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Readerscan

Wie ein gefürchtetes Instrument zum Therapeutikum werden kann

Printmedien sind Zwitterwesen. Zeitungen und Zeitschriften sind meist privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen, die sich im Wettbewerb behaupten und Gewinn bringen sollen, dabei jedoch gleichzeitig einen öffentlichen Auftrag zu erfüllen haben. Etwas pompös werden sie auch die «vierte Gewalt» genannt. Die Stimmbürger einer Demokratie – zumal einer direkten wie der schweizerischen – sind auf Informationen und Analysen angewiesen, die weder parteigebunden noch vom Staat gelenkt sein sollen. Printmedien müssen sich zwar auf dem Markt verkaufen, dürfen aber nicht käuflich sein.

Redaktoren und Journalisten befinden sich ebenfalls im Zwiespalt. Einerseits müssen sie unter chronischem Zeit- und Spardruck kundenwirksam «die Seiten füllen» und dabei an die verkaufte Auflage denken, die steigen und nicht fallen sollte. Anderseits sind Schreibende häufig Idealisten mit Sendungsbewusstsein. Die Währung der öffentlichen Wahrnehmung ist ihnen – im Vergleich zu vielen anderen Berufen – wichtiger als die Währung des Geldes. Oder anders gesagt, es ist die Anerkennung der Leser, die zählt, selbst wenn diese nur wenige, dafür aber die richtigen sind (und dann werden nicht nur kleine Auflagen, sondern damit einhergehend auch Löhne in Kauf genommen, die in manch anderem, vergleichbar anspruchsvollen Berufszweig wohl keinen an den Arbeitstisch locken könnten).

Doch bis vor kurzen wusste niemand, was Leser wirklich lesen wollen. Die Frage, welchen Informationen und Texten sie ihre Aufmerksamkeit schenken, blieb lange unbeantwortet. Meist stand der Wunsch Pate bei der Mutmassung, was das Publikum interessiere. Kurzum, niemand hatte bisher – von anekdotischen Erkenntnissen aus dem Bekanntenkreis und nachträglichen Leserbefragungen abgesehen – ein empirisch fundiertes Wissen. Dies änderte sich erst mit einer Erfindung des Berner Ökonomen und Medienberaters Carlo Imboden: dem Readerscan. Mit einem elektronischen Stift können die Leser markieren, was sie tatsächlich lesen.

Viele Tages- und Wochentitel in der Schweiz und in Deutschland haben es schon ausprobiert. Eine die Gesamtleserschaft möglichst genau widerspiegelnde Auswahl von Personen nimmt die Zeitung oder Zeitschrift nun nur noch zusammen mit diesem Stift in die Hand und markiert insbesondere immer die Stelle im Artikel, vor der sich jeder Autor fürchtet: den Ausstieg. Also den Moment, in dem das Interesse erlischt und der Leser weiterblättert. Alle Informationen des Readerscans werden elektronisch an eine zentrale Datenbank weitergeleitet, dort ausgewertet und kurz darauf der Zeitung zur Verfügung gestellt: ein Querschnitt tagesaktueller Zahlen, was die Leser gelesen haben. (Wobei sich die Frage stellt: Lesen Leser mit Readerscan möglicherweise anders als ohne?)

Damit verlieren die Printmedien – je nach Perspektive – entweder ein Privileg, oder es wird ein Defizit ausgeglichen. Es kommt, was die Entwicklung des Fernsehens schon vorgemacht hat: die Quote im Zeitungsalltag. Das freut zunächst einmal die Investoren, die hinter den Verlagen stehen. Endlich eine Erfolgskontrolle, die Rendite bringt, jedenfalls dann, wenn die Macher der Zeitungen sich nach den ermittelten Ausstiegsquoten richten und Inhalt, Stil und Gestaltung der Zeitung und der einzelnen Texte entsprechend anpassen. Genau davor graut es hingegen vielen Journalisten und Redaktoren. Vor ihnen steht die Horrorvision der Quotenzeitung, die unter der Fuchtel des Schreckgespenstes Readerscan auf die Inhalte und das Niveau des Quotenfernsehens abstürzt. Von diesem «Unterschichtenfernsehen», wie es das Satiremagazin «Titanic» einst nannte, beziehen ihre düsteren Phantasien das Modell dessen, was auch bald die Printmedienlandschaft ausmachen werde: allgemeine Verflachung, viel Sex & Crime, Exhibitionismus und Serviceangebote zweifelhaften Inhalts.

Und jetzt kommt’s: all das ist falsch, die Sorgen unbegründet. Die Leser sind offenbar viel wissbegieriger, als es ihnen bisher zugetraut wurde. Viele wollen fundiert über Hintergründe informiert werden und steigen auch bei langen Texten nicht zwangsläufig aus, wird den Ergebnissen des Readerscans Glauben geschenkt. Die «Politikverdrossenheit und Politikabstinenz, wie sie sich für Politiker darstellt, schlägt sich in der Zeitungsnutzung nicht nieder. Im Gegenteil: die Fähigkeit politische Inhalte darzustellen, transparent zu machen und auch kritisch zu hinter­fragen, diese Funktionen hat die Zeitung nicht verloren». Das ist das Fazit Carlo Imbodens über die Nutzung des Politikbundes der Zeitungen. Lokalberichterstattung, kleinteilige Serviceseiten und vor allem die Sportseiten, mit denen die Zeitungsmacher versucht hatten, ihr Printprodukt den Kunden schmackhaft zu machen, werden viel weniger gelesen als bisher vermutet wurde. Gleiches gilt für schrilles Layout, farbenintensive Gestaltung, Bilder, die verspielt den Text umschlingen oder Infographiken und poppige Statistiken und all die anderen modischen Dinge, die erfunden wurden, um der Devise «ein Bild sagt mehr als tausend Worte» Folge zu geben: die Leser steigen aus! Gut recherchierte Texte hingegen, die Hintergrundwissen zu zeitrelevantem Geschehen liefern, fundierte Analysen, kluge Kommentare, das alles gut geschrieben sowie ein Layout ohne viel Firlefanz, das ist es, was Leser wollen. Readerscan kann daher zum Therapeutikum werden, das die gespaltenen Psychen der Zeitungs- und Zeitschriftenmacher heilt und das Spiel des Marktes mit dem öffentlichen Auftrag, die journalistische Ambition mit den Bedürfnissen des Lesers versöhnt.

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