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«‹Queers for Palestine› ist die ultimative Absurdität»
Steven Pinker, fotografiert von Selina Seiler.

«‹Queers for Palestine› ist die ultimative Absurdität»

Gerade jene, die sich für besonders tolerant halten, tappen in die Falle der Intoleranz, sagt der Psychologe Steven Pinker. Die Woke-Bewegung sei ein Rückfall in den Tribalismus.

Read the English version here.

Herr Pinker, progressive Studenten scheinen die Toleranz zu lieben, sie fordern Inklusivität und Vielfalt ein. Die gleichen Zirkel setzen jedoch Cancel Culture durch und unterdrücken missliebige Meinungen. Wie erklären Sie dieses Paradoxon?

Wir sind in einer Situation, in der jeder tolerant gegenüber Menschen in seinem eigenen sozialen Umfeld ist – und das ist das Problem. Es ist einfach, Menschen zu tolerieren, die so sind wie man selbst, Menschen aus der eigenen Kultur oder Subkultur. Diese Menschen sollten den rationalen Gedankensprung machen, dass – auch wenn es für sie keinen Sinn ergibt und sie es für falsch halten – andere Menschen immer noch das Recht haben, frei zu leben und ihre Meinung frei zu äussern.

 

Wie sehen Sie die Universitäten heutzutage, vor allem im Hinblick auf das Thema «Woke»?

Die Dinge stehen nicht so gut, und ich spreche als Mitarbeiter der Harvard-Universität, der vielleicht berühmtesten Universität weltweit. Harvard wurde erst kürzlich von der Foundation for Individual Rights and Expression (FIRE) auf den letzten Platz unter 248 US-Universitäten gesetzt. FIRE bewertet die Universitäten nach ihrer Einstellung zu den Studenten und danach, ob die Studenten es für in Ordnung halten, Gewalt anzuwenden, um einen ihrer Meinung nach gefährlichen Redner zum Schweigen zu bringen. Ausserdem wird analysiert, ob der Campus intellektuelle Unterdrückung betreibt, indem kontroverse Redner ausgeladen oder Personen aus Kursen mit kontroversen Inhalten entfernt werden. Harvard erhielt eine Punktzahl von 0.

 

Was für ein schreckliches Ergebnis.

Ich gehöre zu einer Gruppe von Harvard-Professoren, die sich dagegen wehren. Wir haben einen neuen Rat für akademische Freiheit gegründet, der sich aktiv für die Unterstützung von Personen einsetzen wird, die gecancelt wurden, und für die Anwendung von Richtlinien, welche die Universität bereits für akademische Freiheit hat, die aber alle vergessen zu haben scheinen.

 

Wie gehen Sie vor?

Zunächst einmal möchten wir, dass die Universität die sogenannten Kalven-Prinzipien übernimmt. Diese Grundsätze besagen, dass eine Universität keine öffentlichen Erklärungen zu Kontroversen und aktuellen Themen abgeben sollte. Das heisst, wenn es einen Mord, einen Krieg oder eine Schiesserei gibt, sollten die Universitäten keine offizielle Stellungnahme abgeben. Harvard hat, neben vielen anderen Universitäten, eine lange Geschichte der Veröffentlichung von solchen Erklärungen. Im Fall von George Floyd, einem Afroamerikaner, der in Minneapolis von einem weissen Polizisten getötet wurde, gaben alle Universitäten eine Erklärung ab, wie schrecklich das war. Als dann aber 1400 Juden von der Hamas massakriert wurden, schwiegen die Universitäten. Im Fall von Harvard gab die Präsidentin eine Erklärung ab, in der sie die 1400 Juden nicht wirklich erwähnte, sondern nur sagte, dass sie gegen Gewalt auf beiden Seiten sei. Sie wurde heftig kritisiert, gab eine zweite Erklärung ab, für die sie ebenfalls kritisiert wurde. Daraufhin gab sie eine dritte Erklärung ab. Wir im Rat sind der Meinung, dass sich die Präsidenten aus Schwierigkeiten heraushalten und die akademische Freiheit und Toleranz fördern könnten, wenn die Universität das Forum für Diskussionen, Debatten und Überlegungen wäre, aber nicht selbst Partei für diese oder jene Seite ergreifen würde.

 

Ist es neu, dass plötzlich jeder von jedem anderen erwartet, zu so vielen Dingen eine moralische Stellungnahme abzugeben?

Dieser Trend begann in der Zeit des Vietnamkriegs. Die Kalven-Prinzipien wurden 1967 von der Universität Chicago entwickelt. Es war also schon damals ein Thema, und das war vor 55 Jahren. Doch dieser Trend hat sich verstärkt.

 

Um allgemeiner über Toleranz zu sprechen: Ist sie in der Natur des Menschen angelegt oder eine menschliche Errungenschaft?

Toleranz ist eine menschliche Errungenschaft. Die natürliche Reaktion ist, Menschen, die anderer Meinung sind, als gefährlich und dumm zu betrachten und zu glauben, dass sie zum Wohle der Allgemeinheit unterdrückt werden sollten. Der Gedanke, dass jemand, auch wenn er anderer Meinung ist als ich, das Recht hat, seine Meinung zu äussern, ist eine Errungenschaft der Aufklärung und der wissenschaftlichen Revolution. Es gibt natürlich Vorläufer in der griechischen Antike, aber es ist kein natürliches Prinzip. Toleranz ist ein ständiger Kraftakt, so wie Sisyphus den Stein immer wieder den Berg hinaufschieben muss.

«Die natürliche Reaktion ist, Menschen, die anderer Meinung sind, als

gefährlich und dumm zu betrachten und zu glauben, dass sie zum Wohle der Allgemeinheit unterdrückt werden sollten.»

 

2018 bezeichneten Sie die Identitätspolitik als Feind der Vernunft und aufklärerischer Werte. Warum?

Experimente zeigen, dass politische Identität die Urteilsfähigkeit beeinträchtigt. Wenn man zum Beispiel Menschen in den USA sagt, dass ein bestimmter Vorschlag, etwa zur Gesundheitspolitik, von der Demokratischen Partei stamme, dann werden die Menschen auf der linken Seite sagen, dass dies eine grossartige Politik sei, eine grossartige Möglichkeit, Geld zu sparen und die Menschen gesünder zu machen. Menschen auf der rechten Seite hingegen sagen, dass es eine schreckliche Politik sei, eine Geldverschwendung, und dass die Menschen dadurch kränker würden. Legt man dann anderen Menschen dieselbe Politik vor und macht die Republikanische Partei zum Absender, so verändern sich die Reaktionen je nach politischer Identität; plötzlich lehnen Demokraten den Vorschlag ab, und Republikaner befürworten ihn. Selbst mathematisch versierte Menschen begehen grundlegende statistische Fehler, wenn es um Studien geht, von denen sie glauben, dass sie ihre Sache unterstützen.

«Experimente zeigen, dass politische Identität die Urteilsfähigkeit beeinträchtigt.»

 

Wir haben als Gesellschaft dank der Werte der Aufklärung immense Fortschritte in Bezug auf individuelle Freiheiten und Lebensbedingungen erzielt. Aber es scheint, dass die Linke diesen immensen Fortschritt der letzten 200 Jahre nicht richtig anerkennt. Warum eigentlich nicht?

Wie ich zu sagen pflege: Progressive hassen den Fortschritt. Ich sollte hinzufügen, dass es eine Strömung des reaktionären Konservatismus gibt, die den Fortschritt ebenfalls hasst, es sind also nicht nur die Linken.

 

Würden Sie sich selbst als progressiv oder liberal bezeichnen?

Die Worte sind so zweideutig, aber die Antwort ist ja und ja, in der technischen Bedeutung der Worte «liberal» und «progressiv». Ich glaube an den Liberalismus im Sinne der individuellen Freiheit, dass Staaten und Regierungen soziale Verträge sind, die dazu da sind, die Interessen von Individuen zu schützen. Ich glaube, dass es universelle Menschenrechte gibt, dass sowohl die Freiheit als auch die Redefreiheit ein Grundrecht sind. All dies kann als liberal bezeichnet werden. Ich bin fortschrittlich in dem Sinne, dass ich glaube, dass Fortschritt möglich ist. Wir sollten die Gesellschaft verbessern, die Welt verbessern, nach Fehlern und Problemen suchen und sie beheben. Andererseits haben die Worte «liberal» und «fortschrittlich» heute eine Bedeutung, die nicht nur «für die Freiheit oder den Fortschritt» steht. «Liberal» hat in den Vereinigten Staaten und in Europa unterschiedliche Bedeutungen. Was in Europa oft als «liberal» bezeichnet wird, könnte in den USA als «libertär» bezeichnet werden, also eine Position, welche die Regulierung am Arbeitsplatz und die Besteuerung auf ein Minimum beschränken will und für bürgerliche Freiheiten, Redefreiheit und Versammlungsfreiheit einsteht. In den Vereinigten Staaten bedeutet «Liberalismus» hingegen oft «links». Ebenso ist der Progressivismus, insbesondere in den USA, noch mehr als der Begriff «liberal» eher eine linke Position.

 

Die Aufklärung bietet eine säkulare Moral. Dennoch scheint die Abwesenheit von Religion in unserer westlichen Welt dazu zu führen, dass sich viele Menschen verloren fühlen und auf der Suche nach Spiritualität sind. Kann eine säkulare Weltanschauung Spiritualität bieten?

Wenn es sich dabei um Spiritualität im Sinne des Glaubens an übernatürliche Wesen, Geister, Gespenster, Heilige, Götter, Himmel und Hölle handelt: Das ist Religion. Auf diese Art von Spiritualität können wir verzichten. Wenn Spiritualität aber ein Gefühl der Ehrfurcht, des Staunens, der Wertschätzung des Mysteriums und der Ruhe bedeutet, die man durch Kunstwerke oder Kontemplation, durch Meditation erlangt, dann wäre das eine wertvolle Sache. Es wäre gut, wenn wir Kunstformen und freiwillige Vereinigungen fördern würden, die es den Menschen ermöglichen, solche Dinge zu schätzen. Eines der gesunden Dinge, die Religion liefert, ist die Gemeinschaft: Zeiten und Orte, an denen Menschen mit ihren Kindern zusammenkommen, Freundschaften schliessen und Kontakte knüpfen. Kirchen und Synagogen hatten diese Funktion, und da die Menschen dies immer mehr aufgeben, weil sie mit dem Gotteskram nicht zurechtkommen, verlieren sie auch die Gemeinschaft.

 

 

Um auf den Fortschritt zurückzukommen: Der menschliche Erfindungsreichtum ist die ultimative Ressource. Wenn wir also genug davon haben, können wir jedes grössere Problem der Menschheit lösen. Wird uns künstliche Intelligenz dabei helfen?

 

Seit den 1950er-Jahren haben Computer Aufgaben übernommen, mit denen der menschliche Verstand Schwierigkeiten hat, zum Beispiel das Nachschlagen von Informationen, das Ausführen von Berechnungen usw. KI ist eine Fortsetzung dieses Prozesses. Es gibt viele Dinge, die der menschliche Verstand nicht sehr gut kann, zum Beispiel die Integration von Informationen aus mehreren Quellen, um eine Entscheidung zu treffen. Ich denke, dass KI ein enormes Potenzial hat, um die menschliche Entscheidungsfindung zu verbessern. Kein Mensch kann alle Zeitungen zu einem bestimmten Thema lesen oder die gesamte wissenschaftliche Literatur verarbeiten. Und es gibt viele Jobs, die gefährlich oder langweilig sind. Wenn wir Roboter hätten, die den Menschen in diesen Bereichen ersetzen würden, wäre das ein Gewinn für die Menschheit.

Steven Pinker, fotografiert von Selina Seiler.

Haben Sie ChatGPT als Hilfsmittel für Ihre Arbeit ausprobiert?

Oh, alle haben ChatGPT ausprobiert, ich auch. Das Problem ist, dass es Dinge frei erfindet. Wenn ChatGPT mir ein Ergebnis liefert, ist es vielleicht wahr, vielleicht auch nicht.

 

Gibt es Unterschiede zwischen künstlicher und natürlicher menschlicher Intelligenz?

ChatGPT und andere grosse Sprachmodelle absorbieren statistische Muster aus riesigen Textmengen. Ich habe argumentiert, dass es eine menschliche Fähigkeit gibt, der sich ChatGPT annähert, die es aber nicht genau trifft. Wir haben Ideen, Aussagen, Vorschläge; wir wissen, dass es Menschen gibt, dass es Orte, Dinge, Handlungen und Zeiten gibt. ChatGPT hat das nicht, ob Sie es glauben oder nicht. Es hat nur Assoziationen. Dinge, die zusammen vorkommen, werden reproduziert – unabhängig davon, ob sie tatsächlich stattgefunden haben oder nicht. Deshalb sind die grossen Sprachmodelle so anfällig für das, was man «Halluzinationen» nennt. Sie vermischen Dinge, die im selben Text oft zusammen vorkommen, aber nicht unbedingt mit einer bestimmten Tatsache übereinstimmen.

 

Yuval Noah Harari bezeichnet Geld als den Gipfel menschlicher Toleranz, da es nicht nach Religion, Geschlecht, Rasse, Alter oder sexueller Orientierung frage.

Das ist eine Idee aus der Zeit der Aufklärung, in der viele Philosophen den Handel lobten. Zum einen wandten sie sich gegen die königlichen Monopole und Chartas der damaligen Zeit. Sie verbreiteten auch die Idee, die manchmal als doux commerce, als sanfter Handel, bezeichnet wird. Sie besagt, dass der Handel eine friedensstiftende Kraft sei, weil es für Länder, die Handel treiben, einfacher sei, Dinge zu kaufen als sie zu stehlen. Krieg ist teuer, Menschen werden getötet. Warum sollte man eine Invasion wagen, wenn man einfach nur etwas kaufen kann? Man tötet seine Kunden nicht. Immanuel Kant, Adam Smith und viele Philosophen der Aufklärung haben dies gepriesen.

«Warum sollte man eine Invasion wagen, wenn man einfach nur etwas kaufen kann? Man tötet seine Kunden nicht.»

 

Handel verhindert also Krieg.

Voltaire schrieb darüber, wie man in eine Bank geht, und dort findet man den Juden neben dem Araber neben dem Protestanten neben dem Katholiken – und was kümmert sie das? Sie treiben Handel. Wie viele Götter sie haben, ist unerheblich. Es gibt auch Hinweise darauf, dass Länder, die mehr Handel treiben, seltener in den Krieg ziehen. Das hängt natürlich davon ab, dass sie dem Wohlstand Vorrang vor anderen Werten wie Grossartigkeit, Erhabenheit, nationalem Ruhm oder der Heiligen Schrift einräumen.

 

In diesen Tagen schreien viele Menschen auf den Strassen Europas «Allahu akbar». Sie wollen die Scharia über die Ideale der Aufklärung stellen.

Ich denke nicht, dass es gegen das Gesetz verstossen sollte, «Allahu akbar» zu sagen. Und ich denke nicht, dass die Scharia eingeführt werden sollte. Aber ich sehe nicht, dass die Gefahr besteht, dass dies in irgendeinem europäischen Land geschieht. Aber wenn es in einer lokalen Region vorgeschlagen wird, sollte es sehr starke Argumente dagegen geben. Wenn zu Gewalt aufgerufen wird, wenn es heisst: «Tötet die Juden!», dann könnte das illegal sein, genau wie eine Drohung; das ist eine bekannte Ausnahme von der Redefreiheit.

 

Was halten Sie von Gruppen wie «Queers for Palestine», die den Staat Israel und alles, was er in Gaza tut, ablehnen? Wie soll man deren Unterstützung für eine terroristische Gruppe, die Homosexuelle unterdrückt, verstehen?

«Queers for Palestine» ist zu Recht verspottet worden. Es ist die ultimative Absurdität, denn eine queere Person würde in Palästina nicht lange überleben. Es unterstreicht den Irrsinn eines Grossteils der kritischen, sozial gerechten und intersektionalen Woke-Bewegung. Die Haltung ist intellektuell inkohärent, eine Art Tribalismus, bei dem die Stämme durch Opfergruppen und Unterdrückergruppen definiert werden. Diese Ideologie, die viele akademische Kreise infiltriert hat, ist verantwortlich für eine Reihe der monströsen Entwicklungen, die wir jüngst erlebt haben. «Queers for Palestine» ist wohl die idiotischste.

 

Sie sind bei all diesen Themen sehr deutlich, aber andere, die dieselben Werte der Aufklärung teilen, stossen auf mehr Widerstand, etwa Jordan Peterson. Warum ist das so?

Ich wähle meine Kontroversen aus und stürze mich nicht einfach auf jede Kontroverse, zu der mich jemand einlädt. Ich re­spektiere etwa den Widerstand von Jordan Peterson gegen einige der Auswüchse der politischen Korrektheit und auch seine Vorliebe für Jung und Nietzsche. Doch er ist kein aufklärerischer Humanist, und er nimmt sich auch unnötiger Dinge an. Er hat sich beispielsweise darüber aufgeregt, dass «Sports Illustrated» eine dicke Frau in einem Badeanzug zeigt. Warum sollte man sich darüber aufregen? Es ist ein geniales Marketingkonzept von «Sports Illustrated», weil dann jeder darüber spricht.

 

Unsere intellektuelle Kultur hat sich etwas verändert, weil viele Menschen Podcasts hören und nicht mehr so viel lesen. Hören Sie sich Podcasts an?

Die Kultur ist in der Tat viel audiovisueller geworden. Es gibt eine explosionsartige Zunahme von Podcasts, und ich erhalte viel mehr Einladungen, in ihnen aufzutreten, als ich annehmen kann. Ich höre mir nur selten Podcasts an, denn wenn sie nicht transkribiert sind, ist das keine sehr effiziente Zeitnutzung, da Sprechen langsamer ist als Lesen. Ich bin ganz klar für das Lesen.

 

Welche neuen Intellektuellen in der Welt verfolgen Sie?

Es gibt viele brillante junge Leute, die in neuen Magazinen wie «Persuasion», einer von Yascha Mounk gegründeten Zeitschrift, mitwirken. Auch in der Zeitschrift «Quillette» erscheinen viele neue Autoren. Ich habe festgestellt, dass eine Reihe von Promovierten beschlossen haben, nicht in die akademische Welt zu gehen, weil sie dort nicht sagen können, was sie wollen. Also gründen sie Substacks, Blogs, Podcasts oder versuchen, auf andere Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

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