
Politisches Kalkül statt Gesundheitsschutz
Ein neues Buch enthüllt die ungeschwärzten RKI-Protokolle. Es zeigt, wie interne Einschätzungen und öffentliche Aussagen weit auseinanderklafften. Coronamassnahmen wurden auf Gutdünken der Politik erlassen.
«Vereinnahmte Wissenschaft: Die Corona-Protokolle des Robert-Koch-Instituts», herausgegeben von Journalist Bastian Barucker, gewährt Einblicke in die bis vor kurzem geheim gehaltenen RKI-Protokolle und zeichnet den wissenschaftlichen Kenntnisstand der Corona-Jahre nach.
Rückblende: Nachdem die Krisenstabsprotokolle des RKI freigeklagt sind, werden sie im Sommer 2024 ungeschwärzt veröffentlicht. Die Dokumente offenbaren deutliche Widersprüche zwischen internen Bewertungen des RKI und der offiziellen Kommunikation.
So stufte die RKI-Leitung um Lothar Wieler und Lars Schaade am 17. März 2020 das Risiko der Atemwegserkrankung COVID-19 über Nacht als «hoch» ein – ohne belastbare Daten und ohne Einbindung der zuständigen Wissenschafter. Interne Experten sahen weder eine Übersterblichkeit noch einen Anstieg von Atemwegserkrankungen. Eine spätere Herabstufung des Risikos wurde vom Gesundheitsministerium blockiert – etwa um die Debatte über eine allgemeine Impfpflicht zu beeinflussen. Auch die Maskenpflicht hatte laut den Protokollen keine wissenschaftliche Grundlage. Trotz interner Hinweise auf mögliche Langzeitschäden bei Kindern wurde sie eingeführt; es kam zu landesweiten Schul- und Kitaschliessungen.
Die später folgende Impfkampagne stützte sich auf Vakzine, die im Eilverfahren entwickelt wurden; wichtige Daten sollten erst nach der Zulassung erhoben werden. Im RKI war früh klar, dass die Impfungen nicht vor Übertragungen schützten. Dennoch drängte die Bundesregierung auf eine Durchimpfung der Bevölkerung. Das von Politik und Medien propagierte Mantra von der «Pandemie der Ungeimpften» erwies sich nach internen Einschätzungen als wissenschaftlich nicht haltbar. Dennoch wurde es verbreitet.
Die Protokolle belegen, dass das RKI politisch gesteuert und in seiner Unabhängigkeit stark beschnitten war. RKI-Präsident Lothar Wieler räumte ein, dass die Begründungen für Lockdowns ein «Management-Thema» gewesen seien und sich nicht auf wissenschaftliche Grundlage stützten.
Das Buch fordert eine umfassende Aufarbeitung, um künftige Fehler zu vermeiden und die gesellschaftlichen Gräben zu überwinden. Es macht klar: Wissenschaft muss ebenso wie die Justiz frei von politischem Einfluss sein.
Manchem mag das Corona-Thema längst überdrüssig erscheinen. Doch die Krise war von tiefgreifenden Eingriffen in die Grundrechte geprägt – in einem Ausmass, das in der jüngeren Geschichte beispiellos ist. Um ähnliche Fehlentwicklungen künftig zu verhindern, braucht es eine gründliche Aufarbeitung, bei der auch die Hauptverantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. (Michael Straumann)
Bastian Barucker (Hg.): Vereinnahmte Wissenschaft: Die Corona-Protokolle des Robert-Koch-Instituts, massel Verlag, 2025.