Privatunterricht für alle
Die digitale Bildungsrevolution ermöglicht breiten Schichten, was bislang der Elite vorbehalten war: massgeschneidertes Lernen für jeden Schüler. Das wertet auch den Lehrberuf auf.
New York im Jahr 2014. Die David-A.-Boody-Schule, benannt nach einem Bürgermeister Brooklyns aus dem 19. Jahrhundert, macht von aussen einen freundlichen Eindruck. Das Gebäude mit Klinkerfassade stammt aus den Dreissigerjahren, die knallrot gestrichene Eingangstür steht weit offen, die Buchsbaumhecken sind gepflegt. Innen sieht die öffentliche Schule im Stadtteil Sheepshead Bay aus wie viele New Yorker Lehranstalten. Über den grün gestrichenen Fluren leuchten Neonröhren und die Böden sind fleckig. Wenn mit ohrenbetäubendem Lärm das Pausenzeichen losschrillt, klappen die Türen auf und die Gänge füllen sich mit Teenagern. Die Namen der rund 1000 Schüler im Alter zwischen 11 und 14 Jahren sind so multikulti wie ihre Gesichter. Sie heissen Nelson Chah, Smaa Hussein oder Nanci Vazquez. 14 Prozent Schwarze, 24 Prozent Lateinamerikaner, 34 Prozent Asiaten und 28 Prozent Weisse gehen hier zur Schule. 80 Prozent der Schüler hier kommen aus einer sozial schwachen Familie, viele haben einen Migrationshintergrund. Beim Lernen brauchen sie viel Unterstützung – idealerweise jeder seinen auf ihn persönlich zugeschnittenen Unterricht. Das Spannende an der Boody-Schule ist: Seit vier Jahren bekommen alle Schüler genau das. Mit, so viel vorweg, beeindruckenden Folgen.
«New Classrooms» heisst das Konzept, das auf digitalisierte Lerneinheiten statt Frontalunterricht setzt, um jeden bei seinem Wissensniveau abzuholen. In einem riesigen Raum, der sich über ein ganzes Stockwerk erstreckt, lernen etwa neunzig Schüler Mathe an wechselnden Stationen: Die einen schauen Videos, die anderen nutzen Lernsoftware, andere arbeiten in Gruppen oder sprechen mit dem Lehrer. Das Besondere ist allerdings nicht die Vielfältigkeit der Lernmethoden, sondern die automatisierte Personalisierung: Am Ende eines Tages legt jeder Schüler einen kurzen Onlinetest ab. Der wird nicht von einem Lehrer, sondern von einem Zentralcomputer in Manhattan über Nacht ausgewertet. Algorithmen errechnen, welcher Schüler noch nacharbeiten muss und welche Methode die beste dafür ist. Daraus entsteht ein individueller Lernplan für den nächsten Tag, den die Schüler morgens über grosse Monitore an den Wänden erfahren.
Die Technik macht den Lehrer hier nicht überflüssig, sie verändert aber seine Rolle: Er wird vom Wissensvermittler zum Lernbegleiter. Auch wenn sie einen Schüler gerade nicht persönlich unterrichten, haben die Lehrer an der David-A.-Boody-Schule seinen Lernfortschritt im Blick. Auf ihren Bildschirmen sieht man eine grosse farbige Tabelle mit allen Schülernamen, dazu ein Ampelsystem mit grünen, orangen und roten Punkten. Kommt einer ihrer Schützlinge mit seinem Lernprogramm nicht weiter, springt die Ampel von Grün auf Orange oder gar Rot. Der Lehrer kann dann gezielt helfen. Das geht nicht für alle neunzig Schüler gleichzeitig, aber eben immer für diejenigen, die gerade nicht weiterkommen. Das Computerprogramm zeigt, wo Intervention nötig ist.
Die Mathelehrerin Kelly Basacci geniesst die neue Art des Unterrichtens: «In traditionellen Schulen ist man als Lehrer oft auf sich allein gestellt. Hier arbeiten wir alle zusammen, sprechen ständig miteinander, wie man mit einem bestimmten Schüler umgehen sollte, wie man eine Lektion am besten rüberbringt.» Das sieht auch Schulleiter Dominick D’Angelo so: «Das Material wird bereitgestellt – das macht den Job so viel einfacher, und die Lehrer können sich auf das konzentrieren, worin sie am besten sind: lehren.»
Bevor an der Boody-Schule das Konzept «New Classrooms» Einzug hielt, lag die Leistung der Sechstklässler in Vergleichstests knapp unter dem Durchschnitt vergleichbarer Schulen. Als dieselben Kinder die achte Jahrgangsstufe absolvierten, waren ihre Prüfungsergebnisse bereits elf Prozent besser als der Durchschnitt. Heute lernen die Schüler von «New Classrooms» beinahe anderthalbmal so viel pro Jahr wie Schüler im nationalen Mittel. Mittlerweile arbeiten fünfzehn Schulen im ganzen Land mit dem Konzept, USA-weit lehrt «New Classrooms» rund 6000 Schüler Mathematik und verbessert damit ihre Chancen auf eine weiterführende Bildung.
Besserer Umgang mit Vielfalt
Bei der digitalen Bildungsrevolution geht es im Kern um einen pädagogischen Wandel, nicht um einen technischen. Es geht um Menschen. Jeder Schüler wird individuell gefördert, kann in seinem eigenen Tempo lernen, wird immer wieder dort abgeholt, wo er gerade steht. Schwächere und weniger motivierte Schüler finden dadurch leichter Anschluss, stärkere können ihr ganzes Potenzial entfalten. Genau das würden viele Pädagogen bereits heute noch so gerne tun – nur fehlen dazu häufig die Ressourcen.
Unterschiedliche Talente, Kenntnisse und Erfahrungen – so verschieden Menschen sind, so unterschiedlich lernen sie auch. Selbst wenn alle das gleiche Lernziel erreichen müssten, so wären Weg, Stil und Tempo dorthin höchst unterschiedlich. Die heutigen Bildungssysteme nehmen darauf aber wenig Rücksicht. Egal ob Schule, Hochschule oder Weiterbildung: alles ist weitgehend standardisiert und vereinheitlicht.
Diese Standardisierung ist Konsequenz und Preis einer der grössten Errungenschaften unserer Gesellschaft – des Bildungszugangs für alle. Bis Wilhelm von Humboldt die Bildung demokratisierte, liessen Adel und wohlhabende Bürger ihre Kinder von Privatlehrern erziehen, der Rest der Gesellschaft blieb unwissend. Die einen lernten somit äusserst personalisiert, die anderen gar nicht. Humboldt wollte mehr Gerechtigkeit: Das Modell des Privatlehrers liess sich aber nicht für alle verwirklichen, weder gab es dazu genug Pädagogen noch war das auch nur ansatzweise finanzierbar. So entstand unser allgemeines Schulwesen. Die Schulpflicht führte jedoch zwangsläufig zu einer Vereinheitlichung der Inhalte, Wege und Vermittlung. Aus der einst persönlichen Förderung für wenige durch den Privatlehrer wurde notgedrungen Massenbildung für alle.
So beeindruckend die Geschichte von «New Classrooms» und der David-A.-Boody-Schule ist: eigentlich geschieht dort nur das, was jeder gute Lehrer, Professor oder Trainer macht, wenn die Lerngruppe klein genug ist. Sie personalisieren das Lernen. Der wesentliche Unterschied: das Team an der David-A.-Boody-Schule schafft das nicht nur für eine Handvoll Schüler, sondern für Hunderte gleichzeitig – dank der Lernvideos, Lernprogramme und Computeralgorithmen. Digitalisierung – und das ist der entscheidende Punkt – versöhnt das bisher Unversöhnliche: den Bildungszugang für alle mit dem auf jeden individuell abgestimmten Curriculum. Damit kann die Digitalisierung den Gegensatz von Masse und Klasse aufheben. Humboldts grosses Ideal einer passenden Bildung für alle wird global möglich.
Ausgrenzung und Unterforderung
Fragt man heute in Deutschland oder der Schweiz Lehrende nach ihrer grössten Herausforderung, lautet die Antwort häufig: Guter Unterricht wäre viel leichter, wenn die Lerngruppe nicht so heterogen wäre. Hinter der häufigen Forderung nach kleineren Klassen verbirgt sich eigentlich nur der Wunsch, die schwächsten und die stärksten Schüler vom Mittelfeld zu trennen – in der Hoffnung, dann eine leistungshomogene Gruppe vor sich zu haben. Der Umgang mit den grossen Lern- und Leistungsunterschieden in einer Klasse wird von vielen Pädagogen als extrem aufwendig und schwer kontrollierbar empfunden.
Auch in den Bildungsergebnissen spiegelt sich wider, dass etwa deutschen Schulen der Umgang mit Vielfalt nicht wirklich gelingt. Als 2001 die erste PISA-Studie veröffentlicht wurde, war das Entsetzen gross. Ein Viertel der 15-Jährigen scheiterte an allem jenseits der einfachsten Grundlagen des Lesens und Rechnens. Was daraufhin unternommen wurde, ist ein Beispiel durchaus erfolgreicher, aber auch kurzsichtiger Politik. Die mit viel zusätzlichem Geld initiierte Sprachförderung, das Aufstocken der Betreuer, Sozialarbeiter und Schulpsychologen in Brennpunktschulen und viele weitere Sondermassnahmen für das abgehängte untere Viertel verfehlten ihre gewünschte Wirkung nicht. Heute ist der Anteil der Bildungsverlierer stark zurückgegangen. Davon profitiert haben aber nicht alle: Die Leistungen der deutschen Spitzenschüler stagnieren. Statt flächendeckend eine neue Pädagogik einzuführen, die alle Kinder und Jugendliche individuell fördert, wurde nur das akute Problem am unteren Rand des Bildungsspektrums angegangen. Die Potenziale der leistungsstarken Schüler bleiben weiter ungehoben. Die Unterforderung der Besten aber ist für eine Gesellschaft genauso fatal und kostspielig wie die Überforderung der Schwächsten.
Der in unserem Bildungssystem angelegte Gleichschritt führt zu Ausgrenzung auf der einen und Verschwendung von Lebenszeit auf der anderen Seite – durch Sitzenbleiben oder Ausbremsen. Ist ein Kind in den Naturwissenschaften und in der Mathematik äusserst schlecht, aber in allen anderen Fächern gut, droht weiterhin das Sitzenbleiben. Ist es in fast allen Fächern seiner Klasse weit voraus, beherrscht die Fremdsprache Englisch aber noch nicht auf dem Niveau des nächsthöheren Jahrgangs, darf es das Schuljahr nicht überspringen, sondern muss im Klassenverband verbleiben. Diese starren Strukturen verhindern die eigentlich nötige Personalisierung in der Schule; es fehlt an jahrgangsübergreifendem Lernen und individuell zugeschnittenen Curricula, mit denen jeder in seinem eigenen Tempo und Stil vorankommen kann.
Massenhaft persönlich
Ein Beispiel für den Wandel vom einheitlichen Massenprodukt hin zum individuell zugeschnittenen ist die Khan Academy. Anfangs lag ihr Fokus nur auf dem offenen Zugang zu Nachhilfevideos und Übungsaufgaben, mit denen bald Millionen von Schülern lernten. Gelernt hat allerdings auch die Khan Academy. Denn aus dem Verhalten der vielen Nutzer kann die Software nun geeignete Empfehlungen für den individuellen Lernweg ableiten. Die Anfang 2015 veröffentlichte App empfiehlt jedem Schüler Übungen mit dem passenden Schwierigkeitsgrad. Um aus den Nutzerdaten ein persönliches Curriculum für jeden erstellen zu können, beschäftigt die Khan Academy inzwischen nicht nur Mitarbeiter, die für Didaktik und die Inhalte der Fächer zuständig sind, sondern auch sogenannte Data Scientists. Mit speziellen Computerprogrammen analysieren sie, welche Erkenntnisse sich aus dem enormen Datenschatz gewinnen lassen, um die Lerninhalte noch besser auf den jeweiligen Nutzer abzustimmen.
Solche Ansätze waren lange Zeit auf die Mathematik beschränkt, in der die Software es besonders leicht hat, richtig und falsch zu erkennen. Aber auch in anderen Bereichen, wie zum Beispiel in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, der Informatik oder in den Sprachen, wächst das Angebot. Es stehen immer mehr Lernmaterialien digital zur Verfügung, und Computer sind zunehmend in der Lage, auch komplexere Aufgaben zu bewerten; sie korrigieren Texte, erkennen logische Zusammenhänge und geben kontinuierliches Feedback zum Lernfortschritt. Die Lehre passt sich dem Lernenden an, nicht mehr der Lernende der Lehre.
Wie radikal die Digitalisierung das Lernen verändern kann, illustriert auch der sogenannte «Flipped Classroom», das in seiner Lernlogik «umgedrehte Klassenzimmer». Untersuchungen gehen davon aus, dass Lehrer im traditionellen Unterricht nur 20 Prozent ihrer Zeit den Bedürfnissen und Sorgen der einzelnen Kinder widmen, aber 80 Prozent der Zeit zur Erläuterung von Standardwissen benötigen. Ihre Schüler können meist nur schweigend zuhören, kaum mit Lehrer oder Mitschülern über den Stoff und ihre Fragen diskutieren. Nach dem Unterricht versuchen sie, ihre Hausaufgaben zu machen und das Gehörte umzusetzen. Gerade hier wäre es wichtig, Hilfestellungen zu bekommen und sich austauschen zu können. Doch alleine zu Hause fehlt bei Fragen und Verständnisproblemen der so wichtige Kontakt zu anderen.
Im «Flipped Classroom» eignen sich die Kinder vor der Unterrichtsstunde über Videos oder Lernprogramme das benötigte Standardwissen an. Dabei übertreffen didaktische Aufbereitung und Erklärkunst der speziell ausgewählten Pädagogen meist die Möglichkeiten der Lehrer vor Ort; zudem lassen sich die Videos auch ohne Blamage vor den Mitschülern so oft wie nötig wiederholen. Im Klassenzimmer entsteht dadurch Raum, das Gelernte zu diskutieren und anzuwenden – egal ob im Gespräch zwischen Schüler und Lehrer oder in der Gruppenarbeit; Unklarheiten können unmittelbar ausgeräumt werden. Die Bedürfnisse des einzelnen rücken so viel stärker in den Mittelpunkt als beim klassischen Unterricht.
Geld für Schulen und Lehrerbildung
Noch sitzen die Bildungsmassschneider von heute fast nur in Oxford und Stanford oder in exklusiven Privatschulen. Deren kleine Lerngruppen und individuelle Betreuung sind aber nur wenigen zugänglich; man braucht überragendes Talent oder reiche Eltern. Dort unterrichten Pädagogen, die das Idealbild erfüllen: Sie entwerfen für jeden Studenten ein eigenes Lernprogramm entsprechend dessen Kompetenzen, Interessen und Lernstil, lösen sich vom Standardlehrbuch, empfehlen passende Materialien. Sie haben immer ein Auge auf den Fortschritt des einzelnen, helfen früh, wenn etwas nicht verstanden wird, erkennen Langeweile ebenso wie Überforderung und reagieren darauf.
In Zukunft wird man auch jenseits von Eliteinstitutionen besser auf individuelle Ansprüche eingehen können. Bislang gab es Bildung nur für wenige persönlich zugeschnitten, für viele dagegen als standardisierte Einheitslösung. Digitale Bildung löst diesen vermeintlichen Zielkonflikt nun auf; sie kann für Hunderttausende möglich machen, was sonst nur in Kleingruppen gelingt. Um dieses Potenzial zu nutzen, müssen sowohl pädagogische Konzepte als auch technische Rahmenbedingungen angepasst werden. In Deutschland hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) angekündigt, zu diesem Zweck fünf Milliarden Euro für eine Ausstattungsoffensive der mehr als 40 000 Schulen zur Verfügung zu stellen.
Die finanzielle Unterstützung wird nicht ohne Grund an pädagogische Voraussetzungen gekoppelt: Ohne digital kompetente und in neuen pädagogischen Ansätzen versierte Lehrkräfte werden die besten Ziele wirkungslos bleiben. Deshalb ist dringend eine Reform der Aus- und Weiterbildung von Lehrern nötig. Sie sollte sowohl die Vermittlung medienpädagogischer Grundkenntnisse und die kompetente Bedienung von Geräten beinhalten als auch die Integration und Nutzung digitaler Angebote im individuell fördernden Unterricht. Geschult werden müssen aber nicht nur die künftigen Lehrkräfte, sondern auch die jetzigen. Am wirksamsten sind dabei Fortbildungen, die sich an ganze Kollegien richten und dadurch einen digitalen Schulentwicklungsprozess anstossen.
Dabei können auch zivilgesellschaftliche Initiativen wichtige Impulse setzen. Ein Beispiel dafür ist das Forum Bildung Digitalisierung, das 2016 von fünf deutschen Stiftungen gemeinsam ins Leben gerufen wurde. Es bietet in einem ersten Schritt 38 ausgewählten Schulen aus ganz Deutschland die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen, voneinander zu lernen und ihre digitale Schulentwicklung in einem kollaborativen Werkstattprozess voranzutreiben. Die Stiftungsinitiative arbeitet eng mit den Kultusministerien und Fortbildungsinstituten der Länder zusammen. So können die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Begleitung allen Schulen dabei helfen, das technisch Mögliche mit dem pädagogisch Sinnvollen zu verknüpfen.
Genau diese Verbindung brauchen Schüler und Lehrer gleichermassen: Die Digitalisierung gibt allen Beteiligten mehr Zeit fürs Wesentliche – ein Allheilmittel aber ist sie nicht. Natürlich können siebenminütige Lernvideos keine Persönlichkeitsbildung ersetzen und Computertechnik nicht die Bindung zwischen Lehrer und Schüler. Was sie jedoch können, ist, Freiräume genau dafür zu schaffen.
Der vorliegende Text basiert auf Ausschnitten aus dem Buch «Die digitale Bildungsrevolution» (Deutsche Verlags-Anstalt, 2015). Er wurde exklusiv für den «Schweizer Monat» aufbereitet und aktualisiert.