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Putins Angst

Will der Präsident Russlands durch die Annexion der Ukraine das grossrussische Reich wiederherstellen? Oder fühlt sich Vladimir Putin vielmehr vom Westen bedroht? Der Ukrainekonflikt kennt ein Vorbild:den Kaukasuskrieg in Georgien. Ein Schweizer Standpunkt.

In der Berichterstattung über den Ukrainekonflikt in den Schweizer Medien trifft der interessierte Zeitgenosse gegenwärtig auf starke Worte: Freund und Feind, Gut und Böse, Demokratie und Diktatur lassen sich, wie es scheint, klar zuordnen. Ein Staatschef fällt in einer renommierten Tageszeitung sogar unter den Begriff «komplett durchgeknallt». Ein Redaktor, der wohl nie irgendeine militärische Verantwortung getragen hat, verlangt eine deutliche Aufrüstung der Nato. Diese Forderung ertönt in einem Land, das praktisch gleichzeitig einen massiven zahlenmässigen Rückgang seiner eigenen Armee beschliesst und dessen Diplomatie im selben Umfeld eine wichtige vermittelnde Rolle spielt.

«Ja, was ist denn eigentlich vorgefallen? Nichts ist vorgefallen. Man hat sich einfach gehen lassen… Entschuldigung liegt vor. Sie heisst: Überraschung… Die Vernunft verlor die Zügel, Sympathie und Antipathie gingen durch und liefen mit einem davon. Und der nachkeuchende Verstand mit seiner schwachen Stimme vermochte das Gefährt nicht aufzuhalten… Da täte verstärkter
Geschichtsunterricht gut.»

Die obigen Worte Carl Spittelers in seiner vor hundert Jahren am 14. Dezember 1914 gehaltenen Rede «Unser Schweizer Standpunkt» sind für ein neutrales Land von zeitloser Eleganz und Gültigkeit. Er fährt fort: «Eine kriegerische Presse ist überhaupt keine erhebende Literatur… Es hört sich nicht schön an, wenn irgendein Winkelblättchen aus der Sicherheit unserer Unverletzlichkeit heraus einen europäischen Grossstaat im Wirtshausstil anpöbelt, als handle es sich um eine idyllische Stadtratswahl.»

 

Von der Nato-Osterweiterung…

Worum geht es denn bei den Spannungen, in deren Mittelpunkt die Ukraine steht? Die Ursachen liegen im Auseinanderfallen der damaligen Sowjetunion und in der Reaktion des Westens auf diese historischen Umwälzungen. Wenden wir uns dieser
Fragestellung en détail zu.

Die UdSSR scheiterte an ihren inneren Widersprüchen, an überdehnten und mit Repression aufrechterhaltenen Machtansprüchen gegen innen sowie an einem untauglichen kollektivistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Das Verdienst des Westens und der Nato bestand darin, diesem System mittels eines politischen und militärischen «Containments» Schranken gegen aussen zu setzen, ohne dass dadurch verheerende gewaltsame Auseinandersetzungen heraufbeschworen wurden. Die Nato führte ihre Strategie nach der Implosion der Sowjetunion fort – und genau hier beginnen die Probleme.

Wie der französische Staatstheoretiker Montesquieu blendend dargelegt hat, bildet die Geographie den bestimmenden Faktor der Geschichte eines Landes. In diesem Sinne verfügt Russland – im Gegensatz zu den USA und Grossbritannien – kaum über natürliche geographische Grenzen. Einerseits vermochte sich der russische Staat deshalb mit über 17 Millionen Quadratkilometern zur mit Abstand grössten Landmacht zu entwickeln, was innerhalb der eigenen Staatsgrenzen häufig mit Gewalt einherging.
Anderseits fühlt er sich mit dieser enormen Ausdehnung permanent latent bedroht. Dies jedenfalls aus geschichtlicher Sicht nicht zu Unrecht, denn während Russland jeweils nicht als erstes militärisch in Richtung Westen vorstiess, wurde es von Napoleon, dann im Ersten Weltkrieg von Deutschland, hierauf im Zuge seiner inneren Schwäche während seines Bürgerkrieges vom übermütigen Polen und schliesslich nochmals durch Deutschland im Zweiten Weltkrieg angegriffen.

Zusätzlich zu diesen vierfachen Einfällen aus dem Westen, die allein im Zweiten Weltkrieg mehr als 20 Millionen Russen das Leben kosteten, glauben die Vertreter des russischen Staats fast notorisch, sich aufgrund innerer Unwägbarkeiten auch ständig dem Risiko von Einmischungen von aussen ausgesetzt zu sehen. Die bitterste Erfahrung lag wohl im Scheitern der ersten bürgerlichen Revolution im Zarenreich, weil das von den Bolschewiken hierauf errichtete System zumindest in seinen Anfängen mit namhafter finanzieller und logistischer Hilfe des damaligen Deutschen Reiches zustande kam. Dieses wollte damit den Widerstand Russlands im Ersten Weltkrieg brechen, das auf der Seite der Alliierten kämpfte. Das eigentlich subversive Kalkül Berlins ging zwar kurzfristig auf, entfaltete jedoch verheerende langfristige Wirkungen, die erst mit der Perestroika («Umgestaltung») ab 1986 überwunden wurden.

Vor dem Hintergrund dieser historischen Erfahrung Moskaus erscheinen die Modalitäten des Auseinanderfallens der Sowjetunion als höchst bemerkenswert: Ganz im Gegensatz zum Ende der britischen und französischen Kolonialreiche erfolgte dies praktisch ohne Blutvergiessen und in kürzester Zeit. Moskau verknüpfte deshalb seine duldende Haltung mit der Erwartung, dass die von ihm aufgegebenen Räume – die späteren Unionsrepubliken1 – ausserhalb der westlichen Bündnisse blieben.

Die nun frei gewordenen osteuropäischen Staaten und deren Bürger verfolgten allerdings andere Ziele. Es ging ihnen um ein zweistufiges Verfahren mit einem Beitritt zur Nato, gefolgt von der Mitgliedschaft in der EU. Daran schloss sich auch Südosteuropa – der Balkan – an, dessen Westintegration – wenn auch mit erheblichen Nuancen – mittlerweile ebenfalls weit fortgeschritten ist. Die Nato rückte daher in Europa um rund einen Drittel ihrer bisherigen strategischen Tiefe in Richtung Osten vor und grenzt damit im Baltikum direkt an Russland. Moskau behielt lediglich Transnistrien als eine Art Pfand gegen einen potentiellen Nato-Beitritt von Moldawien in seiner Einflusssphäre. Insgesamt handelte es sich um einen gewaltigen Triumph des Westens.

 

…über Georgien…

Staatsmännisches Verhalten zeichnet sich durch Mässigung im Triumph aus. Jedenfalls hätte aus sicherheitspolitischer und geostrategischer Perspektive kein Grund bestanden, eine weitere Ausdehnung vorzunehmen. Ungeachtet dessen griff der Ostdrang der Nato über Europa hinaus und erfasste das in Vorderasien liegende Georgien. Dieses traditionell multiethnische Land mit 23 Sprachen aus sechs verschiedenen Sprachfamilien zeichnet sich am Südabhang des Kaukasus in der nordöstlichen Ecke des Schwarzen Meeres durch seine sensible geostrategische Lage aus. Daher geriet es im Verlaufe seiner wechselvollen Geschichte unter römischen, persischen, byzantinischen, arabischen und osmanischen Einfluss. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts schloss es als christliches Land mit Russland einen Schutzvertrag ab. Nach der Oktoberrevolution erklärte sich Georgien 1918 als unabhängig. Schon drei Jahre später wurde es von der Roten Armee besetzt und in die Sowjetunion eingegliedert. Deren neuer Machthaber Stalin, selbst von georgischer Abstammung, nahm im Vielvölkerstaat der UdSSR zahlreiche neue interne Grenzziehungen vor, welche darauf abzielten, Minoritäten aufzusplittern und gegen­einander auszuspielen, um zu verhindern, dass sie gemeinsam gegen Moskau aufbegehren konnten.

Darin liegt einer der Gründe, weshalb nach der erneuten Unabhängigkeitserklärung Georgiens im April 1991 in zwei Teilgebieten des Landes – in Abchasien und Südossetien – sogleich Sezessionskriege ausbrachen, die Tiflis nicht mehr unter Kontrolle brachte. Der selbst mit einem Putsch an die Macht gelangte frühere sowjetische Aussenminister Eduard Schewardnadse wurde schliesslich von der zivilgesellschaftlich mitgetragenen «Rosenrevolution» weggefegt, die durch äussere westliche Kräfte unterstützt wurde. Hierauf gelangte der junge Micheil Saakaschwili ins georgische Präsidentenamt. Er begann eine prowestliche Politik mit dem explizit formulierten Ziel eines Nato-Beitritts, was für Russland unzweifelhaft eine grosse Provokation bedeutete. Man stelle sich vor, wie die USA reagiert hätten, wenn Kuba im Kalten Krieg die Absicht bekundet hätte, dem Warschauer Pakt beizutreten!

Nach einigen Jahren Machtausübung geriet Saakaschwili selbst unter innenpolitischen Druck und wollte die de facto unabhängigen, de jure aber dem georgischen Staatsgebiet angehörenden Regionen Abchasien und Südossetien mit Waffengewalt zurückgewinnen, auch um sich fit für einen Nato-Beitritt zu machen. Russland war offensichtlich überrascht, zumal das State Department in Washington explizit vor solch einem Husarenritt gewarnt hatte. Als Ironie der Geschichte hätte dies die Wiederherstellung der von Stalin angeordneten Gebietsaufteilungen zur Folge gehabt. Moskau reagierte dann umso entschiedener und schlug den Angriff zurück. Schliesslich schuf es – nach dem Modell Kosovo – zwei formell eigenstaatliche Einheiten auf georgischem Territorium, die jedoch allein nicht überlebensfähig sind und von der internationalen Staatengemeinschaft auch nicht als eigene Staaten anerkannt werden.

In dieser gespannten Situation verhielt sich die Schweiz ganz im Sinne von Carl Spitteler, «… für uns als Neutrale das einzig Richtige (zu tun), nach allen Seiten hin die nämliche Distanz zu halten». Damit gewann unser Land Vertrauen und Respekt und erhielt nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden höchst unterschiedlichen Staaten ein Doppelmandat zur Vertretung der georgischen Interessen in Moskau und der russischen Interessen in Tiflis.

 

 …die Ukraine und Krim…

Nach der historisch einmaligen, kampflosen Verschiebung der Nato-Grenzen nach Osten bedeuteten die Geschehnisse in
Georgien aus Moskauer Sicht das Überschreiten einer «roten Linie». Die gegenwärtigen Wirren um die Ukraine lassen sich nur vor diesem Hintergrund verstehen. Da Russland bekanntlich zu zwei Dritteln in Asien liegt, bildet die Ukraine das flächenmässig grösste Land Europas, dessen Geographie – immer nach Montesquieu – auch seine Geschicke bestimmt. Allein schon die traditionelle Bedeutung seines Namens ist höchst aussagekräftig: Das altostslawische Wort ukraina bedeutet «Grenzgebiet, Militärgrenze» und entspricht dem westlichen Begriff Mark. Gleichzeitig liegt im Kiewer Rus – einem mittelalterlichen Grossreich mit Zentrum in Kiew – der historische Ursprung der heutigen drei slawischen Staaten Weissrussland, Russland und Ukraine.

Mit dem auf die Mongoleninvasion folgenden Ende des Kiewer Rus entstand die bis heute in wechselnder Konstellation anhaltende polnisch-russische Rivalität um die Ukraine. Östlich davon entwickelte sich das Grossfürstentum Moskau, das sich nach den Mongolenstürmen zuerst gegen Osten behaupten musste, bis es sich im 18. Jahrhundert schrittweise bis zur Krim ausdehnen konnte. Deshalb stand die mittelalterliche Ukraine vor allem aus Westen unter Druck. Sie geriet unter die Herrschaft der katholischen polnischen Krone und war rechtlichen Diskriminierungen, wirtschaftlicher Ausbeutung und religiöser Benachteiligung seiner orthodoxen Bevölkerung ausgesetzt. Kiew wandte sich daher hilfesuchend an Moskau und unterzeichnete mit diesem 1654 den Schutzvertrag von Perejaslaw.

Wie schon erwähnt, nützte Polen die Schwäche Russlands nach der Oktoberrevolution aus, um bis Mitte 1919 weite Teile der Ukraine zu besetzen. Schliesslich setzte sich aber im Zuge des höchst wechselvollen und blutigen russischen Bürgerkrieges mehrheitlich die Rote Armee auf dem ukrainischen Territorium durch. Der Ukraine gelang es nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 nicht, mit der erneut gewonnenen Unabhängigkeit erfolgreich umzugehen und sich ein innen- und aussenpolitisch eigenständig solides Fundament zu bauen. Vielmehr entstand eine Serie sich praktisch fugenlos ablösender Krisen, deren Höhepunkt die Umwälzungen nach der Besetzung des Maidan-Platzes Ende 2013 bildeten.

In diesem Sinne haben weder Russland auf der einen noch EU und Nato auf der anderen Seite die jetzigen Spannungen gesucht. Die entscheidende Ursache liegt in der Ukraine selbst. Im Gefolge der dortigen Krisenspirale schaukelten sich beide externen Seiten hoch: Der EU/Nato-Ostdrang schien ungebrochen. Russland hingegen wähnte sich mit dem Rücken zur Wand, da die erklärte Absicht der Ukraine, ihre Stellung als bündnisfreier Staat aufzugeben, der Nato beizutreten und die russische Position auf der Krim massiv zu schwächen, in Moskau Alarm auslöste. Die Eskalation begann als erstes auf der Krim, die an sich über keinen historischen Zusammenhang mit der Ukraine verfügt. Vielmehr hatte der Ukrainer Nikita Chruschtschow 1954 die Krim der Ukraine «geschenkt» – kurz nachdem er sowjetischer Parteichef geworden war und zugleich höchst symbolisch am 300. Jahrestag des oben erwähnten Schutzvertrages von Perejaslaw. Daraus ergaben sich damals keinerlei relevante aussenpolitische Folgen, weil sich dies innerhalb der UdSSR abspielte. Mit dem drohenden Nato-Beitritt des «Beschenkten» entstand jedoch eine völlig neue Lage.

Während das Völkerrecht als statische Grösse zwar Antworten auf die Frage nach der Ablösung von Gebieten gibt, lassen sich aus dem internationalen Recht keine überzeugenden Regeln ableiten, wie mit konkurrierenden Ansprüchen auf geostrategisch höchst sensible Gebiete umzugehen wäre. Russland arbeitet daher mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln – rein bildlich gesprochen – an einer Art Rückgabe des Geschenkes an den sich übertölpelt geglaubten ursprünglichen Eigentümer.

Die EU und die Nato antworteten mit wirtschaftlichen und personellen Sanktionen gegen Russland. Hingegen waren jedoch aus russischer Sicht keinerlei schlüssige Signale zu erkennen, dass der ausgreifende Drang nach Osten sich dadurch beruhigt hätte. Gewissermassen als Korrelat dazu setzte hierauf der über die russisch sprechende Bevölkerung in der Ostukraine laufende Druck auf Kiew ein, der schliesslich in militärische Auseinandersetzungen mündete, die bloss zeitweise durch Waffenstillstände unterbrochen wurden. Dies wiederum löste weitere, graduelle und stetig anwachsende Sanktionen gegen Moskau aus, die ihrerseits mit derselben Logik Gegenmassnahmen provozierten.

 

…bis hin zu einer diplomatischen Lösung?

An sich stellen Sanktionen eine Ressourcenverschleuderung dar. Sie fügen der stark auf Rohstoffe ausgerichteten russischen Wirtschaft einen sich immer stärker bemerkbaren Schaden zu – allerdings ohne die Gewissheit, dass damit das von EU und Nato angestrebte Ziel erreicht würde. Angesichts der ökonomischen Verflechtung Russlands mit der EU leiden deren Mitglieder ebenfalls – wenn auch in unterschiedlichem Masse. Der heiklen Kollateralwirkungen auf nicht direkt betroffene Drittstaaten ist sich auch die Schweiz bewusst. Deshalb wäre ein echter Dialog notwendig, wie ihn die Schweizer OSZE-Präsidentschaft anstrebt, der jedoch nicht nur punktuelle Waffenstillstände umfassen sollte, sondern geostrategischer Art wäre. Henry Kissinger etwa empfiehlt die Schaffung bündnisfreier Zwischenräume, wobei die Stärkung der Eigenstaatlichkeit der Ukraine im Vordergrund stehen müsste. Beispiele dafür gäbe es genügend: So war doch Russland am Wiener Kongress von 1815 der eifrigste Befürworter unserer eigenen Neutralität – als eines der Schlüssel des Erfolgsmodells der modernen Schweiz.

Halten wir uns daher an Carl Spitteler: «Vor allem nur ja keine Überlegenheitstöne! Keine Abkanzeleien! Dass wir als Unbeteiligte manches klarer sehen, richtiger beurteilen als die in Kampfleidenschaft Befangenen, versteht sich von selber. Dies ist ein Vorteil der Stellung, nicht ein geistiger Vorzug.»

 


 

1 Armenien, Aserbaidschan, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgisien, Lettland, Litauen, Moldawien, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan, Weissrussland.

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