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Präpositionen

Short Story von Lionel Shriver. Übersetzt aus dem Englischen von Gesine Schröder. Mit Illustrationen von Wojtek Klimek.

Präpositionen

Liebe Sarah,

bitte entschuldige, dass ich dir so förmlich schreibe, aber ich fürchte, das hier kann ich nicht bei einem Glas Wein mit dir besprechen, allein schon, weil mir selbst noch nicht klar ist, was ich sagen will.

Du sollst wissen, wie viel unsere Freundschaft mir bedeutet. Als wir alle uns kennenlernten, bei der Wandertour durch die Wüste Sinai, war uns zwei Paaren gemeinsam, dass wir uns nie beschwerten. Andere jammerten pausenlos über das Essen und die Hitze, aber uns konnte nichts erschüttern. Als du von der Sonne nässenden Ausschlag bekamst, was bestimmt deine Eitelkeit verletzte, bist du weitermarschiert, als wäre nichts dabei. Deshalb soll dieser Brief auf keinen Fall wie eine Beschwerde klingen – wobei es durchaus sein kann, dass er eine Beschwerde ist.  

Dein Ehemann ist beim elften September gestorben. Meiner ist am elften September gestorben. Wie folgenschwer diese Präpositionen seither waren, diese Abweichung um nur wenige Buchstaben des Alphabets.

Es ist seltsam, aber ich kenne deine Geschichte mindestens so gut wie meine, so oft, wie du sie im Bekanntenkreis erzählst. Es ist die Geschichte, die jeder hören will. Dass Davids Investmentbank erst kurz zuvor in die 89. Etage umgezogen war – in jeder Hinsicht ein Aufstieg, aber wären sie doch in der 37. geblieben, dann hätte David vermutlich überlebt; der ganze Tag ein Dickicht aus hätte, könnte, wäre. Dann die Durchsage im Südturm, es sollten alle in ihre Büroräume zurückkehren, durch die sieben kostbare Minuten ungenutzt verstrichen, bis das zweite Flugzeug kam. Dein letztes Gespräch mit deinem Ehemann. Seine Meldung, das einzig benutzbare Treppenhaus sei voller Rauch. Sein Beschluss, mit Dutzenden anderen aufs Dach zu fliehen. Die verschlossene Tür zu diesem Dach, von der du erst später erfahren solltest. Die Hubschrauber, die nicht kamen.

Meine Geschichte erzähle ich selten. Sie trifft weniger den Geschmack der Leute. Also lass es mich versuchen, nur dieses eine Mal. Geschichten wie die Davids gibt es jetzt tausende hier in New York, von Paul aber nur die eine.

Ich erinnere mich, wie du, an die banalsten Details jenes Vormittags. Paul musste wie immer um zehn im Shiso sein, um den Mittagsansturm in Midtown vorzubereiten. Aber diesmal nahm er das Auto, um nach der Arbeit bei einer meiner Kundinnen vorbeizuschauen: Ihr zwei Jahre alter Basenji war plötzlich nicht mehr stubenrein, und ich hatte zugesagt, ihn zum Training bei mir aufzunehmen.

Obwohl Paul als Koch doppelt so viel verdiente wie ich als Teilzeit-Hundetrainerin, stellte er meine Arbeit nie hintan. Deshalb fuhr er schon um Viertel vor neun los, um in der Zoohandlung am Broadway noch Leckerli und Futter zu besorgen. Von unterwegs rief er mich an, weil er im Radio von dem «Unfall» am Nordturm erfahren hatte. Wir machten uns Sorgen um David, da wir nicht sicher waren, in welchem Turm er sass, und ich schaltete schnell den Fernseher an. Das war das Letzte, was wir voneinander hörten. Ich vergass, «Ich liebe dich» zu sagen. Das sagten wir nicht jedes Mal. Wir wollten nicht, dass es sich abnutzt.

Ich habe versucht, dich zu erreichen, Sarah, aber natürlich war bei dir besetzt. Dann kam das zweite Flugzeug, und mit ihm die grausige Erkenntnis – dass auch der erste Einschlag kein Unfall gewesen war.

Den weiteren Ablauf habe ich mit Hilfe der Harrisons rekonstruiert, in deren Leben ich mich jetzt besser auskenne, als mir lieb ist. Inzwischen ist der Kontakt zu den beiden abgebrochen, aber eine Zeitlang waren sie fast quälend fürsorglich.

Nach einem langen Wochenende ausserhalb der Stadt, in einer Ferienanlage am See, die sie sich nur zu Nebensaisonpreisen leisten konnten, waren Joy und Buddy Harrison mit ihren drei Kindern früh losgefahren. Sie hatten sich am Vortag in Discountern mit Tennissocken, Unterwäsche und Familienpackungen Hähnchen eingedeckt; von alledem und dem Gepäck war ihr klappriger Minivan voll bis unters Dach. Gegen 9.30 Uhr krochen sie den Riverside Drive hinunter und hörten wie alle anderen Radio. Bei dem Verkehr würde Buddy spät zur Arbeit kommen und die Kinder spät in die Schule; noch war man nicht in jene andere Welt übergetreten, in der es keine Arbeit, keine Schule gab. Die Nachrichten verstörten sie, lenkten sie ab, also merkten sie nicht gleich, dass ihr Motor brannte.

Die Harrisons fuhren an der 79. rechts ran und hatten immerhin genug Verstand, die Kinder aus dem Fond zu zerren, bevor die Grossgebinde Klopapier an die Reihe kamen. Buddy wollte die Feuerwehr rufen, aber unter der 9-1-1 – noch hatte die Ziffernfolge keinen grausigen Klang – war niemand mehr zu erreichen.

Paul wird unterwegs am Strassenrand einen Minivan gesehen haben, aus dessen Unterbau Flammen schlugen. Er war der einzige, der hielt; alle anderen waren schon so paranoid, dass sie den Wagen vermutlich für eine Autobombe hielten. Die Harrisons sind passionierte Schnäppchenjäger, und selbst mein charmanter Ehemann konnte sie nicht dazu bewegen, ihre kostbaren Sonderangebote einfach abzuschreiben. Also half Paul ihnen, den Plunder auf den Gehweg zu stapeln, während das Feuer sich immer weiterfrass. Joy Harrison, die auf die Kinder aufpasste, stellte sich neben unseren Volvo, in dem noch das Radio lief. In dem Moment kam die Meldung, dass das Pentagon angegriffen worden war. Joy stiess einen Schrei aus, Buddy eilte zu ihr, und sie lauschten eine Weile gemeinsam.

Paul war noch in ihrem Wagen. Er muss von dem Rauch ohnmächtig geworden sein. Und dann ging der ganze Minivan in Flammen auf.

Ich glaube den Harrisons aufs Wort, dass sie zum Auto «sprangen», um meinen Ehemann zu retten, doch da hatte Paul schon schwerste Verbrennungen. Sie wollten den Notarzt rufen, aber unter 9-1-1 nahm noch immer niemand ab. Zugleich hörten sie keine fünfzig Meter entfernt einen endlosen Konvoi von Rettungswagen den West Side Highway hinunterheulen, die aber alle nach Downtown fuhren, nicht zu einem schnöden Motorbrand an der Ecke 79. und Riverside.

Ungefähr um diese Zeit, Sarah, musst du mich angerufen haben. Du fühltest dich so hilflos, weil du David nicht erreichen konntest; die Funknetze waren überlastet. Wir schauten mit offenen Mündern CNN, und zu unseren persönlichen Ängsten kam eine neue, grössere Form der Angst. Als wir wieder einmal lange schwiegen, stiess der Südturm auf dem Bildschirm eine grosse graue Schwade aus und löste sich in Rauch auf wie ein vierhundert Meter hoher Zaubertrick. Beide schnappten wir nach Luft. Beide hielten wir den Atem an. Beide schrien wir gleichzeitig auf. Dass wir diesen Augenblick miteinander teilten, hat uns fürs Leben zusammengeschweisst. Dafür bin ich bis heute dankbar.

Inzwischen trug, wie ich jetzt weiss, Buddy Harrison Paul zum Volvo, um seinen Retter selbst ins St. Luke’s zu bringen. Aber auf den Strassen bewegte sich zu diesem Zeitpunkt bereits nichts mehr, und sie verloren noch einmal viel Zeit im Stau.

Um 11.30 Uhr bekam ich den Anruf aus dem Krankenhaus. Vielleicht hatten sie es schon vorher bei mir versucht, aber ich hatte mit meiner Mutter telefoniert, die hysterisch in den Hörer weinte.

«Ich verstehe das nicht», sagte ich tonlos. «Mein Mann wollte gar nicht nach Downtown.»

Der Arzt kam persönlich ans Telefon. Das war ungewöhnlich, aber du erinnerst dich bestimmt – in jedem Krankenhaus der Stadt war jeder Arzt in Bereitschaft, jeder Sanitäter, jede Pflegekraft, und dann bekamen sie nichts zu tun. Gar nichts. Das absurde Missgeschick des Paul Eisenberg bot ihnen zumindest etwas Abwechslung.

«Ich sollte wohl etwas klarstellen, Frau Eisenberg», sagte der Internist, und dann sprach er ein Urteil, das mich für alle Zeiten ausschloss, mich in eine kleine, schäbige, unbedeutende Welt verbannte, eine mickrige, rein private, beliebige Welt, während der Rest der Nation den Taumel der Geschichte erlebte, die tektonischen Verschiebungen der Allianzen, die Kriege und die Unterdrückung, die gewichtigen moralischen Entscheidungen, glanzvollen Reden und selbstlosen Opfer: «Wie es aussieht, hat der Tod Ihres Mannes mit dem World Trade Center nichts zu tun.»

Tag für Tag sterben in New York City 148 Menschen – an Hirnschlägen, Verkehrsunfällen, einer Überdosis oder dem missglückten Versuch, anderen zu helfen. Vor zehn Jahren war einer davon mein Ehemann. Weil er am elften September starb, bleibe ich von den Gedenkveranstaltungen ausgeschlossen, zu denen du seither eingeladen wirst.  

Da Paul sich nicht im Shiso verbrannt hat, bekomme ich keine Rente von der Betriebsunfallkasse ausgezahlt. Und solange wir kinderlos waren, hatten Paul und ich keinen Sinn darin gesehen, Lebensversicherungen abzuschliessen. Ohne sein zweites Einkommen habe ich die Wohnung in der Upper West Side nicht halten können. Die Möbel habe ich grösstenteils verkauft. Ich hause in einer Bruchbude in Queens. Wo die Ladenschilder alle auf Chinesisch sind. Nicht mal Kabel kann ich mir leisten.

Also kannst du dir denken, wie es für mich war, als der Entschädigungsfonds dir 2,2 Millionen Dollar zuerkannte. Als Pauschale, steuerfrei. Und dir war auch das noch nicht genug. Es spiegle nicht Davids langfristige Erwerbskraft wider, meintest du. Aber ich, Sarah, ich habe auch meinen Mann verloren. Mir hat keiner einen müden Cent dafür gezahlt, und den Mindestlohn, den ich in kleinen Schecks mit Hundeausführen verdiene, muss ich nach wie vor versteuern. Hunde ausführen, ja, so sieht es jetzt aus.

Wer beim elften September gestorben ist, den nennt man einen Helden. Aber entschuldige mal, bitte – David ist nur zur Arbeit gefahren, weiter nichts. Paul hat aus eigenem Antrieb einer Familie in Schwierigkeiten beigestanden. Er war ein Held. David war ein Opfer. In der Zeitung wurde aber Davids Foto abgedruckt, nicht Pauls. Davids Tod betrauern jedes Jahr Millionen Menschen, während Pauls nur im engsten Familienkreis begangen wird.

Du betonst immer, wie besonders grausam Davids Tod gewesen sei, weil ihr schon Kinder hattet. Aber ist das nicht ein Glück? Das heisst, seine DNA ist noch auf der Welt! Von Paul ist mir nichts geblieben. Manchmal weiss ich kaum noch, wie er aussieht, aber dich erinnern die Gesichter eurer Kinder jeden Tag daran, wer David war. Paul und ich hatten gerade zu planen angefangen, wie du weisst – und als ich Ende September meine Tage bekam, bin ich heulend zusammengebrochen.

Du beneidest mich darum, dass es von Paul noch etwas zu begraben gab. Das brauchst du wirklich nicht. Die verkohlte Leiche wurde mir übereignet, aber sie hat mich nie in den Schlaf gewiegt und nie auf dem Weg zur Arbeit Hundefutter für mich eingekauft. Sie war zu nicht viel zu gebrauchen.

Manchmal hast du versucht, mich mit ins Boot zu holen. Und wer weiss, wenn die Rettungsfahrzeuge nicht alle nach Downtown gefahren wären – wo sie Stossstange an Stossstange leer und nutzlos stehen blieben –, vielleicht wäre Paul dann früher im Krankenhaus gewesen und hätte überlebt. Wäre das Pentagon nicht angegriffen worden, dann hätten die Harrisons vielleicht besser aufgepasst und meinen Ehemann noch retten können. Trotzdem bin ich offiziell keine «Witwe des elften September», und ich habe es auch nie für mich beansprucht.

In mancher Hinsicht, kann man sagen, hat dich diese Katastrophe erst zu jemandem gemacht. Davor hast du gar nicht gearbeitet, und jetzt bist du eine beliebte Rednerin bei Fundraising-Events. Du hast vor der 9/11-Kommission eine Erklärung abgegeben. Die «New York Times» druckt Briefe von dir, weil du mit deinen Erfahrungen als besonders glaubwürdig giltst. Jahr für Jahr besuchst du im smarten schwarzen Anzug die Gedächtnisfeiern. Du weisst jetzt, wer du bist, und deine Kinder sind stolz auf ihr Erbe – auf ihren Vater, der beim elften September starb.

Während du davor eher unpolitisch warst, vertrittst du jetzt klare Positionen – über die wir schon einige Male in Streit geraten sind. Die Moschee Park 51 zum Beispiel war nahe Ground Zero geplant und nicht am Ground Zero, wie ich betonte – mit Präpositionen kenne ich mich schliesslich aus. Du warst verletzt. Der Moscheebau sei «taktlos», sagtest du. Aber man könne nicht eine Religionsgemeinschaft aus einem ganzen Stadtteil verbannen, wandte ich ein, das sei verfassungswidrig. Du wiederholtest nur immer wieder, wie «taktlos» es sei. Ich sah es ein: Meine Meinung zählte nicht. Deine war privilegiert.

Das ist es vielleicht, Sarah, was ich sagen will: Ich weiss, dass es nicht danach aussieht, aber du bist privilegiert. Weltweit sterben jeden Tag über 150000 Menschen – an Cholera, Ruhr und Krebs, Hunger, Krieg oder blosser Verwahrlosung. Fast nie bekommen die Hinterbliebenen so viel Beileid von Wildfremden, wie du es tust. Davids Tod ist bedeutsam – nicht nur für dich und die Kinder, sondern für die ganze Stadt, das Land, die Welt –, während das Unglück am Riverside Drive nichts weiter symbolisiert, als dass mein Ehemann ein netter Kerl gewesen ist. Wir anderen leiden an unseren Verlusten nicht weniger als du, aber wir können ihnen nichts abgewinnen. Es gibt keine grosse, dunkle Macht wie den «islamistischen Terrorismus», dem wir sie zuschreiben könnten, nur eine grenzenlose Leere und unergründliche Schrecklichkeit. Wir leiden stumm und vereinzelt. Unsere Jahrestage sind stille, schmerzvolle Angelegenheiten, und die Zahl ihrer Teilnehmer schwindet.

In der Grundschule war eine Präposition «alles, was ein Flugzeug mit einer Wolke anstellen kann». Da Flugobjekte sich neuerdings in und sogar durch ein Gebäude bewegen können, sind Präpositionen jetzt vielleicht «alles, was ein Flugzeug mit dem World Trade Center anstellen kann». Egal, wie man sie definiert – Präpositionen sind machtvolle Wörter. Am Ground Zero, nahe Ground Zero. Beim elften September, am elften September. So wenig hat unsere Leben so unterschiedlich geprägt. Vielleicht verspürst du für diese paar Buchstaben jetzt endlich so etwas wie Dankbarkeit.

Dein Leben zerbrach an dem Tag mit dem ikonischen Kürzel 9/11, meins an einem ganz normalen Septembertag 2001. Dein Verlust hat dich erfüllt, gestärkt, hat dich mit deinen Nachbarn, der Nation verbunden, und du bist in einen exklusiven Zirkel eingetreten. Mich hat mein Verlust geschwächt, wie Verluste es eben meistens tun. Am Jahrestag werde ich trotzdem in Gedanken bei dir sein, und ich werde mit dir trauern, wenn die Zwillingslichter in den Nachthimmel schiessen, sich wölben, in der Ferne verblassen. Denke du auch an uns Verbannte, die ohne hehren Grund alles verloren haben. Dein Schicksal ist hart. Aber ich glaube, meins ist noch härter. Ein Jahrzehnt lang haben wir uns als Freundinnen das Gegenteil vorgemacht.

Wie immer in tiefer Zuneigung

Rachel

 


 Lionel Shriver (Text)

ist US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin. Sie ist mehrfach ausgezeichnete Autorin von Romanen und Kurzgeschichten, auf Deutsch von ihr erschienen sind u.a. «Wir müssen über Kevin reden» (List, 2006) und «Grosser Bruder» (Piper, 2015). Lionel Shriver lebt in London.


Gesine Schröder (Übersetzung)

ist literarische Übersetzerin und lebt in Berlin.


Wojtek Klimek (Illustration)

ist Kunstmaler und Illustrator, er lebt in Zürich.

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