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Polyphonie der Kulturen

Aus Vielem Vieles

Folgen wir den öffentlichen Meinungsmachern, dann läuft kulturelle Globalisierung auf eines von zwei Szenarien hinaus: Im weitverbreiteten Bild der globalen Kulturschmelze werden kulturell einst eigenständige Gesellschaften von weltweit verfügbaren Waren und Medien überrannt. Wenn in Kamerun viele Neugeborene den Namen Derrick erhalten, Menschen von Breslau bis Bangkok Big Macs essen und Spendensendungen westlicher Hilfsorganisationen die lokale Kleiderproduktion in Mali vernichten, dann erscheint die kulturelle Vielfalt akut bedroht. Und da die meisten der globalen Güter und Ideen westlichen Ursprungs sind, liegt es nahe, in Globalisierung nur einen neuen Namen für Amerikanisierung oder Westernisierung zu sehen.

Die zweite, nicht weniger apokalyptische Zukunftsversion, sieht die Welt in kultureller Fragmentierung und interkulturellen Konflikten versinken. Als Antwort auf die Homogenisierung scheint den Menschen nur noch die Abschottung gegen Fremdeinflüsse und die Zuflucht zu einem übersteigerten ethnischen Bewusstsein übrig zu bleiben. Die These von Kultur als neuer Konfliktlinie – Huntingtons «Kampf der Kulturen» – scheint sich durch die wachsende Anzahl ethnischer und religiöser Konflikte in Zentralafrika, Südasien oder auf dem Balkan zu bestätigen. Seit dem 11. September 2001 hat dieses Szenario auch für die reichen westlichen Industriestaaten bedrohlich an Aktualität gewonnen.

Doch aus ethnologischer Perspektive erweisen sich die Grundannahmen, auf denen die Homogenisierungs- und Fragmentierungsprognosen basieren, als unhaltbar. Kultureller Wandel ist nicht unweigerlich ein Nullsummenspiel und folgt einer wesentlich komplexeren Dynamik als meist dargestellt.

Ohne Zweifel verschwinden zahlreiche indigene Lebensformen und Denk-weisen. Fischfangtechniken und schamanistische Rituale der kanadischen Inuit geraten in Vergessenheit, ebenso wie Kopfjagd auf den Philippinen verboten wurde und Ganzkörpertätowierungen auf Sulawesi seltener werden. Aber werden wir dadurch alle gleich? Aus der ethnologischen Forschung geht hervor, dass Menschen und Gesellschaften sich nicht passiv von Fremdeinflüssen überrollen lassen, sondern mit kulturellen Importen, seien es Seifenopern oder neue Technologien, auf vielfältige Weise umgehen, sie abwehren oder verwandeln. Oft benutzen sie Fremdes um, wie es der amerikanische Anthropologe Marshall Sahlins ausdrückt, «mehr wie sie selbst zu werden».

Kultureller Wandel durch Aneignung

Nehmen wir eine Sportart wie Cricket: Von der Südsee bis zur Karibik führten die britischen Kolonialherren diese britischste aller Sportarten ein. Cricket sollte die Wilden zivilisieren und gewaltsame Energien, die sich vielerorts in Stammeskriegen entluden, in friedliche Bahnen lenken. Der Sport verkörperte die Werte der viktorianischen Oberschicht: Ausdauer, Männlichkeit, Fairplay und Teamgeist. Doch nachdem die Engländer ihre kontrollierte Gefühls- und Körperwelt ins ganze Empire exportiert hatten, verwandelte sich der Sport auf wundersame Art und Weise. Die Bewohner der Trobriand Inseln beispielsweise trugen zu den Wettkämpfen ihre traditionelle Kriegsbemalung. Sie vergrösserten die Teams, so dass alle auf dem Spielfeld erscheinenden Männer teilnehmen konnten, manchmal bis zu 50 auf jeder Seite. Statt den Ball zu werfen, schleuderten sie ihn wie einen Speer, tanzten zwischen den Spielrunden zu den Klängen britischer Marschmusik und verkleideten ihre Team-Maskottchen als Touristen. Vor allem erwiesen sie der gastgebenden Mannschaft alle Ehre: Von vornherein stand die nämlich als Sieger fest.

Weltweit veränderten die Menschen den Sport mehr, als dass er sie veränderte. In Indien beispielsweise wurde Cricket im Laufe des 20 Jahrhunderts vollständig indigenisiert und zum Ausdruck eines leidenschaftlichen Nationalismus’. Das heutige postkoloniale Cricket ist längst nicht mehr der puritanische Gentleman’s Sport aus Eton. Mit nationalem Elan aufgeladen und kommerzialisiert, ist es ein aggressiver und spektakulärer Sport geworden. Bei Begegnungen zwischen Indien und Pakistan sind die Spiele ebenso blutrünstig wie die Preisgelder und Werbeeinnahmen bombastisch.

In unserer hochgradig vernetzten Welt werden die geographischen Ursprünge vieler Waren, Institutionen oder Konzepte für deren Konsumenten am anderen Ende der Welt bedeutungslos. Fremdes wird in die eigene Lebenswelt integriert und dabei verwandelt. Das ist beileibe nichts Neues. Kulturelle Eigenarten und Identitäten waren immer schon das Produkt von Beziehungen. So ist die Geschichte aller Nationalküchen das Resultat der unterschiedlichsten historischen Vermischungen. Nehmen wir die spanische Küche: Oliven und Knoblauch wurden von den Römern eingeführt, Saffran, schwarzer Pfeffer, Muskatnuss, Zitronen, Zuckerrohr, Reis und bittere Orangen kamen mit der arabischen Besetzung auf die iberische Halbinsel, süsse Orangen wurden über Portugal aus China transportiert und Kichererbsen kamen aus Kathargo. Und erst mit der Entdeckung der Neuen Welt bekamen Spanier Kartoffeln, Tomaten, Paprika und Schokolade auf den Teller. Man fragt sich, was sie davor gegessen haben.

Der Prozess der Aneignung kann sowohl positive als auch negative Folgen haben. Ein Konzept wie das der Menschenrechte oder technologische Neuerungen wie Auto-Sicherheitsgurte können ebenso in bestehende Lebenswelten integriert werden wie Tomb Raider und eine Kultur der Gewalt.

Eine neue Vielfalt

Im Zuge der kulturellen Globalisierung verwischen sich die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, kreolisierte Kulturen entstehen. Diese Kulturmelange lässt sich an Individuen beobachten, kennzeichnet zunehmend aber auch ganze Gesellschaften. Besonders eindrucksvoll lässt sich der Prozess der Kreolisierung an der Entwicklung der Sprachen beobachten; das Konzept selbst wurde der Linguistik entnommen und bezeichnete ursprünglich die neu enstandenen Sprachen in der Karibik und Westafrika, die eine Mischung aus der jeweiligen Kolonialsprache und afrikanischen Sprachen sind. Auf der einen Seite weist uns die letzte Ausgabe des «Atlas of the World’s Langauges in Danger of Disappearing» (2002) der Unesco darauf hin, dass die Hälfte aller über 6000 heute noch gesprochener Sprachen akut bedroht ist. Viele sehen einen wesentlichen Grund im Vormarsch des Englischen als globaler Lingua Franca und bemühen sich, wie die Franzosen oder Japaner, englischen Wörtern neue Wortschöpfungen in den eigenen Sprachen entgegenzusetzen.

Die neuen Kultur- und Identitätsformen lassen sich vor dem Horizont unseres herkömmlichen Kulturverständnisses nicht adäquat erfassen. Kulturelle Unterschiede zwischen Menschen werden gemeinhin aus ihren spezifischen historischen Ursprüngen abgeleitet. Kultur stellt eine klar abgegrenzte, relativ statische Einheit dar. Die Welt gleicht einem Mosaik, dessen Steinchen die Kulturen sind. Kultur und lokale Gemeinschaft sind in diesem Bild identisch. Aber wie aussagekräftig ist die kulturelle oder nationale Herkunft heute? Im Hennes&Mauritz am Potsdamer Platz in Berlin treffen russische Einwanderer auf deutsche oder türkische Jugendliche, Webdesignerinnen auf Buchhalter, Charlottenburg auf Marzahn. Sie alle tragen Canvashosen, kaufen CD-Roms und mögen Falaffel. Marktforschungsunternehmen haben die flexibilisierten Identitäten schnell erkannt und ihre Konzepte angepasst. So erstellte die amerikanische Marktforschungsagentur Claritas eine hochaufgelöste Landkarte der US-amerikanischen Gesellschaft, die nicht mehr auf Herkunft, sondern auf geschmacklichen Vorlieben und Lebensstilen basiert. Nun sind US-Amerikaner nicht mehr «Hispanics» oder «Black Americans», sondern gehören zu den Lebensstilkategorien «Money&Brains» oder «Rustic Elders».

Transnationale Allianzen

Die skizzierte Kulturmelange ist jedoch nur eine der dominanten zeitgenössischen Dynamiken. Gleichzeitig erleben wir eine Kulturalisierung, die teilweise der Kreolisierung diametral entgegenwirkt. Das Konzept «Kultur» ist in den letzten Jahrzehnten zu einem wichtigen Bezugsrahmen für Gruppen weltweit geworden. Indigene Völker, ethnische Minderheiten, aber auch transnationale Zusammenschlüsse, wie die der Schwarzen, Homosexuellen oder Native Americans, berufen sich auf ihre kulturellen Besonderheiten, um Anerkennung zu erlangen, Rechte im nationalen Raum durchzusetzen und Förderungen zu erhalten. Viele dieser Bewegungen haben erkannt, dass ihre Anliegen nur auf der globalen Ebene Gehör finden und mit Hilfe globaler Strukturen durchgesetzt werden können. Um von Menschen ausserhalb der eigenen Gruppe gehört und verstanden zu werden, artikulieren sie ihre kulturellen Besonderheiten auf eine standardisierte Art und Weise. Jede «Kultur» beruft sich auf weltweit gültige Kategorien, wie eigene Sprache, Lebensstile, Weltbilder oder Rituale, entlang derer sie sich voneinander unterscheiden. Nur durch ein gemeinsames Vokabular und interkulturell verständliche Kategorien können transnationale Allianzen aufgebaut werden und etwa Deutsche sich an Unterschriftenaktionen gegen den Uranabbau im Gebiet der australischen Aborigines beteiligen.

Die Instrumentalisierung von Kultur geht mit einem neuen Bewusstsein für die eigenen Besonderheiten einher, während vorher die eigene Lebensweise unreflektiert als Norm betrachtet oder im Verhältnis zur Mehrheitskultur als minderwertig angesehen wurde. Viele Gemeinschaften, von den indischen Dalit bis zu den japanischen Ainu, nutzen das neue kulturelle Selbstbewusstsein, um ihr kulturelles Überleben zu sichern und Würde und Anerkennung zu erlangen. Die Betonung kultureller Eigenheiten birgt aber auch die Gefahr der Verabsolutierung kultureller Unterschiede und eines von Hass und Rassismus geprägten Ethnozentrismus. In Ethnographien über die Ursachen ethnischer oder ethnisch-religiöser Gewalt in Burundi, Nordirland und Jugoslawien wird deutlich, dass körperliche Gewalt zwischen ehemals friedlich koexistierenden Bevölkerungsgruppen eng mit einer existentiellen Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität verbunden ist. Diese kognitive Unsicherheit (wer bin ich? wer ist der andere?) nimmt im globalen Zeitalter zu und kann, politisch instrumentalisiert, in mörderischen Ethnozentrismus umschlagen.

Die meisten Gesellschaften bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Mosaik und Kreolisierung. Viele Gemeinschaften, die ein essenzialisiertes und statisches Bild ihrer Gemeinschaft propagieren und ihre Kultur von der Globalisierung bedroht sehen, bedienen sich selbst einer eklektischen Mischung aus Eigenem und Fremdem. Der Hisbollah-eigene Fernsehsender «Der Leuchtturm» zeigt im Libanon als Teil des Kinderprogramms Donald Duck und die Schlümpfe. Im Anschluss werden Photos gefallener Märtyrer mit der Bitte um Spenden ausgestrahlt. Und viele Sprecher «authentischer» indigener Kulturen leben de facto ein höchst modernes Leben und bewegen sich zwischen UN-Versammlungen gen, Universitätssälen und der eigenen Gemeinschaft hin und her, um für ihre Ideen und politischen Anliegen Gehör zu finden.

Migranten: Vorreiter des Kosmopolitismus

Noch eine weitere kulturelle Dynamik hat im Zuge der Globalisierung massgeblich an Bedeutung gewonnen: die sogenannte Transnationalisierung. Eine Bevölkerungsgruppe, deren Leben unzertrennlich mit der zeitgenössischen Globalisierung verbunden ist, sind Migranten. Noch nie waren so viele Menschen innerhalb oder ausserhalb ihrer Herkunftsstaaten unterwegs: Philippinische Kindermädchen in Singapur, mosambikanische Minenarbeiter in Südafrika, polnische Handwerker in Deutschland, marokkanische Krankenpflegerinnen in Italien – die Liste ist endlos. In den Medien werden Migranten, von Edelmigranten wie indischen Programmierern mal abgesehen, fast immer als entwurzelte Opfer beschrieben, die den schnell wechselnden globalen Wirtschaftstrends schutzlos ausgeliefert sind, von Migrationsmaklern und Arbeitsgebern ausgebeutet und von der Einwanderungspolizei verfolgt werden. Doch genauso, wie sich Migranten in prekären «weder-hier-noch-da» Lebenslagen befinden, sind sie strategisch kalkulierende Menschen. Sie verstehen es, die neuen Kommunikations- und Transporttechnologien geschickt für ihre eigenen Interessen zu nutzen. In mancherlei Hinsicht sind sie die Vorreiter eines neuen Kosmopolitentums.

Während früher hugenottische Einwanderer in Preussen, Polen oder in den USA nach einiger Zeit nur noch symbolisch die Zugehörigkeit zu ihrem Ursprungsland pflegten und Sprache und Tischmanieren des neuen Wohnorts annahmen, können Migranten heute – dank moderner Kommunikations- und Transporttechnologien – wichtige Beziehungen zu ihren Herkunftsorten aufrechterhalten. Türkische Händler in London beziehen ihre Ware aus der Türkei. Brasilianische Prediger beten für ihre Landsleute in Chicago. Senegalesen und Marokkaner in Italien stehen in ständigem Kontakt mit ihren Freunden und Familien in Afrika. Im Zuge von weltweiter wirtschaftlicher Umstrukturierung und weitverbreitetem Rassismus macht es für Migranten Sinn, nicht nur auf ein Land allein zu setzen. Viele von ihnen nutzen souverän die doppelte Verankerung; wägen Vor- und Nachteile einzelner Staaten geschickt ab. An ihrem neuen Wohnort geniessen sie soziale Freiheiten und einen höheren materiellen Lebensstandard. Im Heimatland holen sie sich zum Beispiel die Ehefrauen, Anerkennung und den politischen Einfluss, der ihnen in ersterem verwehrt ist.

Aber auch einige Entsender-Staaten, wie die Philippinen, die Volksrepublik China oder Mexiko, schätzen und fördern aktiv die doppelte Verankerung ihrer Bürger im Ausland. Denn sie haben erkannt, dass diese sowohl potentielle politische Verbündete sind, als auch mit ihren Rücküberweisungen und Investitionen massiv zum nationalen Wohlstand beitragen. Für einige dieser Migrantengruppen stellt die weltweit verstreute, transnationale ethnische Gemeinschaft neben Heimatland und neuem Wohnort einen dritten Orientierungspunkt dar. So sind viele türkische, mexikanische, chinesische oder indische Migranten durch jeweils dichte Netze aus Printmedien, Satelliten-TV, Websites, Auslands-Organisationen und persönlichen Beziehungen miteinander verbunden.

Dieses Geflecht zwischen Herkunftsland, Wohnort und transnationaler Gemeinschaft bietet nicht nur einen fruchtbaren Nährboden für neue Lebensformen; hier finden alternative Globalisierungen statt, die sich mit unserer westlichen nur partiell überlappen, und die wir aus unserem euro-zentri–sch-en Blickwinkel oft gar nicht wahr—neh-men. So nehmen beispielsweise viele Ungarn, die in den zahlreichen chinesi-schen Betrieben in Budapest arbeiten, an einer chinesischen Globalisierung teil. Manche von ihnen lernen Chinesisch, gehen Liebesbeziehungen zu ihren Arbeitgebern ein und sehen in ihrer Freizeit statt den «Simpsons», «Gelbe Sonne über der Donau», eine Seifenoper, produziert von, für und über die chinesischen Migranten in Ungarn.

Joana Breidenbach, geb. 1965, studierte Ethnologie, Kunstgeschichte und Geschichte an der Ludwig-Maximilians-

Universität, München, wo sie 1994 auch promovierte. Seit 1992 arbeitet sie als Autorin und Journalistin.

Ina Zukrigl, geb. 1967, studierte Ethnologie, Politikwissenschaft und Völkerrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität, München. Sie lebt in Berlin und arbeitet in einem Unternehmen für Wissensmanagement.

Seit 1992 liegen von den beiden Autorinnen zahlreiche Veröffentlichungen zu den kulturellen Folgen der Globalisierung vor. Bekannt wurde vor allem «Tanz der Kulturen», Verlag Antje Kunstmann 1998.

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