Provinz ist keine Gegebenheit
Zu Hugo Loetscher: «Lesen statt klettern»
Der älteste Text dieser Aufsatzsammlung wurde 1973 geschrieben, er war im «Tages-Anzeiger-Magazin» zu lesen, ebenso wie l976 der Aufsatz über Adrien Turel. Der erste ist eine Darstellung des Kunsthistorikers und Marxisten Konrad Farner, der in der Schweiz für sein Leben bangen musste, weil er ideologisch auf Marx, Lenin und Stalin setzte, als die grosse Mehrheit die schlimmen Folgen dieser Lehre vor Augen hatte. Der zweite handelt von einem Schriftsteller, der zwar Themen behandelte, die seinem Denk- und Tatort den Rang eines Weltzentrums verliehen, nur leider nahm von Turels Berühmtheit kaum jemand Kenntnis. Es scheint mir jedoch bezeichnend, dass Hugo Loetscher sowohl im Falle Farners als auch im Falle Turels früh schon das Aussenseitertum des Intellektuellen sowohl als Stimulans wie auch als wirksames Gegenmittel gegen die immer schon möglichen Verhocktheiten in der Schweiz sah. Und vor allem erhob er seine Stimme für Toleranz.
Loetschers Blick auf die literarische Schweiz, ausdrücklich nicht nur die Deutschschweiz, wird vollends deutlich in den Essays, die er für die Komposition seines neusten Buches geschrieben hat, etwa im Eröffnungsaufsatz vom Geissbuben Thomas Platter, der von den Alpen im Wallis in die Stadt Basel floh, um zur Schule zu gehen und zum Schluss ein berühmter Professor zu werden. Er wollte lesen, nicht klettern. Denn nicht mit Albrecht von Hallers Gedichtband «Die Alpen», über den bei Loetscher ein kritisches Interview mit dem Gelehrten Auskunft gibt, beginnt die deutschsprachige Literatur in der Schweiz, sondern schon ein paar Jahrhunderte früher, eben mit Thomas Platter (1499-1582) und seinem Weg von den Alpweiden herab in die grosse Stadt. Im Essay über Johann Georg Zimmermann taucht dann erstmals das Leiden an der Schweiz auf, die merkwürdigen Bedingtheiten zwischen Heimatflucht und Sehnsucht, zwischen der Enge, unter der der Stadtphysikus von Brugg zuhause litt, und der grossen, weiten Welt, die sich dem königlich britannischen Hofarzt in Göttingen auftat. Er war ein erfolgreicher Schriftsteller, dessen Werke – u.a. «Vom Nationalstolz» und «Über die Einsamkeit» – grosse Verbreitung hatten. Aber er war auch ein Hypochonder, ein eitler Zerrissener, ein Mensch, der – wie Goethe urteilte – «bei äusserstem Ansehen das traurigste Leben» führte.
Bezeichnend für das Buch, in dem dieses glänzende Porträt steht, ist Loetschers abschliessender Satz, die Geschichte Zimmermanns lese sich, als befasse man sich mit unserer unmittelbaren Gegenwart. Der Eindruck trifft nämlich in anderer Hinsicht auch auf die hier vorliegende Essay-Sammlung zu. Zwar wurde sie aus zeitlich weit zurückliegenden Beiträgen für Zeitschriften oder Zeitungen und neu geschriebenen Arbeiten zusammengestellt, aus bereits erschienenen Buchbesprechungen, Begleittexten in Ausstellungskatalogen, Theater-Programmheften oder unveröffentlichten Sachen, auch aus sehr unterschiedlichen Textsorten, wenn man so will. Aber dennoch erweist sich das Buch als Darstellung einer gegenwärtigen Spannung und als die Stellungnahme eines weltläufigen Intellektuellen aus der Schweiz zu gängigen Auffassungen über die Schweizer Literatur. Nicht nur, dass er zu dieser Literatur selbstverständlich die französisch geschriebenen Werke eines Blaise Cendrars, eines Maurice Chappaz und eines Jacques Chessex hinzuzählt, er geht im Schlusskapitel auch auf Giorgio Orelli und die Literatur des Tessins ein. Er macht kein Hehl aus seiner «erschwerten Verehrung» für Max Frisch, den Erfolgreichen, vergisst aber nicht Ludwig Hohl und seine voreiligen Herbergen. Über Friedrich Dürrenmatt sinnt er in variantenreichen Erinnerungen
nach, in die er seine Geburtagsrede zum Sechzigsten im Zürcher Schauspielhaus ebenso aufgenommen hat wie die fast schon satirische Beschreibung der Abdankung des Dichters.
Am Schluss wendet er sich, in einem längeren, ebenso themenreichen wie diffusen Kapitel unter dem Titel «Im Helvetischen Chatroom», direkt der aktuellen Szene zu. Es ist der «Immune», der hier spricht, der engagierte und subjektive Autor, der sich gegen eine geographische oder soziale Determiniertheit wendet und erklärt, Provinz sei niemals eine Gegebenheit, sondern eine Entscheidung. Von daher fragt er zum Beispiel Paul Nizon, wie denn zu verstehen sei, dass einer sich im Exil fühlen könne, der seinen Aufenthalt im Ausland freiwillig gewählt habe und dem die angeblich enge Heimat Ehrengaben überreiche, während die Wunschheimat auch nicht mit Anerkennung geize. Oder er hat es auf Adolf Muschg abgesehen, der sich mehr und mehr als das schlechte Gewissen der Schweiz aufführe. Kurzerhand schlägt er ihm eine Art Arbeitsteilung vor: Loetscher wolle gern sündigen, Muschg möge die Gewissenslast tragen. Im Chatroom geht es manchmal zu wie an der Basler Fasnacht. Aber eins muss man dem Autor lassen. Er formuliert elegant und glänzend, es ist ein Genuss, ihn zu lesen. Dichterisch ist es vielleicht weniger als vielmehr journalistisch. Aber ist das denn etwa ein Nachteil? Dieses Buch ist schliesslich ein publizistisches Unternehmen.
Hugo Loetscher, «Lesen statt klettern. Aufsätze zur literarischen Schweiz», Diogenes, Zürich 2003.
Anton Krättli, geboren 1922, promovierte in Germanistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er war von 1965 bis 1983 Kulturredaktor der «Schweizer Monatshefte».