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Preis der Konkordanz

Querbeet durch das System…

Rund vier Wochen vor den legendären Bundesratswahlen Ende letzten Jahres veröffentlichte ich einen Artikel in der NZZ mit der Aufforderung an die Parteien der Mitte, vor irgendwelchen personellen Überlegungen gemeinsam programmatische Verhandlungen mit den Parteien zu links und zu rechts zu führen. Dies mit dem Ziel, keine Zufallswahl ohne inhaltliche Klarheiten zu produzieren. Es kam dann anders. Das Ergebnis vom 10. Dezember 2003 war im wesentlichen zufällig: zwei neue Mitglieder der Landesregierung, die dem «Wirtschaftsflügel» ihrer Parteien entstammen. Von programmatischen Gewissheiten über einen neuen Kurs dieser sogenannten Mitte-Rechts-Regierung kann allerdings keine Rede sein.

Ich bin mir durchaus bewusst, dass die von mir vorgeschlagene Vorgehensweise das Ende der Konkordanz im Sinn der seit Jahrzehnten funktionierenden Allparteienregierung bedeutet hätte. Interessant sind die Reaktionen auf das Postulat zum Aufbrechen dieses Allparteienstatuts. Praktisch geschlossen war die Zustimmung aus wirtschaftlichen Kreisen. Hier ist man es offensichtlich gewohnt, Ventures dann und nur dann einzugehen, wenn die Terms klar sind, und man weiss auch, dass man mit seinem Konkurrenten nicht ins gleiche Bett steigen sollte. Fast ebenso geschlossen war die Ablehnung meiner Vorstellungen in politischen Kreisen, die die Schweiz ohne Konkordanz für unregierbar halten. Besonders auffallend war, dass Politikwissenschafter keine Mühe scheuten, die Richtigkeit ihrer These von der Notwendigkeit der Konkordanz zu belegen. Ich bin mir auch durchaus bewusst, dass das schweizerische Räderwerk zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden, zwischen Parteien, Verbänden und Gewerkschaften, zwischen Kulturschaffenden, Natur-schützern, Frauenorganisationen, Kirchen und Schützenvereinen, zwischen denVerwaltungsabteilungen verschiedenster Hierarchiestufen, zwischen vom Staat beauftragten Beratungs- und Expertisenunternehmungen und den Initianten von wirtschaftlichen Grossprojekten, zwischen Aufsichtsbehörden und Selbstregulierungsorganisationen eine Maschinerie bildet, die gut abgestimmt ist. Wer etwas will, muss auch etwas geben. Und insgesamt ist dieses System nicht einmal wirklich korrupt. Die Zugeständnisse sind alle rechtens und in vielen Sondergesetzen und Verordnungen festgelegt. Wir können auch nicht sagen, dass wir mit diesem System besonders schlecht gefahren wären. Wir verweben uns ja vielmehr selbst andauernd in diesen vieldimensionalen Stoff, glauben, nützliche Arbeit zu verrichten und erfreuen uns vieler guter Freundschaften querbeet durch das System.

Versäumnisse und verdrängte Probleme

Was soll also ein Versuch, solcher helvetischer Gesellschaftseffizienz ein Ende zu bereiten? Die Leistungen der Konkordanz-Nomenklatura kann man nur an dem messen, was sie nicht leistet. Der Ökonom nennt dies Opportunitätskosten. Das schweizerische System hat Opportunitätskosten. Unser Wachstum ist seit Jahren unterdurchschnittlich und liegt weit unter dem Potential, das unser Land im weltweiten Wettbewerb erreichen könnte und müsste. Wenn es mit dem ökonomischen Wachstum so weitergeht, können wir weder unseren Staat noch dessen Sozialwerke, geschweige denn das Gesundheitswesen finanzieren. Die demographischen Defizite müssten durch Wachstum überkompensiert und nicht noch in ihren Auswirkungen verschärft werden.

Die Bereiche, in denen sich ungelöste Probleme konkret stauen, seien hier nur stichwortartig erwähnt: das von Angebot und Nachfrage abgekoppelte Gesundheitswesen, die auf demographische Entwicklungen nicht reagierende Sozialpolitik, die durch Marktferne gekennzeichnete Landwirtschaftspolitik, die ungeklärte Situation beim Finanzausgleich und die fehlende mittel- und langfristige Strategie in der Europapolitik.

Über dieser Traktandenliste der konkreten Versäumnisse gibt es folgende, allgemein bekannte, umfassende Problembereiche, die man lieber unerwähnt lässt, weil niemand sie antasten will: das sich immer intensiver vernetzende Gewebe von privater, halböffentlicher und staatlicher Produktion. Es grassiert nicht nur im Gesundheitswesen, sondern prägt auch das Verkehrswesen und den Erziehungsbereich. Kaum jemand, auch unter den freiesten der freien Unternehmer, der nicht irgendwo und irgendwie von dieser Vernetzung profitieren und demzufolge das politische System nicht für seine Zwecke nutzbar machen würde.

Dazu kommt die ausgesprochene Unfähigkeit des staatlichen Sektors, sein Personal effizient zu führen. Der Medianlohn in der öffentlichen Verwaltung betrug im Jahr 2002 91’000 Franken pro Jahr oder rund 7’200 Franken im Monat. In der Industrie und im Dienstleistungsbereich verdiente man 62’000 Franken im Jahr oder pro Monat 5’200 Franken. Von einem Personalstopp bei der öffentlichen Hand und von einem «Aushungern des Staats», wie dies oft medienwirksam kolportiert wird, kann keine Rede sein.

In diesem wenig transparenten Netzwerk entfaltet sich die Regulierungswut der Behörden aller Stufen. Als Bankier sehe ich mich derzeit mit 20 Gesetzes- und Verordnungsnovellen mit teilweise grosser und kostenträchtiger Tragweite konfrontiert. Meinen Kollegen in der Industrie oder in anderen Dienstleistungszweigen geht es sicher nicht besser. Alle diese Reglementierungen sind nur wirksam, wenn sie kontrolliert werden. Der Glaube an die Effektivität von Kontrollen und daran, dass damit Werte geschaffen worden seien, ist offenbar immer noch weit verbreitet.

Weshalb tun wir so wenig, obwohl wir doch alle über die Versäumnisse gut Bescheid wissen? Der Grund liegt für mich in diesem durch nichts und niemanden her-ausgeforderten Konsens-System, das uns zwar die vielgelobte Stabilität beschert, dessen Opportunitätskosten aber unterschätzt werden. Irgendwann kommt auch die Schweiz an einen Punkt, an dem über Alternativen debattiert werden müsste und nicht lediglich über Varianten von Subvarianten des immer Gleichen. Unser Land muss seine im weltweiten Wettbewerb namhaften Nachteile der hohen Preise und Löhne, der Nicht-Integration, des Nichtvorhandenseins von Rohstoffen, der schmalen personellen Basis und der beschränkten Möglichkeiten zu ganz grossen Würfen kompensieren, nein: überkompensieren – durch den Willen, in allen Bereichen besser zu sein, wo dies auch einem kleinen Mitspieler im Welttheater möglich ist. Stabilität allein genügt nicht – wir werden in den kommenden Jahren Dynamik brauchen.

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