Politik zum Nachschlagen
Gisela Riescher (Hrsg.)
Politische Theorie der Gegenwart: In Einzeldarstellungen von Adorno bis Young.
Stuttgart: Kröner, 2004.
Manfred Schmidt
Wörterbuch zur Politik
Stuttgart: Kröner, 2004.
sto schwieriger, so scheint es, fällt auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit politischen Phänomenen. Obgleich auf dem Kontinent kaum mehr als 50 Jahre alt, hat sich die Disziplin Politikwissenschaft in einer Weise differenziert, dass Verbindungen wischen einzelnen ihrer Zweige heute selten geworden sind. Dementsprechend fristen ihre Nachschlagewerke zumeist ein Schattendasein, das nur von dem Interesse jüngerer Semester ein wenig erhellt wird. Dabei belegen zwei aktuelle Veröffentlichungen des Stuttgarter Alfred Kröner Verlags, dass die Vernachlässigung der Grundbausteine, also der Begriffe und theoretischen Ursprünge der Politikwissenschaft, zu Unrecht erfolgt.
Diesen Elementarteilchen einer Disziplin ist der Politikwissenschafter Manfred G. Schmidt mit seinem «Wörterbuch zur Politik» ganz dicht auf der Spur. In der zweiten, überarbeiteten Auflage seines bekannten Lexikons findet der Leser mehr als 3’800 Einträge, die in knapper Form und mit biographischen Hinweisen erläutert werden: «ABC-Waffen» finden darin ebenso ihren Ort wie «Gewaltmonopol» oder die von Demokratieforschern untersuchte «Output-Legitimität» politischer Systeme. Dabei stehen allgemeine Begriffe aus dem Alltag der Politik gleichberechtigt neben Fachbegriffen der Disziplin; so findet sich etwa das politikökonomische Konzept des «Agenda-Setting» kurz vor der «Agenda 2010» des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Diese bewusste Dualität ist aus zwei Gründen eine der grossen Stärken der Schmidtschen Stoffsammlung. Erstens kann anhand seiner Aktualität das Werk auch als «Zeitzeichen» (so die NZZ zur Erstausgabe 1995) gelesen werden: Neueinträge und Streichungen dokumentieren nicht allein Entwicklungen innerhalb der Fachdisziplin, sondern spiegeln die Politik selbst wider. Neue und erweiterte Stichwörter zur europäischen Politik reflektieren etwa die zunehmende «Europäisierung» nationalstaatlicher Politik, wobei Schmidt die Auswahl seiner Stichwörter anhand von Lehrplänen und Häufigkeitsuntersuchungen bestimmt hat und den Fokus bewusst auf die Bundesrepublik Deutschland und ihre Einbettung in die Europäische Union legt. Zweitens entledigt sich der Verfasser durch dieses Beisammensein der Schwierigkeit, die ohnehin mäandernden Grenzen der Teilbereiche der Politikwissenschaft nachzeichnen und etwa zwischen politischer Ideengeschichte und politischer Theorie unterscheiden zu müssen.
Die zweite Auflage weist rund 600 neue Einträge auf und enthält 6’000 Literaturangaben. Eine beeindruckende Leistung, vor allem wenn man bedenkt, dass der Verfasser dieses Buch als alleiniger Autor gestemmt hat. Manfred Schmidt, der mit Unterbrechungen seit 1987 an der Universität Heidelberg arbeitet, legt hier tatsächlich ein Wörterbuch zur Politik vor, also ein Nachschlagewerk zum Gegenstand selbst und zu dessen wissenschaftlicher Erfassung. Damit steht in er in einer bemerkenswerten lexikographischen Tradition der Heidelberger Politikwissenschaft, denn die beiden siebenbändigen Standardwerke der Zunft erschienen jeweils unter der Federführung seines Kollegen Dieter Nohlen: «Pipers Wörterbuch zur Politik» (1983–87) und «Lexikon der Politik» (1992–98). Messen lassen muss sich Manfred Schmidts Gesamtschau dabei am «Wörterbuch Staat und Politik» (1995), einer Art einbändiger Zusammenlegung des Piperschen Wörterbuches. In jenem Sammelband werden wenige hundert zentrale Begriffe in kurzen Abhandlungen definiert und eingeordnet. Der mutige Weg Manfred Schmidts setzt gewissermassen einen Schritt davor an: Wer Politik und ihre Wissenschaft verstehen will, bedarf ihrer Vokabeln, ihrer kleinsten begrifflichen Einheiten, und die zweite Auflage des Heidelberger Professors bietet eine bemerkenswerte Fülle davon. Für Politisch Denkende ein Muss.
Einen ganz anderen Weg auf der Suche nach den Bestandteilen des Politischen beschreitet Gisela Riescher in ihrem Sammelband «Politische Theorie der Gegenwart». In prägnanten Kurzporträts von drei bis fünf Seiten stehen hier 135 führende Vertreter des Faches im Blickpunkt. In griffigem Dreischritt liefert uns das handliche Nachschlagewerk je eine biographische Übersicht, eine Darstellung des oder der zentralen Werke und schliesslich eine knappe Rezeptionsgeschichte mitsamt weiterführender Literaturhinweise.
Den Begriff «Theorie» versteht Riescher, seit 1999 Professorin am Seminar für Wissenschaftliche Politik in Freiburg im Breisgau, dabei bewusst sehr weit. Neben Vertretern der klassischen Ideengeschichte, finden sich in dem Werk auch Persönlichkeiten der empirisch-soziologischen Forschung und schliesslich prominente Vertreter jener Nachbardisziplinen, die die Politikwissenschaft nach 1945 nachhaltig bereichert haben. So erläutert Alexander Thumfart das Differenzprinzip des Gerechtigkeitsforschers und Juristen John Rawls mit der gleichen Präzision, die Sandra Eckarts Beitrag über den Physiker Thomas Kuhn und dessen Verständnis wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns auszeichnet.
Dank dem klugen Verzicht auf eine Trennung zwischen einzelnen Schulen der Politikwissenschaft sind die Porträts alphabetisch geordnet und um ein wunderbares Sachregister am Ende ergänzt. Selbst Theorieneulinge finden damit auf Anhieb hilfreiche Verknüpfungen und lernen etwa, dass unter den Oberbegriff Systemtheorie die Konzepte Luhmanns ebenso wie die des Neorealisten Kenneth Waltz oder des Europaforschers Ernst B. Haas gefasst werden können. Die Wahl, Einzeldarstellungen zu verwenden, hat gegenüber üblichen Theoriedarstellungen den Vorteil, Entwicklungen und vernetzte Rezeptionen neutraler zu erfassen, anstatt Wissenschafter sogleich akademischen Lagern zuordnen zu müssen. Sympathisch ist das undogmatische Vorgehen der Herausgeberin bei ihrer Suche nach dem, was Theorie leisten soll, nämlich «generalisierende Aussagen über Politik» (Vorwort). In letzter Konsequenz misstraut Riescher aber offenbar ihrem eigenen Leitfaden, nur Vertreter vorzustellen, die eben jenes auch geleistet haben. Die Entscheidung darüber, wer «kanonisiert» werden sollte und wer nicht, ist per se immer subjektiv, doch Theodor Eschenburg oder Dolf Sternberger haben ihre unleugbaren Meriten bestimmt als Wegbereiter der Politikwissenschaft im Nachkriegsdeutschland, aber nicht als theoretische Impulsgeber erworben.
Weitaus ärgerlicher ist das Fehlen jener, die besonders international die Disziplin befruchtet haben. Vertreter der sogenannten ökonomischen Theorie der Politik etwa werden Kenneth Arrow und Douglass North genauso schmerzlich vermissen wie George Tsebelis, und gerade Schweizer Leser suchen einen Bruno Frey vergeblich. Zugegeben, Kritik an der Auswahl eines solchen Sammelbandes hat es immer sehr leicht (und die Herausgeberin nimmt sie bereits im Vorwort vorweg), aber letztlich belegt der vorliegende Sammelband nur, dass Politikwissenschaft niemals atheoretisch ist und notwendigerweise zwar nicht blinde, doch trübe Flecken auf des Wis-senschafters Netzhaut belassen muss.
Auch gemessen am Adressatenkreis, ist die «Politische Theorie der Gegenwart» ein ehrgeiziges Projekt. Riescher und ihre Autoren wollen nicht allein allgemein Interessierte ansprechen, sondern zugleich auch «Gedächtnisstütze» und ein Nachschlagewerk für Fachleute liefern. Dieser hohen Erwartung wird das Buch nicht ganz gerecht und ist doch eine lohnende Investition. Rieschers 500seitige Gesamtschau ist bei aller Kritik ein exzellenter Einstieg in die zeitgenössische politische Theorie.
besprochen von Andrej Stuchlík. Der Politikwissenschafter arbeitet als Gastdozent an der Andrássy-Universität Budapest.