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Porträt eines Schweizer Clans

Alexis Schwarzenbach öffnet die Familienarchive

In den letzten Jahren ist es wieder etwas ruhiger geworden um die Schwarzenbachs und die Willes, zwei Familien, die die Geschichte der Schweiz vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt haben. Ihre Bedeutung und ihren Einfluss in Politik und Wirtschaft haben sie seit geraumer Zeit eingebüsst. Einzig die Neuedition ausgewählter Werke Annemarie Schwarzenbachs verhalfen ihr und ihren literarischen Texten zu einer Popularität, die sie zu Lebzeiten nie gekannt hatte.

Im Frühsommer 1987 konnte Niklaus Meienbergs investigative Recherche, «Die Welt als Wille & Wahn», nochmals Staub aufwirbeln. Sein mit spitzer Feder gezeichnetes Porträt des Clans, das mit einem «Stellen wir uns vor» anhebt, changiert irgendwo zwischen literarischer Fiktion und Geschichtsschreibung. Da Meienberg der Zugang zu den Familienarchiven verwehrt blieb, konnten seine unorthodoxen Methoden unter anderem eine Debatte um die Archiv- und Erinnerungspolitik der Schwarzenbach-Willes auslösen. «Da hätte einer aus dem Vollen schöpfen können und nicht wie ich die heterogensten Mosaiksteinchen aus einem fremden Milieu zusammentragen müssen. Ein Aussenstehender kann sich dabei leicht die Gesundheit ruinieren, evtl. schwermütig werden, der Umgang mit Gespenstern dieses Formats ist nicht bekömmlich», schreibt Meienberg in seinem Nachwort. Er wollte sich anderem zuwenden, bevor «die Lemuren und Basilisken sich in allen Ecken meiner Wohnung einzunisten beginnen und mich mit hundert schwarzen Augen ansehen und Renée Schwarzenbach durch meine Träume zu reiten sich anschickt».

Mit «Die Geborene» liegt nun ein Buch über besagte Renée Schwarzenbach-Wille (1883–1959) und ihre Familie vor. Geschrieben hat es ihr Urenkel, der Historiker Alexis Schwarzenbach, der Zugang zu den zahlreichen Privatarchiven seiner Verwandten hatte. Zusammen mit den Akten aus öffentlich zugänglichen Archiven konnte er so eine Fülle bisher unbekannter Dokumente einsehen. Es ist die Leistung des Buches, dass es in der Auswertung dieser Quellen Lücken schliesst und dadurch bisher Bekanntes, die «Mosaiksteinchen», zu einem Bild zusammenfügen kann. Dem Verdacht, der aufkommen könnte, dass hier ein Familienmitglied ein beschönigendes Buch geschrieben habe, begegnet Alexis Schwarzenbach mit seiner Akribie und seinem insgesamt unprätentiösen, geradezu nüchternen Stil, mit dem er die politischen Fehleinschätzungen und Verfehlungen sowie die teils massive Verschrobenheit seiner Verwandten konstatiert.

Für seine Erzählung der Familiengeschichte sind Alexis Schwarzenbach vor allem die Photoalben seiner Urgrossmutter wichtig geworden. Renée photographierte seit ihrer Jugend leidenschaftlich, und jedes der Photos, das sie in ihre Alben aufnahm, versah sie mit einer Legende. Die Alben können daher als ihre visuellen Tagebücher betrachtet werden. Wie nun der Leser anhand einer Auswahl dieser kleinformatigen Bilder durch das Leben Renée Schwarzenbach-Willes und ihrer Familie geführt wird, macht die Originalität dieses Buches aus: bald ist es der Hinweis auf ein unscheinbares Detail, das dann zentrale Bedeutung erlangen kann, bald ist es die schriftliche Quelle, die durch das Photo eine andere oder zusätzliche Lesart erhält, selten bleibt es bei einer leeren Zeigestockgeste und der blossen Illustration.

Geboren wurde Renée Schwarzenbach als jüngstes von insgesamt fünf Kindern General Ulrich Willes (1848–1925) und dessen Frau Clara Wille-von Bismarck (1851–1946). Trotz den Befürchtungen des Vaters machte seine Tochter eine gute Partie und heiratete 1904 den Seidenindustriellen Alfred Schwarzenbach (1846–1940). Durch die Heirat ergeben sich verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den angesehensten und wohlhabendsten Familien Zürichs: Renées Bruder Ully hatte Inez Rieter geheiratet, Alfred Schwarzenbachs Schwester Olga wiederum war die Frau Georg Reinharts geworden. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern zieht Renée Schwarzenbach-Wille auf das Landgut Bocken, das unter ihrer Ägide eine Pferdezucht erhält und wie das elterliche Mariafeld als ein offenes Haus geführt wird. Häufig zu Gast ist neben Wilhelm Furtwängler, Arturo Toscanini, Richard Strauss und Gerhart Hauptmann die Opernsängerin Emmy Krüger. Zwischen ihr und Renée entwickelt sich eine über vierzig Jahre andauernde Liebesbeziehung, die offen und mit einer überraschenden Selbstverständlichkeit gelebt wird. Renée ist nun häufig in München, wo sie mit ihrer Freundin zusammenlebt. Es sind aber auch Krügers antisemitische Ausfälle gegen den Dirigenten – Zitat Krüger: «Saujud» – Bruno Walter, die die Anwesenheit und Vermittlungsbemühungen ihrer Freundin erfordern. Renées Haltung gegenüber Krügers Antisemitismus ist nicht überliefert. Bei seiner Aufarbeitung der Verstrickungen seiner Familie mit Nazi-Deutschland kann Alexis Schwarzenbach aber zeigen, dass das Bild des nazifreundlichen Clans zu differenzieren ist. So konnte bei aller Begeisterung Renées Bruder Ully Wille nicht für die Hetze der Nazis gegen Juden und Kommunisten gewonnen werden. Die Einladungen von NSDAP-Mitgliedern auf Bocken, Hitlers Besuch in Mariafeld und bei Ully Wille in der Villa Schönberg und der Nachweis von Geld, das von den Schwarzenbach-Willes floss, macht aber deutlich, dass teils grosse Hoffnungen der Familie auf den Nazis lagen. Geschildert wird auch das Zusammentreffen Emmy Krügers mit Hitler in Bayreuth, dessen Bewunderung und Krügers Hoffnung, dass mit der Machtergreifung ihre Karriere als Opernsängerin neuen Schwung erhalte. Nach 1945 änderte Emmy Krüger ihre Tagebucheinträge aus der Kriegszeit und tilgte alle nazifreundlichen Bemerkungen. Der Autor macht deutlich, dass es keinen Beleg dafür gibt, dass Renée ihre einstige Begeisterung für den Nationalsozialismus nach Ende des Zweiten Weltkriegs kritisch reflektiert hätte.

Alexis Schwarzenbach verhehlt kaum, wem seine Sympathien in der Familie gelten. Es ist vor allem Renées Tochter, die Autorin Annemarie Schwarzenbach. Mit der Pubertät und als sich Annemarie für andere Frauen zu interessieren beginnt, wird die Beziehung zwischen Mutter und Tochter immer schwieriger. Annemaries Drogensucht und die zahlreichen gescheiterten Entzugsversuche erhöhen zusätzlich das Konfliktpotential. Lösen konnte sich Annemarie von ihrer Mutter nie, auch nicht durch die Heirat mit einem französischen Diplomaten und ihre Reisen, die sie durch Persien, Afrika und die USA führten. 1942 stürzte sie in Sils unglücklich mit dem Fahrrad. Was in den Wochen zwischen dem Sturz, dem ersten Aufwachen aus dem Koma und dem frühen Tod Annemarie Schwarzenbachs geschah, zeigt Alexis Schwarzenbach erstmals anhand bisher unbekannter Dokumente.

Es ist Alexis Schwarzenbachs Verdienst, die Personen in seiner Familiengeschichte mit all ihren Facetten zu zeigen. Gerade diese ambivalenten und widersprüchlichen Figuren, ihre konfliktreichen Beziehungen und das Ineinanderübergreifen von Politischem und Privatem ist es, was in «Die Geborene» ein erschreckend-faszinierendes Porträt der Familie Schwarzenbach-Wille entstehen lässt.

Alexis Schwarzenbach, «Die Geborene. Renée Schwarzenbach-Wille und ihre Familie». Zürich: Scheidegger & Spiess, 2004.

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