falls doch reguliert wird, sind technologieneutrale gesetzliche Grundlagen notwendig, die nicht an den schnellen und oftmals überraschenden Entwicklungen in der IT scheitern. Gerichte sind dafür zuständig, solche Rechtsgrundlagen mit neuen Anwendungsfällen in Übereinstimmung zu bringen – beispielhaft ist das Zürcher Twitter-Urteil von 2016. Das Bezirksgericht stellte Twitter unter das Medienstrafrecht und entschied, dass das reine Verbreiten eines Tweets («Retweet») nicht strafbar sei. Es verwies dabei auf einen Bundesgerichtsentscheid von 2002 bezüglich einer Ehrverletzungsklage im Zusammenhang mit einer Plakataktion. Die Lausanner Richter hatten Beschuldigte, die Plakate lediglich aufgehängt hatten, damals freigesprochen.
Ein anderer, zukunftsgerichteter Umgang mit der Digitalisierung ist in der Schweiz möglich. Dazu braucht es genügend Akteure, die die notwendige Überzeugungsarbeit bei Politik, Stimmvolk und Verwaltung leisten. Verschiedene Vertreter von Netzpolitik, Zivilgesellschaft und Zukunftswirtschaft haben das erkannt, bezahlen aber immer wieder schmerzhaftes Lehrgeld aus politischen Niederlagen. Dennoch bin ich optimistisch, dass es vermehrt gelingen wird, sich politisch gegenüber den starken Interessen der vordigitalen, häufig staatsnahen Wirtschaft durchzusetzen. Und auf diese Weise Innovation zugunsten aller Menschen in der Schweiz auch im digitalen Raum zu ermöglichen.