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Quo vadis, Europa?

Wenn schon Polemik, dann doch besser: Lieber ein Brüsseler Beamter im Leerlauf als ein Kanonier in Verdun! Lieber Brüsseler Korridore als Schützengräben!

Quo vadis, Europa?

Mitten im Ersten Weltkrieg geriet der mystisch-prophetisch veranlagte, beharrlich klein und interpunktionslos schreibende Kulturkritiker Rudolf Pannwitz ins Grübeln. Gegen Ende seiner, milde gesagt, esoterischen Studie Die Krisis der europäischen Kultur (1917) kam ihm eine mit einem Ausrufungszeichen versehene Gewissensfrage in den Sinn: Was geschähe, wenn wir uns am Ende dieser politisch inszenierten Weltkatastrophe doch zu einem «mutterland europa» bekennen könnten, wenn wir es «plötzlich haben sollten», aber nicht wissen «was damit anfangen».  Und er ruft aus: «Wehe» den Europäern, denen es so erginge.

Er hoffte als neue Inspiration für Europa auf «Krishnas weltengang», auf China, beklagte das «verengländern» der Zivilisation angesichts eines Englands, das nicht wisse, wo es Europa gegenüber stehe. Was Letzteres angeht, so bestätigt sich dieser Befund in unseren Tagen aufs Peinlichste.

Wissen wir gegenwärtig, was wir «anfangen» sollen mit diesem jahrzehnte-, jahrhundertelang hart, oft allzu blutig erarbeiteten ‹Europa›, mit diesem Geschichtsgeschenk, das immer wieder neu zu verdienen wir womöglich vergessen haben? Beschleicht, überkommt uns nicht Beschämung, wenn wir dabei zusehen müssen wie Europa an seinem Schuldenreichtum zu ersticken droht? Wie es sich selbst paralysiert und seiner Weltverantwortung derzeit nicht mehr gerecht zu werden versteht? Kann es sein, dass wir wirklich dabei sind zu vergessen,  welchen unschätzbaren Wert ‹Europa› selbst in dieser währungspolitisch und schuldentechnisch maroden Form darstellt?

So gewiss es ist, dass die Europäische Union reformbedürftig bleibt und immer bleiben wird, so fraglos ist die Bedeutung und integrierende Wirkung dieser Reformarbeit. In erster Linie sollte das Europäische Parlament sie leisten. Und es ist richtig, die mangelnde Transparenz, die Versteifung der politischen Prozesse innerhalb der Europäischen Union zu kritisieren, den mündigen EU-Bürger zu fordern und durch ihn die europäische Zivilgesellschaft.  Doch sollte das nicht gegen sondern vermittels einer schrittweise reformierten Brüsseler Technokratie geschehen. Denn was fruchtet letztlich diese Schelte der Brüsseler Bürokraten, die eine intellektuelle Medienelite rituell und wohlfeil auszuteilen versteht? Dient sie nicht letztlich den intellektuellen Wortführern dazu, durch diese Dämonisierung des EU-Technokraten endlich einmal publikumswirksam in Erscheinung zu treten?  Wie billig. Wenn schon Polemik, dann doch besser: Lieber ein Brüsseler Beamter im Leerlauf als ein Kanonier in Verdun! Lieber Brüsseler Korridore als Schützengräben!

So lange ist es noch nicht her, als George Steiner einen «neuen Mythos für Europa» forderte. Das war anlässlich einer Eröffnungsrede bei den Salzburger Festspielen. Die Forderung ist aktuell geblieben; sie ist so wichtig wie eine vernünftige Schuldenregulierung für Griechenland. «Vom Strande komm’ ich, wo wir erst gelandet sind,/Noch immer trunken von des Gewoges regsamem/Geschaukel, das vom phrygischen Blachgefild uns her/Auf sträubig-hohem Rücken, durch Poseidons Gunst/Und Euros’ Kraft, in vaterländische Buchten trug.» Also sprach Goethes Helena. Weshalb eigentlich hat es in diesen Währungskrisenzeiten keinen europäischen Gipfel gegeben, auf dem man einmal gemeinsam Faust II liest und die Poetik der Ökonomie bedenkt. Zwar ist «Euros’ Kraft» interpretationsbedürftig und nicht identisch mit der Kaufkraft der Währung gleichen Namens. Und die «vaterländischen Buchten» von Hellas dürften wohl in ihrer für Europa einst beispielgebenden mythischen Heimathaltigkeit  neu zu überdenken sein. Aber das wäre ein Ansatz über den Münzenrand wieder anders über Europa nachzudenken.

Was ist dieses Europa – heute? Ein ungeheures Arsenal von Erinnerungen, nebst brach liegenden Potentialen, die darauf warten, aktiviert zu werden. Europa sind Landschaften, die vor uns liegen wie Zeitschichtungen, Endmoränen der Geschichte. Und doch bleiben sie ins Globale verwandelbar. Gleichzeitig ist Europa ein Experiment mit offenem Ergebnis. Die Europäische Union stellt sich noch immer als ein Wagnis dar, das Wagemut von allen Beteiligten verlangt. Die Gründungsdokumente dieser Union wussten davon, als sie dieses einzigartige Integrationsprojekt als einen Prozess einer immer weiter wachsenden wechselseitigen Nähe definierte, als nie wirklich abschliessbares Projekt. Zu beschreiben, was das bedeutet, wäre eine weitaus lohnendere, würdigere Aufgabe für Intellektuelle als einfältige EU-Institutionen-und Beamtenschelte. 

Dieser Text von Literaturwissenschafter Rüdiger Görner (University of London) ist eine Replik auf den Essay «Europa kommt sich abhanden» von Frank Schäffler und Norbert F. Tofall in unserer Februar-Ausgabe

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