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Psychotherapie heute: Überwindung der Dogmen


«Psychotherapie heute: Überwindung der Dogmen». Mit diesem Beitrag endet unser Fokus 2007 «Zürich, Stadt der Seelenkunde», der von unserer freien Mitarbeiterin Barbara Handwerker Küchenhoff betreut wurde. Seit der Januarausgabe haben Theoretiker wie auch Praktiker die vielfältigen Entwicklungen vorgestellt, die Sigmund Freuds Psychoanalyse in Zürich von Anfang des vergangenen Jahrhunderts bis heute ausgelöst hat: die Etablierung der «Psychodynamischen Psychiatrie», die Festlegung der Berufsbilder und die Institutionalisierung der Ausbildung sowie die verschiedenen Schulbildungen, zu denen die Analytische Philosophie C.G. Jungs, die Schicksalsanalyse Leopold Szondis und die Daseinsanalyse Ludwig Binswangers und Medard Boss’ gehören. Zürich war der Schauplatz für mit viel Leidenschaft geführte Auseinandersetzungen um das Erbe Freuds, es war der Schauplatz für zahlreiche Abspaltungen und Versöhnungen, Institutsauflösungen und Institutsneugründungen. Hier wurden die Lehren Martin Heideggers wie auch Jacques Lacans für die Psychoanalyse fruchtbar gemacht. Zürich ist der Ort, von dem aus bis heute Forschung, Lehre und psychoanalytische Praxis entscheidend mitbestimmt werden. Dies ganz im Sinne Sigmund Freuds, der einst an seinen Schüler C.G. Jung schrieb: «Ich gedachte, die psychoanalytische Bewegung zu organisieren, ihren Mittelpunkt nach Zürich zu verlegen.»

 

Lange Zeit standen sich beim Verständnis und der Behandlung psychisch leidender Menschen zwei Schulen unversöhnlich gegenüber. Die Störung galt entweder als psychologisch und wurde daher mit Psychoanalyse und Psychotherapie behandelt. Oder sie galt als organisch, weswegen für die Heilung auf Psychopharmaka gesetzt wurde. Inzwischen werden die monokausalen Theorien durch Ansätze abgelöst, die – auf Grundlage der neurobiologischen Forschung – davon ausgehen, dass biologische und psychosoziale Prozesse sich gegenseitig beeinflussen. Dadurch eröffnen sich vielversprechende Perspektiven für Therapien, die die Grenzziehungen der etablierten Schulen aufheben.

In den 100 Jahren ihres Bestehens hat sich die Theorie der Psychoanalyse gewandelt. Klassische triebdynamische Konzeptionen sind durch ich-psychologische und selbstpsychologische Konzepte ergänzt worden. Je mehr sich in der abendländischen Gesellschaft der Individualismus gegenüber gemeinschaftsorientierten Haltungen durchsetzte – auch unter dem Einfluss der Tiefenpsychologie und Psychotherapie –, desto stärker rückte auch in den psychodynamischen Überlegungen das Selbstbild in den Vordergrund, das jeder Mensch von sich hat. Doch auch wenn das individuelle Selbst in der psychoanalytischen Theorie an Bedeutung gewann, wurden die Beziehungen zwischen diesem Selbst und den wichtigen Bezugspersonen (sogenannten «Objekten») nicht bedeutungslos. Im Gegenteil. In neueren «objektbeziehungstheoretischen Ansätzen» erfuhr die zwischenmenschliche Beziehung neue Beachtung. Auch die zuvor eher abgewerteten Affekte erlebten eine Renaissance. Sie stehen heute im Mittelpunkt einer sich als relational definierenden Psychoanalyse und ermöglichen den Brückenschlag zu andern Disziplinen, insbesondere zur Neurobiologie. Die beeindruckende Wissensvermehrung im Bereich der Neurowissenschaften wird inzwischen auch von Vertretern der Psychoanalyse als eine Chance gesehen, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Theoriegebäude voranzutreiben. Dies schlägt sich nicht zuletzt in der Entwicklung der Neuropsychoanalyse nieder. Dieses jüngste Kind der Psychoanalyse setzt sich mit dem erkenntnistheoretischen Spannungsfeld von subjektivem Erleben – aus der Perspektive der ersten Person – und objektivierendem Messen – aus der Perspektive der dritten Person – auseinander.

In anderen Psychotherapieschulen, insbesondere in der kognitiven Verhaltenstherapie und der interpersonellen Psychotherapie, erfolgte ebenfalls eine vielfältige Differenzierung, hier mit dem Ziel, die einzelnen psychiatrischen Krankheitsbilder stärker störungsspezifisch zu behandeln, also für jede Erkrankungsform eine spezifische und auf konkreten Handlungsanweisungen basierte Therapieform anzubieten. Diese Entwicklung führte zum Aufbau störungsspezifischer Ambulanzen und Spezialstationen und wurde nicht zuletzt begleitet von der Gründung verschiedener Fachgesellschaften mit störungsspezifischem Schwerpunkt, wie etwa der «Gesellschaft für generalisierte Angststörung». Angesichts dieser Entwicklung besteht für eine psychiatrische Universitätsklinik die Herausforderung, eine integrierende Funktion im Hinblick auf die Weiterbildung angehender Psychiater und Psychotherapeuten zu übernehmen.

Angesichts der Häufigkeit und Schwere depressiver Erkrankungen stellen Depressionsforschung und -therapie zentrale Aufgaben der modernen Psychiatrie und Psychotherapie dar. Die aktuelle Depressionsforschung hat zur Überwindung früherer, einseitig monokausaler Theorien beigetragen. In den modernen Modellen werden biologische, insbesondere auch neurobiologische Befunde, entwicklungspsychologische und klinische Beobachtungen sowie Erkenntnisse aus der Therapie- und Verlaufsforschung integriert. Die Depression wird als ein psychobiologischer Zustand verstanden, dessen Entstehung und Rückbildung in verschiedenen Stufen abläuft, auf denen es jeweils zu Wechselwirkungen psychosozialer und biologischer ­Prozesse kommt. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Menschen auf eine Konfrontation mit schweren Lebensereignissen nicht in gleicher Weise reagieren. Von besonderer Bedeutung ist die Aktivierung der hormonellen Stressachse, was zu einer erhöhten Ausschüttung des Stresshormons Cortisol führt und ein Zeichen dafür ist, dass ein Mensch einer hilflosmachenden, überfordernden Belastung gegenübersteht.

Auf der Grundlage der Forschungsergebnisse lässt sich von einer gemischten psychosozialen und biologischen Verletzlichkeit ausgehen. Wenn ein Mensch sich an psychosoziale und somatische Belastungen und Traumata anpasst, dann kann das unter Umständen «Narben» hinterlassen und biologische Veränderungen auslösen, die der Depression für eine lange Zeit vorausgehen. Diese Narben können die Weiterentwicklung der Persönlichkeit beeinflussen und später zu einer erschwerten Verarbeitung belastender Lebensereignisse beitragen. Es ist wahrscheinlich, dass Belastungen, wie Partner-, Arbeits- oder Rollenverlust, Reaktionsmuster auslösen, die kurzfristig auch bei gesunden Personen ein «Deprimiertsein» auslösen, bei verwundbaren Menschen jedoch eine dysfunktionelle Entwicklung zu nehmen und zu einer Depression zu führen vermögen. In den meisten Fällen – selbst wenn eine Depression durch eine körperliche Erkrankung ausgelöst wird – wird das Selbstkonzept der betroffenen Menschen unmittelbar in Frage gestellt und unter Umständen erschüttert. Das depressive Geschehen ist weder ausschliesslich biologischer noch ausschliesslich psychologischer Art. Biologische und psychosoziale Veränderungen verschränken sich in ungünstiger Weise zu einem zirkulären Krankheitsprozess.

In dieser Sichtweise lassen sich Depressionen als psychosomatische Störungen der Emotionsregulation auffassen. Das Modell der Psychosomatose* zielt auf das Verständnis von Erkrankungen, bei denen biologische Faktoren, die für eine Erkrankung empfänglich machen, nicht nur schon von Geburt an vorhanden sind, sondern sich auch später durch biographische Erfahrungen weiterentwickeln. In dieser Perspektive kann eine konstitutionelle, relativ geringfügige Störung unter den Bedingungen eines bestimmten Milieus und einer bestimmten psychosozialen Konstellation (wie etwa gestörten Beziehungen zu den primären Bezugspersonen) zur Entwicklung einer psychischen Struktur beitragen, die mit intrapsychischen Konflikten einhergeht und in einem längeren Prozess zu nunmehr sekundären Veränderungen und Funktionsstörungen führt. Psychische und somatische Faktoren stehen in einem Wirkungszusammenhang, durch den subjektiv Erfahrenes das neurobiologische Substrat verändert und anderseits die somatische Disposition im Verlauf der Entwicklung eine seelische und soziale Bedeutung erlangen kann.

Durch die Verknüpfung biologischer und seelischer Faktoren ergeben sich im weiteren Verlauf schliesslich Möglichkeiten, körperliche Funktionen durch psychotherapeutische Interventionen zu beeinflussen und das psychische Befinden durch biologische Interventionen zu verbessern. Inzwischen ist nachgewiesen, dass Psychotherapie bei Depressionen körperliche Funktionen positiv verändert, wie etwa den Schilddrüsenhormon-Spiegel, die Schlafarchitektur oder die Neurochemie des für die Übertragung von Nervenimpulsen wichtigen Botenstoffes Serotonin.*

Verschiedene Psychotherapieverfahren, wie die kognitive Verhaltenstherapie, die interpersonelle Psychotherapie und die psychoanalytisch orientierte Psychotherapie, können bei leichten und mittelschweren Depressionen die gleiche Wirksamkeit aufweisen wie Antidepressiva. Bei der längerfristigen Beurteilung in Nachuntersuchungen über ein bis zwei Jahre schneiden sie sogar meist besser ab als die Pharmakotherapie. Bei den schweren Depressionen sind die antidepressiv wirksamen Medikamente hingegen mindestens anfänglich der Psychotherapie überlegen. Kombinationstherapien von Psychotherapie und medikamentöser Behandlung sind bei schweren Depressionen, die eine erhebliche Rückfallgefahr haben, am meisten zu empfehlen. Für eine bessere Akzeptanz und Verträglichkeit von Psychotherapie spricht, dass Psychotherapien seltener abgebrochen werden als Pharmakotherapien. Längerfristig dürften Psychotherapien sogar kostengünstiger sein.

Aktuelle Ergebnisse von Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren bestätigen, dass therapeutische Entwicklungen sowohl mittels Medikamenten wie auch psychotherapeutisch angestossen werden können. Aus neurobiologischer Perspektive wird zukünftig die Frage zu beantworten sein, durch welche therapeutischen Massnahmen sich eine möglichst langanhaltende Optimierung der Aktivierungsmuster im Gehirn erreichen lässt. Gerade auch im Hinblick auf die Dynamik neuronaler Netze sind längere Behandlungssequenzen und Langzeittherapiestudien erforderlich. Das Modell der Depression als psychosomatischer Affektstörung kann helfen, die Wirkprinzipien der Psychotherapie und Somatotherapie zu verstehen. In verhaltensorientierten Therapien werden durch Übung neue assoziative Verknüpfungen geschaffen und alte, ungünstige gelöst. In einsichtsorientierten Psychotherapien werden – in einer möglichst angstfreien Atmosphäre – auch versteckt wirksame Assoziationen verfügbar gemacht, ihre Bedeutung im therapeutischen Gespräch herausgearbeitet und durch neue Einsichten moduliert. Im Mittelpunkt der therapeutischen Begegnung steht der personelle Aspekt, wie der Patient in die Depression hineingeraten ist und wie sie überwunden werden kann. Dieser integrative Gesichtspunkt geht vom subjektiven Erleben des depressiv Erkrankten aus. Günstigstenfalls führt das psychosomatische Denken in der Depressionsbehandlung auch zu einer Stärkung der Selbstidentität.

Die Ergebnisse der Neurowissenschaften, insbesondere auch im Bereich der Depressionsforschung, unterstreichen, dass die im klinischen Alltag der Psychiatrie nach wie vor häufig gebrauchte grundlegende Unterscheidung zwischen einerseits organisch und anderseits psychologisch verursachten Störungen überholt ist. In einer weder durch Dogmatismus noch Schulengläubigkeit eingeengten Perspektive zeichnet sich eine differenziertere Sichtweise des Menschen ab.

Während des vergangenen Jahrhunderts herrschte zwischen Psychoanalyse und Psychiatrie eine oftmals wenig tolerante gegenseitige Einschätzung oder allenfalls eine oberflächliche und höfliche Koexistenz. Es ist nicht zufällig, dass das psychoanalytisch inspirierte psychodynamische Denken in der Medizin nicht in erster Linie durch die Psychiatrie, sondern über die Innere Medizin und die Psychosomatische Medizin gefördert wurde. Wahrscheinlich war es unvermeidbar und auch notwendig, dass diese zwei – von ihrem Gegenstand aus gesehen so eng miteinander verbundenen – Disziplinen zunächst vorwiegend antithetisch zueinander standen und erst nach langer Zeit mit der dialektischen Überwindung der Gegensätze und der Eröffnung neuer schöpferischer Synthesen beginnen konnten.

Paradoxerweise waren und sind es gerade die vor einigen Jahren noch nicht vorstellbaren bahnbrechenden Fortschritte der Gehirnforschung, die diesem Neubeginn Pate gestanden haben. Die Entdeckung, dass das Gehirn plastisch ist, dass also Erfahrungen nicht nur die Funktion, sondern auch die Struktur der neuronalen Systeme beeinflussen, wie auch die Tatsache, dass die Psychoanalyse – insbesondere in der Form einer psychoanalytisch orientierten Psychodynamik – offener und flexibler geworden ist, hat diese auch für die Psychiatrie wieder interessanter gemacht. Gewiss sind die Gegensätze nicht endgültig überwunden, und es bestehen weiterhin teilweise schwer zu überbrückende Meinungsverschiedenheiten, etwa zwischen einseitig biologisch denkenden und nur mit Psychopharmaka behandelnden Psychiatern einerseits und den auf der reinen Lehre bestehenden Psychoanalytikern anderseits.

Nachdem die Psychoanalyse bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein auch in den US-amerikanischen Kliniken eine grosse Rolle gespielt hatte, sind inzwischen neue Allianzen entstanden, etwa zwischen der Psychiatrie und den verhaltenstherapeutischen und kognitiven Behandlungsverfahren, die früher grossenteils im Gegensatz zur Psychoanalyse standen. Dennoch ist die Situation heute eine andere als beispielsweise vor etwa 20 Jahren. Denn auch dieser traditionelle Gegensatz zwischen Psychoanalyse und Verhaltenstherapie beginnt abzubröckeln, nachdem die Psychoanalytiker einsehen mussten, wie gross der Anteil des Lernens in ihrer Theorie ist, und wie oft es auch in ihrem Behandlungsansatz erforderlich ist, übende Verfahren zu integrieren. Auf der anderen Seite durchlief die Verhaltenstherapie in den 70er Jahren die kognitive und in den 90er Jahren die affektive Wende und rückte zunehmend auch die therapeutische Beziehung in den Mittelpunkt. Die erwähnten Ergebnisse der Hirnforschung waren eine Bestätigung und Rehabilitierung sowohl für die Psychoanalyse als auch für die Verhaltenstherapie. Auf der anderen Seite waren Fortschritte der Genetik dazu geeignet, sowohl Psychoanalytiker als auch Verhaltenstherapeuten etwas bescheidener zu machen. Vieles spricht für ein zunehmendes gegenseitiges Verständnis sowie für eine in Theorie und Praxis sich anbahnende Integration.

Gerade auch angesichts dieser Entwicklung ist es weiterhin sehr wichtig, sich der grundsätzlichen Unterschiede der Erklärungsmodelle und des Verstehens psychischen Leidens bewusst zu sein. Die zustimmend und wohlwollend aufgenommene Aussage, dass psychiatrische Interventionen sowohl biologischer wie psychosozialer Art sind, lässt ausser acht, dass neben einer fundierten biologisch-psychiatrischen Ausbildung und einer Ausrichtung psychiatrischen Handelns innerhalb gemeindenaher, sozialpsychiatrischer Versorgungsstrukturen eben auch eine intensive psychotherapeutische Weiterbildung erforderlich ist, um den individuellen Besonderheiten in dem Verlauf seelischer Erkrankungen gerecht zu werden. Von den Ausbildungskandidaten an den unterschiedlichen Psychotherapie-Weiterbildungsinstituten wird vielfach die Kluft zwischen Klinik und Psychotherapieweiterbildung beklagt. So besteht eine Diskrepanz in der modernen Psychiatrie zwischen dem weitgehend akzeptierten biopsychosozialen Krankheitsmodell und einer – gerade auch bei den sich in Weiterbildung befindlichen Kolleginnen und Kollegen – festzustellenden Unsicherheit, wie dieses Modell im konkreten Einzelfall zu handhaben und umzusetzen sei.

Nicht unbedenklich sind Entwicklungen der gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen. Trotz der vielfach nachgewiesenen Wirksamkeit von Psychotherapie soll bei dieser die Kostenbremse angezogen werden, indem vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) administrative Bewilligungsverfahren eingeführt wurden. Für den einzelnen Patienten haben diese Kontrollmassnahmen des BAG zur Folge, dass die behandelnden Ärzte oder Therapeuten verstärkt in eine Gutachterposition gerückt werden. In Zukunft wird die Übernahme der Behandlungskosten vermehrt davon abhängen, inwieweit es jenen gelingt, aus einer oft komplexen Problematik und vielschichtigen Lebenssituationen eine Störung herauszukristallisieren, die den geltenden Versicherungsbedingungen entspricht. Es ist zu befürchten, dass durch diese administrativen Eingriffe auch die therapeutische Beziehung belastet wird, weil therapiefremde Einflüsse eine wachsende Rolle spielen werden, wie etwa die für die Psychiatrie diskutierten «Disease-Management-Programme», die auf eine strukturierte Behandlung unter Berücksichtigung von Kosten-Aspekten zielen. Diese Entwicklung birgt die Gefahr in sich, dass nicht mehr die Patienten und die therapeutische Begegnung im Mittelpunkt stehen, sondern die Erkrankung Gegenstand eines Programms wird.

Sigmund Freud hatte 1916/17 das wissenschaftliche Paradigma der Psychoanalyse mit den folgenden Worten formuliert: «Wir wollen die Erscheinungen nicht bloss beschreiben und klassifizieren, sondern sie als Anzeichen eines Kräftespiels in der Seele begreifen.» Diese Sichtweise setzt eine Offenheit gegenüber dem unmittelbaren Erleben des psychisch Leidenden voraus, wie beispielsweise die Berücksichtigung der Perspektive der ersten Person.** Dabei schliesst dies keineswegs die vertiefende Auseinandersetzung mit den biologischen und sozialen Bedingungen psychiatrischer Erkrankungen mit Hilfe eines objektivierenden Vorgehens in der Dritte-Person-Perspektive aus. Eine besondere Herausforderung besteht allerdings darin, diese unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen transparent zu halten, in die die jeweiligen therapeutischen Interventionen eingebunden sind. Auf diese Weise können sich Psychoanalyse und Psychiatrie abseits ihrer herkömmlichen Pfade begegnen.

Dies kann zu einem vertieften Verständnis komplexer Wechselwirkungen unter Berücksichtigung der biographisch-historischen Dimension beitragen, sowie zur schrittweisen Überwindung herkömmlicher Krankheitskonstrukte und Fachgrenzen führen. Die angewandte und modifizierte Psychoanalyse wird hierbei voraussichtlich nicht die Führung übernehmen, wohl aber einen integrierenden und unerlässlichen Beitrag zur Reflexion leisten.

Angesichts der Differenzierung innerhalb der Psychotherapie, den Entwicklungen im Bereich der psychiatrischen Forschung und den sich verändernden gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen, sind Psychiatrie und Psychotherapie in besonderer Weise gefordert. In Zürich ist, im his­torischen Rückblick, insbesondere an der Psychiatrischen Universitätsklinik ein integrierendes Konzept erkennbar, das sich durch die Akzeptanz unterschiedlicher Psychotherapiemethoden sowie den Primat der therapeutischen Praxis auszeichnet – ganz im Sinne des geflügelten Wortes von Manfred Bleuler: «Bleibt am Krankenbett.» Diese Tradition ist nicht nur Verpflichtung, sondern vor allem Chance, die Vielfalt therapeutischer Richtungen auch in Zukunft zu respektieren und die Subjektivität des einzelnen Menschen bei allen Reformbemühungen im Auge zu behalten.

* H. Böker & D. Hell: «Therapie der affektiven Störungen». Stuttgart: Schattauer, 2003.

** D. Hell: «Seelenhunger». Bern: Huber, 2002.

DANIEL HELL ist ordentlicher Professor für klinische Psychiatrie an der Universität Zürich, Direktor der Klinik für Affektive Erkrankungen und Allgemeinpsychiatrie Zürich Ost sowie Vorsteher des Medizinischen Direktoriums an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

HEINZ BÖKER ist Titularprofessor an der Universität Zürich und Leitender Arzt am Zentrum für Depressions- und Angstbehandlung der Klinik für Affektive Erkrankungen und Allgemeinpsychiatrie Zürich Ost.

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