Provinzoptimismus
Sie lassen sich zwar nichts anmerken, doch leiden die Aargauer unter den Klischees, die der Rest der Schweiz über sie verbreitet. Die meisten trösten sich mit der Hoffnung, dass vielleicht eines Tages ihre wahre Grösse erkannt wird. Oder auch nicht.
Neulich suchte das Fernsehen verdiente Pfadfi nder, um dem
100-Jahr-Jubiläum der Bewegung in der Schweiz ein Gesicht
zu geben. Es versammelte sich eine geradezu exemplarisch
scheinende Schar: gutmütige Menschen, in den Gesichtern
der Ausdruck gehemmter Begeisterung. Der Auftritt hatte
den Touch leiser Komik, wie bei jedem tapferen Untergang.
Junge Menschen hielten an Inhalten und Formen fest, die
unaufhaltsam an Bedeutung verlieren. Und alle diese Pfadfi
nder waren Aargauer.
«Typisch», riefen die meisten in der Runde, die der Sendung
folgten, darunter auch Aargauer. Kein Wort darüber,
dass die Auswahl der TV-Pfadfi nder auf purem Zufall beruhen
konnte. Kein Gedanke, dass sich der unterschwellige
Hohn des Beitrags womöglich auch auf den Plan zurückführen
liess, Aargauer in ihrer Bravheit zu zeigen und sie
solcherart subtil der Lächerlichkeit preiszugeben – kurz, das
Klischee zu füttern.
In aller Regel schlüpfen Aargauer fl ink zwischen die
Spottmeute, um unerkannt zu bleiben. Niemand schwört
gegen aussen so rasch seiner Herkunft ab wie Aargauer.
Niemand sichert seinen Lokalpatriotismus gegen innen,
im hinteren Säli seiner Stammbeiz, mit grimmigerer Verschwörerattitüde.
Von Stolz auf den Stand redet bloss der
Regierungsrat und dann und wann ein Leitartikler – strikte
offiziell.
Andere Leute aus anderen Regionen der Schweiz können
notorischer Schwächen und nachgesagter Schrullen wegen
verspottet und beleidigt werden; sie werden sich ihrer gewöhnlich
mit müder Geste erwehren – immer wirkt das
eine Spur abgeklärt. Der Spott indes, medioker zu sein, wie
er seit Jahr und Tag über die Aargauer ausgeschüttet wird,
bugsiert die Verspotteten in eine Art Treibsandfalle. Weisen
sie den Vorwurf der Mittelmässigkeit vehement zurück,
wird dies als Fehlen von Souveränität interpretiert, mithin
als Beweis dafür, dass was dran ist am Vorwurf. Anderseits
hilft auch Gelassenheit wenig. Denn wer einen solch schwerwiegenden
Vorwurf auf sich sitzen lässt, gilt erst recht als
durchschnittlich. Der Aargau – eine Imagefalle.
Der Aargauer hat eigentlich nie eine Chance. Das Label
«Aargau» scheint in den Augen der Restschweiz ständig einer
Rechtfertigung zu bedürfen. Auch in den Augen der Aargauer
selbst. Zu fugendicht steht die Geschichte der Vorurteilskantone
der losen Geschichte dieses napoleonischen
Regionen-Flickenteppichs gegenüber. Hier waren Freiheitsbäume
die letzte Rebellion. Seither kann der Aargauer das
Kreuz nur noch annehmen.
Dabei könnten Aargauer hübsche Erfolge vorweisen.
Schöne Landschaften (die Flüsse und Seen), historische und
andere Kraftorte (Schloss Hallwyl, Gösgen), Verdienste,
nicht zuletzt für das Ganze (Stapfer, Kölliken), Unternehmen
von Weltrang (ABB, Holcim), ein paar Namen und
Marken von Wert (Rivella, Hero) – kurz, eine Tüchtigkeit
und Zuverlässigkeit, die das süffi sante Lächeln nicht bloss
unverdient erscheinen lässt, mit dem all das ständig bedacht
wird, sondern die diese Süffi sanz geradezu zum Mysterium
macht und sie eigentlich auf ihren Träger zurückfallen lässt.
Solange einer, dem der Status eines «Weltstars» zugeschrieben
wird, nicht verliert, ist er – schweizweit – «unser»
Weltstar, gehört er allen. Sobald er verliert oder auch nur
Spielerpech hat, ist er wieder Aargauer – wie DJ Bobo in
Helsinki. Diesbezüglich muss die Restschweiz froh sein um
die «Schäm-di»-Ecke in ihrem Mittelland, froh um diese
national-psychologische Sondermülldeponie – eine mehr –,
wo man Loser-Stigmata von ungewisser Halbwertszeit und
aller möglichen Herkunft ablegen kann.
Und dann, wenn der Aargau doch einmal gelobt wird
von aussen, wenn sich dieses Wunder ereignet, schlürfen
es Aargauer in einer Art und Weise auf, die fast schon herzbeklemmend
verrät, wie sehr sie all die Zeit nach Anerkennung
gedürstet haben, obwohl sie vorgaben, bescheiden
ihren eigenen Weg der Mitte zu gehen.
Der Aargau ist nicht wirklich autark, damit auch nicht
wirklich stark, ebensowenig wie alle anderen notabene. Aber
dieses Land, die Schweiz, die so viele föderalistische Balanceakte
geschaff en hat und schaff t, dieses Land hat noch
nicht einmal in Ansätzen ein Schulterklopf-Ausgleichsgesetz
erfunden, das Ermutigungen und Dämpfer gleichmässig
verteilt. Auf diesem Feld gliche die Not des Aargaus der
materiellen Not eines Bergkantons. Eine – natürlich befristete
– Bauchpinsel-Subvention hielte niemand im Ernst
für fehl am Platz, am wenigsten die Aargauer. Insgeheim
haben die meisten politischen Vorstösse aus dem Aargau
auf nationaler Ebene nur den einen Zweck: die Wende des
subkutanen Wohlbefi ndens im Kanton nach aussen.
Seit einiger Zeit häufen sich die Anzeichen, dass bis zu
dieser letzten Anerkennung nicht mehr viel fehlt. Sagen wir
es so: «Globalisierung» heisst eigentlich «Aargauisierung».
Das meint den Verzicht auf einen identitätsstiftenden Bezug
oder dessen langsamen Verlust – einer Nation, eines Landes,
einer historisch-religiös-kulturellen Melange, einer Region
oder auch nur eines Bündels von Klischees. Letzteres ist inzwischen
fast die letzte Krücke, auf die sich Gemeinschaften
und Meuten stützen, wenn sie jeden anderen Halt verloren
haben. Beinahe jede Schollenbindung hat sich verzogen
und komprimiert auf Fanmeilen, mit ihrer verzweifelten
Flaggenfolklore, den geschürten aufgesetzten Emotionen,
den Logos von Sponsoren, die den Wechsel der seelischen
Haftung für sich nutzen möchten – und eine Zeitlang wohl
auch nutzen werden.
Die Auflösung dessen, was zusammenhält, wird die Zukunft
noch stärker prägen als die Gegenwart. Der Aargau
hat diese Aufl ösung bereits verinnerlicht, er hat das Sich-
Aufl ösen sozusagen 200 Jahre lang gelernt und geübt. Er
weiss, was es heisst, ohne Rahmen gefasst zu bleiben. Mit
diesem Rüstzeug kann er nun warten. Und dann – wenn alle
anderen aufschliessen – wird der Aargau trotzdem wieder
mitjubeln, unerkannt in der Menge, als hätten die anderen
und nicht er diese Fähigkeit erfunden.
MAX DOHNER, geboren 1954, arbeitet bei der «Aargauer Zeitung».
Seine letzte literarische Veröffentlichung ist «Die sieben Alter der Liebe» (2006).