Ramadan für Atheisten
Udo Pollmer findet, dass man den Menschen nicht zu einer asketischen Ernährungsweise zwingen soll. Sein Einsatz ist löblich – aber einseitig. Denn Pollmer vergisst zu erwähnen, dass der freiwillige Verzicht auf bestimmte Genüsse, sei es auf Würste, Pizza oder Schnaps, durchaus gute Gründe haben kann – und zwar weit über die Gesundheit hinaus. Freiheit heisst […]
Udo Pollmer findet, dass man den Menschen nicht zu einer asketischen Ernährungsweise zwingen soll. Sein Einsatz ist löblich – aber einseitig. Denn Pollmer vergisst zu erwähnen, dass der freiwillige Verzicht auf bestimmte Genüsse, sei es auf Würste, Pizza oder Schnaps, durchaus gute Gründe haben kann – und zwar weit über die Gesundheit hinaus.
Freiheit heisst nämlich nicht nur Freisein von Zwang, im Ernährungsbereich also zugespitzt die konsequente Völlerei. Freiheit meint immer auch Selbstbestimmung bzw. Selbstbegrenzung – die Freiheit, sich selbst Regeln zu geben. Egal, ob Veganer, Anhängerin der Paläoernährung oder fastender Katholik: wer sich angesichts des Nahrungsüberflusses aus freien Stücken zum Verzicht entschliesst, der handelt autonom. Autós, selbst, und nómos, Gesetz, das heisst: sein eigener Gesetzgeber sein.
Der Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel mag den Genuss verringern. Doch dafür stärkt er einen «Muskel», der gerne vergessen geht: die Willenskraft, die Kraft, die es einem erlaubt, nach der Arbeit noch einen Russischkurs zu besuchen oder mit der Tochter zu spielen, anstatt fernzusehen.1
Neulich habe ich, selber Atheist, mich mit einer gläubigen Muslimin unterhalten. Gefragt, was sie Jahr für Jahr dazu motiviere, während eines Monats tagsüber nichts zu essen, antwortete sie, dass sie dadurch nicht nur lerne, das Essen wertzuschätzen. Der Ramadan erinnere sie auch daran, dass sie selbst für ihr Verhalten verantwortlich sei. Das Fasten gibt ihr ein Mehr an Willenskraft – es ist ein Investment in die eigene Persönlichkeit. Dieses Prinzip können sich auch Nichtmuslime zunutze machen.
Pollmer hat recht: Niemand soll uns zwingen, uns auf eine bestimmte Art zu ernähren – auch nicht zu unserem (angeblich) Besten, wie im Fall des Ex-Bürgermeisters von New York, der den Verkauf von Süssgetränken einschränken wollte. Es wäre allerdings schade, wenn wir unsere neugewonnene Ernährungsfreiheit nicht nutzen würden, um selbst zu entscheiden, wann wir lieber auf einen Genuss verzichten. Lasst uns essen, was wir wollen, von der Bio-Karotte hin zum Big Mac! Nur dadurch können wir selbst lernen, was wir wollen – und was nicht.
1 Vgl. Roy Baumeister: Willenskraft als Muskel. In: Schweizer Monat 996, Mai 2012. S. 28–31.