Politische Zwangs-Neurosen
Gefangen im Zwang zu mehr Sicherheit und Ordnung, verfallen immer mehr Politiker derselben Phantasie: die geltende Ordnung mit mehr Zwang durchzusetzen.
Mit dem staatlichen Gewaltmonopol wurde in der Neuzeit dem willkürlichen Zwang ein enges Korsett auferlegt. Das Recht zum Einsatz von Zwang wurde auf den Staat beschränkt und dort durch Gesetze weiter limitiert. Mit der Revision des Strafrechts ist nun in der Schweiz eine Tendenz zu erkennen, die einschneidendste aller Zwangsmassnahmen, den Freiheitsentzug, einzudämmen. Treffend benennt diesen Trend der Titel einer Ausstellung des Bundesamts für Statistik über die Zukunft der Freiheitsstrafe in der Schweiz: «Überwachen statt einsperren».
Parallel zu dieser Entwicklung erleben Zwangsmassnahmen heute freilich eine neue Blüte. Es scheint mir sinnvoll, sie im weiteren historischen Kontext einer biopolitischen Gouvernementalität zu situieren, wie sie vom französischen Ideenhistoriker Michel Foucault beschrieben wurde. Die moderne «Biomacht» hat zum Ziel, aus Menschen Lebewesen zu machen, die ständig überwacht und deren Ressourcen fruchtbar gemacht werden. Ich nehme als Beispiel das Ausländerrecht. Wird die Wirkung der Verbote und Vorschriften analysiert, so besteht ihre Funktion nicht nur in der Verhinderung illegaler Einwanderung, sondern ebenso sehr in der Produktion von Bedingungen, die notwendig und hinreichend sind, um illegale und deswegen auch billige Arbeitskräfte zu schaffen. Der Erfolg dieses Effekts hängt mitunter von den drohenden Zwangsmassnahmen ab. So ist eine bis zu zweijährige Inhaftierung allein aufgrund des Widerstands gegen die eigene Ausweisung möglich. Das Eingehen von Gefälligkeitsehen wird mit bis zu drei Jahren Haft bestraft.
Diese im Vergleich zu strafrechtlichen Strafmassen absolut unverhältnismässigen Massnahmen und Eingriffe in die Privatsphäre sind aus meiner Sicht rechtsstaatlich kaum zu rechtfertigen. Aber sie lassen sich im bereits skizzierten biopolitischen Kontext erklären. Illegaler Aufenthalt wird in dieser Sehweise nicht als individuelles Delikt, sondern als systematische Untergrabung der territorialen Souveränität interpretiert. Entsprechend inszeniert der Rechtsstaat, der ja im ursprünglichen Verständnis die gewährten Grundrechte als Ausfluss seiner national-territorialen Souveränität versteht, die teilweise Aussetzung der Grundrechte gegenüber illegal auf seinem Territorium Anwesenden gerade als Erneuerung eben dieser Souveränität, derer er im Kontext der Globalisierung zunehmend verlustig geht. Lager und Ausschaffungsgefängnisse stiften so einen innergesellschaftlichen Zusammenhalt, indem sie als abgegrenzte Räume der Exklusion aus der Gesellschaft und als Orte der Verweigerung des verhältnismässigen rechtsstaatlichen Umgangs funktionieren.
Die Politik macht links wie rechts in ihrem blinden Vertrauen auf Verbote und Zwangsmassnahmen freilich nicht bei den Ausländerinnen und Ausländern halt. Die räumliche und zeitliche Einzonung des öffentlichen Raums gegen unerwünschtes Verhalten greift um sich. Auf Rayonverbote für Ausländer folgten solche für Punks, Drogenabhängige und Bettler. Dann jene für sogenannte Hooligans. Und unterdessen sind als nächste Randgruppe die Jugendlichen dran. Jedes Versagen der entsprechenden Zwangsdispositive ist gemäss einem wachsenden Konsens kein Versagen des Zwangs, sondern gerade umgekehrt das klare Zeichen dafür, dass die Zwangsmassnahmen ausgedehnt werden müssen. So ist es seit Anfang Juli 2008 in Chur spätnachts verboten, in der Öffentlichkeit Alkohol zu trinken. In den Kantonen Aargau, Bern und Zürich haben Gemeinden nächtliche Ausgehverbote für Jugendliche verfügt. Es gelte «die Freiheit der Anständigen» zu schützen, liess sich die freisinnige St. Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter zitieren. Und eben erst legte auch die SP den Entwurf eines Sicherheitspapiers vor, das Bettelverbote, eine spezielle Jugendpolizei und gezielte Videoüberwachung «an neuralgischen Orten» fordert.
«Der Ausnahmezustand ist normal geworden. Das Leben ist eine Zone», schrieb der Journalist Michael Lütscher. Der Wunsch nach einem umfassenden gesellschaftlichen Ordnungsdispositiv ist wohl das aktuell am weitesten verbreitete kollektive Phantasma von Politikern linker wie rechter Couleur. War im Nachgang zu 9/11 noch vorab von der «Freiheit» die Rede, die mit immer neuen Sicherheitsmassnahmen zu ihrem Schutze eingeschränkt werden müsse, so ist heute beunruhigenderweise der offene Zwang als Mittel zur Schaffung der gesellschaftlichen Ordnung im öffentlichen Raum wieder salonfähig geworden – gegen Rauchende wie Trinkende, gegen Langhaarige wie Glatzen.
Balthasar Glättli, geboren 1972 in Zürich, hat Philosophie studiert. Er ist Generalsekretär der migrationspolitischen Organisation Solidarité sans frontières und Gemeinderat der Grünen in Zürich.