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Ralf Dahrendorf, «Auf der Suche nach einer neuen Ordnung»

Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert

In einem kürzlich gehaltenen Vortrag sprach Ralf Dahrendorf, einstmals Soziologieprofessor, Staatssekretär in der Regierung Brandt/Scheel, EG-Kommissar, Direktor der London School of Economics, Warden des St Antony‘s College in Oxford und heute Lord im Britischen Oberhaus, von den vierzig Titeln, mit denen er die Welt belästigt habe. Die Leser seiner zahlreichen Bücher haben es nicht so gesehen, sind aber wohl auch nicht überrascht, wenn in seiner neuesten Sammlung von sechs Vorträgen, die hier rezensiert wird, nicht viel grundlegend Neues auftaucht. Aber ein leicht vorgetragenes, immer den Blick fürs Ganze wahrendes Konzentrat seines gehaltvollen, über mehrere Jahrzehnte gelehrten und gelebten Liberalismus ist es allemal.

Dahrendorf zeichnet eine Politik der Freiheit in einer Welt ohne Halt. Haltlosigkeit meint er in jenem Doppelsinn, dass wir sie nicht halten und in ihr keinen Halt finden

können. Freiheit ist für ihn Abwesenheit von Zwang und Ermutigung zur Eigentätigkeit. Dahrendorf geht damit, ohne es direkt anzusprechen, über Isaiah Berlins Dichotomie von positiver und negativer Freiheit hinaus. Explizit und differenziert ist der Bezug zu Karl Popper, insbesondere zu seinem sperrigen Satz am Ende des ersten Buches der «Open Society»: Freiheit braucht auch Sicherheit, aber so, dass die «rechtlichen Regelungen, die die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir in Freiheit leben können, nicht selbst die Freiheit gefährden dürfen».

Die Optionen oder Wahlmöglichkeiten, die uns die Freiheit gewährt, machen nur Sinn, wenn sie eingebettet sind in Ligaturen, tiefe Bindungen, massstäbeliefernde Wertvorstellungen. Ohne Ligaturen sind Wahlchancen bestenfalls die beliebigen Betriebsamkeiten einer permissiven Spassgesellschaft. Dahrendorf kennt den Zustand der Anomie persönlich aus seinen Erinnerungen an 1945, als das Verschwinden der Nazis und der Einmarsch der Sowjets die Jugendlichen in Berlin zu Plünderungen einlud. Weit verbreitet sind heute das Sprayen im öffentlichen Raum und diverse Kleindelikte. Eine weitere Stufe auf dem Weg zur Anomie ist das gesellschaftliche Opting out, die Bekämpfung der herrschenden Verhältnisse durch ihre Leugnung, durch Drogenkonsum oder durch die Mitgliedschaft in totalitären Institutionen, die systematisch Gehirnwäsche betreiben und in den krassesten Fällen zu Formen des Massenselbstmordes verführen. Hier kommt das Element des falschen Halts dazu, das auf der dritten und dramatischsten Stufe der Haltlosigkeit, dem Terrorismus, fatale und gewollt zerstörerische Auswirkungen zeigt.

Es gibt für Dahrendorf durchaus ein Programm, um solchen Entwicklungen Einhalt zu gebieten. Ich erkenne darin vor allem zwei Komponenten, eine philosophische und eine politische. Erstere liegt in der Akzeptanz der «ungeselligen Geselligkeit» (Kant). Konflikt und Ungleichheit sind als Promotoren des Fortschritts zu akzeptieren. Gleichzeitig sind es aber auch immer wir Menschen, die der Geschichte Sinn geben, hoffentlich – und wiederum mit Kant – in weltbürgerlicher Absicht.

Das politische Programm besteht in der Förderung von mehr Lebenschancen für mehr Menschen. Die Globalisierung, aber auch Sozialstaatselemente, können hier durchaus eine positive Rolle spielen. Dass lokale Verankerung auch Halt geben kann und darf, soll man nicht leugnen, ebensowenig wie den Stellenwert der Vielfalt in der Demokratie. Zentral ist aber vor allem die Schaffung von Netzen, die der Freiheit als Infrastruktur dienen. Dies geschieht am freiheitlichsten durch die Bürgergesellschaft, jenes «schöpferische Chaos von Assoziationen, zu denen wir aus freien Stücken gehören». So ist der Boden bereitet, damit Freiheit als tätige Freiheit sich in sinngeleiteten Strukturen entfaltet.

Dahrendorf kennt die Klippen, die sich einem solchen Programm entgegenstellen, und er verschweigt sie nicht. Wie sich das 21. Jahrhundert entwickeln wird, weiss ohnehin niemand wirklich genau – und das ist letztlich auch gut so. Liberale sind mit Dahrendorf für dieses Wagnis gut gerüstet.

Dr. Daniel Brühlmeier ist Leiter der Abteilung «Planung und Koordination» bei der Staatskanzlei des Kantons Zürich und präsidiert seit 2001 die Gruppe Zürich der Neuen Helvetischen Gesellschaft.

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