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Quo vadis Türkei?

Der eurozentrische Blick auf die Türkei bietet ein zu einfaches Bild. Hinter der Auseinandersetzung zwischen Islamisten und Säkularisten verbirgt sich in Wahrheit der tiefergreifende Konflikt zwischen Nationalisten und Demokraten. Wer von beiden Kräften die Oberhand gewinnt, ist unklar.

Die Türkei ist in der Krise. Massenproteste und Drohungen der Armeeführung begleiten das Ringen um die Neuwahl des Parlaments und des Staatsoberhaupts in diesem Sommer. Die Schablone für die richtige Lesart war schnell fertiggestellt: ein Konflikt zwischen Islamisten und den Verteidigern der säkularen Republik Kemal Atatürks. Doch die Erklärung greift zu kurz.

Die Türkei ist verunsichert – aber dies liegt beileibe nicht allein an der religiösen Ausrichtung ihrer derzeitigen Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung). «Der Streit um die Präsidentschaft ist der Versuch des türkischen Establishments, das höchste Staatsamt in den eigenen Reihen zu halten», sagt Eren Keskin. Die türkische Menschenrechtlerin hat an den Kundgebungen «zur Verteidigung der säkularen Türkei» nicht teilgenommen, damit aber sicher kein Statement für eine islamische Republik abgegeben. Für sie ist vielmehr klar: «Bisher sind alle Präsidenten der modernen Türkei Männer nach dem Gusto des Militärs gewesen. Sollte Premierminister Tayyip Erdogan oder Aussenminister Abdullah Gül Präsident werden, würde sich dies ändern. Und das ist es, was Generäle und zivile Nationalisten in Wahrheit beunruhigt.»

Nun haben der Premier und sein Aussenminister zwar nie einen Hehl aus ihrer Religiosität gemacht. Demonstrativ lässt Erdogan beispielsweise seine Tochter in den USA studieren, weil sie dort an jeder Universität ein Kopftuch tragen darf, was ihr in der laizistisch verfassten Türkei verwehrt wird. Als Premier hat er es jedoch stets von sich gewiesen, eine Politik zu betreiben, die eine Islamisierung des türkischen Staates zum Ziel hätte. Wie kein anderer Regierungschef vor ihm war Erdogan bereit, türkische Tabus zu brechen, um sein Land an die EU heranzuführen. Zugeständnisse in der Menschenrechtspolitik, Reformen des Straf- und Zivilrechts, Lockerungen der restriktiven Minderheitenrechte zeugen davon. Dafür wurde er zu Hause und in Europa kritisiert; türkischen Nationalisten ging er zu weit, den Verhandlungspartnern in Brüssel war er stets zu unentschlossen und zudem als Moslem suspekt.

In Ankara und anderen Grossstädten demonstrierten Hunderttausende von Menschen nicht primär aus Furcht, in der Türkei stehe unmittelbar ein Gottesstaat à la Iran bevor. Die Motivationen waren breit gestreut und bündelten sich nur in der Ablehnung einer möglichen Präsidentschaft Erdogans oder Güls, weil dann deren religiös-konservative AKP alle Hebel der Macht im Staate besetzen würde.

Dass die AKP nicht für einen erwachenden Islamismus steht, zeigt ein Blick zurück auf den Herbst des Jahres 2002, als die AKP mit nicht einmal 25 Prozent der Stimmen stärkste Kraft im türkischen Parlament wurde. Mehr als ein Drittel der türkischen Wahlberechtigten blieb damals zudem den Wahlurnen fern. Zu gross war die Frustration über die Korruption und die selbstsüchtigen Machtspiele der langjährigen kemalistischen Regierungskräfte der Mutterlandspartei und der Partei des Rechten Weges. Sie wurden ebenso aus dem Parlament verjagt wie die Demokratische Partei der Linken und die rechtsextreme Partei der Nationalen Bewegung.

Hinter der Frontstellung Islamismus gegen Säkularismus spalten andere Gräben das Land: nationalistischer Zentralismus gegen die Rechte ethnischer Minderheiten; staatlich verwalteter Einheits-Islam gegen religiöse Minderheiten; EU-Kandidatur gegen wirtschaftliche und politische Isolation. Kurz, hinter der Frage nach der religiösen bzw. säkularen Ausrichtung der Türkei steht jene nach ihrer demokratischen Perspektive.

Die grossen Kundgebungen gegen den Allmachtanspruch der AKP dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele säkulare Türken und Türkinnen, die sich in keiner der existierenden Parteien wiederfinden, die AKP einfach für das kleinere Übel halten. Diese Stimmen, heisst es in einer Lagebeurteilung der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, reichen bis weit ins linke Lager. Die sich zur Sozialdemokratie bekennende Republikanische Volkspartei (CHP), die sich auf den Republikgründer Kemal Atatürk beruft, sei «nicht einmal mehr demokratisch», schrieb etwa das einflussreiche Boulevardblatt «Hürriyet», sonst ein treues Sprachrohr der Säkularisten.

Der bisher nicht sehr erfolgreiche Verhandlungsweg der AKP in die EU akzentuiert das politische Dilemma der Türkei zusätzlich. Laut jüngsten Umfragen wollen auch im bürgerlichen Mittelstand lediglich noch etwa 40 Prozent einen Beitritt zur EU. Die Europaskepsis nährt sich aus Verletzungen, denen man sich aus Brüssel ausgesetzt sieht – sei es, weil sich viele Türken von der EU unter den Generalverdacht des Islamismus gestellt fühlen, sei es, weil bis tief ins bürgerliche Lager jede Kritik am Armenier-Völkermord und der Unterdrückung der kurdischen Kultur als Spaltpilz gegen das Türkentum empfunden wird. John Robertson, Nahostexperte der Universität Michigan, warnt jedoch: «Eine Zurückweisung der Türkei durch die EU wird dort und in deren Nachbarländern die Auffassung weiter stärken, der Westen führe einen Kampf gegen den Islam.»

In diesem Kontext muss Europa und die Türkei interessieren, wie die arabisch-islamische Welt über die EU-Perspektive der Türkei debattiert. Wird der Begriff von der Brückenfunktion der Türkei – den in der EU vor allem Verhandlungsbefürworter verwenden – aufgegriffen, oder fürchtet man zwischen Algier und Kairo, die Türkei könnte sich von ihren eigenen, islamischen Wurzeln abwenden?

Es gibt konservative Islamisten, die einer europäischen Nachbarschaft nichts abgewinnen können. «Die Aufnahme der Türkei in die EU ist ein Kreuzzugsprojekt, mit dem deren islamische Identität zerstört werden soll», schreibt die saudi-arabische Zeitung «Asch-Schark al-Ausat». Dann gibt es Euphoriker wie den Politologen Hassan Nafaa von der Universität Kairo. Er sagt: «Mit einem EU-Mitglied Türkei wäre die Stabilisierung des Nahen Ostens geradezu automatisch ein europäischer Primat.» Und es gibt Skeptiker wie den ägyptischen Politologen Ahmad Abdallah: «Solange der Nahe Osten derart instabil ist, wird sich Europa hüten, die Türkei aufzunehmen.» Abdallah ist überzeugt, dass sich andernfalls die militärische Abhängigkeit der EU von Washington – wie sie sich in den europäischen Konflikten auf dem Balkan gezeigt habe – noch verstärken würde.

Trotzdem wecken die Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei bei vielen arabischen Intellektuellen Hoffnungen. Sie denken dabei an die kulturelle und gesellschaftliche Wirkung eines Dialogs zwischen der EU und der Türkei. «Beitrittsverhandlungen wären die Nagelprobe dafür, ob sich die islamische Welt und Europa in einem Dialog tatsächlich gegenseitig in ihrem Anderssein akzeptieren können», sagt Abdallah.

Der europäisch-türkische Dialog kann in der Tat als ein zivilisatorisches Projekt verstanden werden, das die Sicht Europas auf die islamische Welt ebenso verändert wie das schlechte Image des Westens in islamischen Ländern. Sind beide Seiten zu einem ergebnisoffenen Verhandlungsprozess bereit, könnten sich an dessen Ende Möglichkeiten jenseits von Aufnahme oder Ausschluss der Türkei durch die EU ergeben. Stünde die Türkei dannzumal als islamische Gesellschaft da, die alle wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Voraussetzungen für einen Beitritt zur EU erfüllte, stellte sich die Frage, ob Ankara nicht auch andere Perspektiven hätte. Die Türkei könnte – emanzipiert von ihrer eigenen imperialen Vergangenheit in osmanischer Zeit und vom Zwangslaizismus Kemal Atatürks – eine neue Rolle in der Region ausfüllen, als Leading Nation einer arabisch-islamischen Welt, die, der Demokratie verpflichtet, einen Weg zu einer eigenen Wirtschaftsgemeinschaft und vielleicht auch politischen Union suchte. Die EU wäre nicht länger das Ziel, mit dem alle Zukunft steht und fällt, sondern Vorbild supranationaler Zusammenarbeit in regionaler Einheit.

In der Türkei haben die nationalistischen Kräfte über Jahrzehnte politisch den Ton angegeben. Der Westen muss erkennen, dass ein neuer Konsens zwischen säkularen und religiösen Türken mehr Zeit braucht als eine Legislaturperiode.

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