Proton
Proton
von György Petri
Jetzt gehe ich fort,
fort von den Lebendigen.
Ob als Sandkorn oder Strahl,
wer weiss schon! Ich habe kein
grosses Vertrauen in die
Metapher der modernen Physik.
Wie ein Held hatte Herr Szalmási Heisenberg
bekämpft und Einsteins Meinung vertreten,
wonach Gott kein Würfelspieler sei.
Vor Jahren wurde er ausgesiedelt, als Priester
so wusste er sicher besser als ich,
wo der liebe Gott zu finden sei.
«György, kleiner György», sagte er mir,
«leg das schnell wieder hin.» Ich hielt ein Kruzifix
in der Hand und tanzte wild nach Art der Indianer.
Dann wurde es totenstill. (Hinzufügen sollte
ich, dass wir zuvor bei Jeney in der Beiz
ganz schön was geladen hatten, Wein und so.)
Den Professor Szalmási nannten wir Proton,
und einmal, bestens gelaunt, hängten wir
Kondome auf die Stahlstangen im Physiksaal.
Bei der Matura gab es etwas von historischer Bedeutung.
Der Professor bat mich,
eine Sinus-Kurve zu zeichnen,
und ich, schön trotzig, zeichnete eine Linie
mit vielen auf- und absteigenden Quadraten:
Ich hielt mich für einen Helden. Der Professor
betrachtete mein Werk und fragte: «Haben Sie schon
etwas von der Poisson-Dispersion gehört?»
Ein Poisson sei entweder ein Fisch
oder aber Gift, erwiderte ich.
Und er darauf: «Kannst an deinen Platz zurück, György».
Er ist schon tot, und ich versuche, meinen Platz
zu finden.1
1Proton liess uns schonungslos durchfallen, und wir mussten Nach-prüfungen machen. Wir straften ihn, indem bei der Abi-Feier
er allein keine Blumen überreicht bekam. Der alte Mann spürte
den ungerechten Hass gegen sich und sagte: «Um diese Zeit gehe
ich schon schlafen. Amüsiert euch gut.»
György Petri
1943 geboren in Budapest.
1961 bis 1966 Studium der Philosophie in Budapest.
1975 bis 1988 Publikationsverbot wegen seiner Aktivitäten in der demokratischen Opposition.
1981 bis 1985 Redaktor der Untergrundzeitschrift «Beszél?».
ab 1989 Mitglied des Redaktionsausschusses der Literaturzeitschrift «Holmi».
2000 gestorben in Budapest.
Der Lyriker und Übersetzer konnte lange Zeit nur im Untergrund oder im Ausland publizieren. In deutscher Übersetzung erschienen unter anderen:
«Vorbei das Abwägen, vorbei die Abstufungen». Zürich: Ammann, 1995.
«Schöner und unerbittlicher Mummenschanz». Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 1989.
«Zur Hoffnung verkommen». Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 1986.