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Politik und Poesie

Wo Wahlkämpfe zur Märchenstunde und Gedichtbände zur Propaganda werden, da stimmt etwas nicht. Gedanken einer Autorin, die politische Sachbücher und auch Kriminalromane verfasst – beide Domänen aber aus guten Gründen voneinander trennt.

Politik und Poesie
Cora Stephan, photographiert von Isolde Ohlbaum.

Die Politik der Schweiz, Deutschlands oder anderer gesättigter Demokratien mutet derzeit an wie ein schlechtes Gedicht: viel Gefühl und Wellenschlag, aber nichts Konkretes und keine Substanz. Die Poeten wiederum sind nur noch in der Schwundform der altgedienten «Engagés» unterwegs, die jede Petition unterzeichnen, die fürs Gute und gegen das Böse wirbt. Meist klingt hohl, was sie politisch zu sagen haben. Was ja in Ordnung wäre: es ist nicht ihr Job.

Irgendwie ist die Politik der Poesie nicht bekommen – und vice versa. Die politische Erzählung verliert das grosse Ganze aus dem Blick, aus dem nicht wenige Poeten sich herausgeträumt haben, um in der eigenen Innerlichkeit zu landen. Im schlimmsten Fall produziert Politik schlechte Literatur, geht der Poesie die Phantasie aus. Vielleicht sollten sich beide wieder auf ihr Kerngeschäft besinnen.

Beginnen wir mit einem Gefühl: Angst. Angeblich eine deutsche Spezialität. Im Umgang mit ihr empfehlen sich zwei Strategien.

Erstens: Man überprüfe das, wovor man Angst hat, auf seine Wahrscheinlichkeit. Das ist, wenn sie ihr Handwerk verstehen, Aufgabe von Wissenschaftern und Journalisten. Nicht jedoch, offenbar, Aufgabe jener Politiker, die zu Wahlkampfzeiten Bilder besorgt dreinschauender weisshaariger Omas plakatieren, denen sie, sollten sie gewählt werden, «Sicherheit» versprechen.

Wie sehr sie sich anstrengen müssen, um dieses Versprechen zu erfüllen, hängt von der Wahrscheinlichkeit ab, etwa in Frankfurt am Main, der «kriminellsten Stadt Deutschlands», als über 60 Jahre alte Frau auf offener Strasse angegriffen zu werden. Die ist glücklicherweise verschwindend gering. Wer die Polizeistatistik zu lesen gelernt hat, weiss, dass sie Auskunft über das gibt, was die Polizei tut, und nicht darüber, was die Verbrecher anstellen. Dort wird also nicht nur aktenkundig, wie selten liebe Omas tatsächlich auf offener Strasse überfallen werden (dort werden zumeist junge Männer Opfer junger Männer), sondern vor allem, wer oder was aus aller Welt kommend am Frankfurt Airport, dem drittgrössten Flughafen Europas, anlandet – sprich: illegal einreist bzw. nicht verzollt wird – oder welche Betrügereien bei den vielen in Frankfurt ansässigen weltweit operierenden Kreditkartenunternehmen gemeldet werden. Die Sicherheit im öffentlichen Raum ist davon nicht berührt. Kurz: Politiker erzählen Märchen.

In der Literatur ist das Märchenerzählen erlaubt. Denn was würde aus einer der beliebtesten Literaturgattungen werden, dem Kriminalroman, wenn dort nur die statistisch relevanten Vorfälle bearbeitet würden? Das Genre wäre tot, so tot wie die Opfer im Rockerkrieg oder im Drogenmilieu oder unter verfeindeten libanesischen Clans. Übrig blieben ein paar Beziehungsmorde, eine magere Ausbeute für ein boomendes literarisches Gewerbe.

Zweitens: Die andere Form des produktiven Umgangs mit der Angst ist die Bearbeitung, namentlich die Literarisierung. Literatur, nicht nur Genreliteratur, beansprucht eine radikal subjektive Sicht auf die Dinge. Wir wollen wissen, wie das gesammelte Unheil der Welt aufs Individuum trifft, wie es daran zerbricht oder sich, besser noch, aus der Asche erhebt und davonfliegt. Ob das Schicksal der statistischen Wahrscheinlichkeit folgt oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Und das gilt gerade für den Krimi, auch wenn einige seiner Autoren von sich behaupten, Realität «abzubilden», etwa Henning Mankell oder Liza Marklund.

Wie man beides unterscheidet und sich dennoch in beiden Bereichen aufhält, ist eine nicht ganz einfache Aufgabe, die ich gut kenne. Die Sachbuchautorin fasst zusammen und bilanziert, das subjektive Empfinden spielt dabei eine nur geringe Rolle. Kein individuelles Schicksal ändert etwas daran, dass der Sozialetat im deutschen Staatshaushalt der grösste und der des Verteidigungsministeriums der kleinste Posten ist. «Andrea W., 33, ist alleinerziehende Mutter zweier Kinder und kommt mit den Hartz-IV-Sätzen nicht aus.» Das ist Stoff für eine Erzählung, aber keine gesellschaftliche Analyse.

Das gilt auch für viele andere Phänomene. Um eine Aussage über das Leben in Deutschland zu machen, brauche ich verlässliche Zahlen und nicht Gerüchte, etwa über Jugendgewalt oder die Folgen von zu viel Internetkonsum. Dass meine Nachbarin jemanden kennt, «der gesehen hat, wie …», ist keine belastbare Aussage. Erst recht nicht, wenn sie hinzufügt, von «kalten Zahlen» nicht beeindruckbar zu sein, weil sie «ihre Menschen» kenne.

Der vielgescholtene Thilo Sarrazin brachte die Differenz zwischen dem subjektiven Empfinden und allgemeinen Aussagen auf den Begriff: «Um zu wissen, wie hoch die Getreideernte im letzten Jahr war, gucke ich doch auch ins Statistische Jahrbuch und muss nicht über die Felder gehen und mit dem Bauern reden.» Wenn ich indes von menschlichen Schicksalen erzählen will, hilft der Gang aufs Maisfeld, denn das Statistische Jahrbuch bietet Erkenntnisse, was spannend sein kann, aber kein Lesevergnügen.

Vom einen Ufer ans andere zu gelangen, ist alles andere als einfach. Die Sachbuchautorin liefert der Erzählerin den Stoff und steht ihr zugleich im Weg – mit ihren störrischen Fragen, ob denn dieses oder jenes «plausibel» sei. Und weil sie stets zu viel weiss.

Doch wenn ihre Charaktere lebendig sein sollen, darf die Romanautorin nicht mehr wissen, als ihre Figuren zu einem bestimmten Zeitpunkt aller Wahrscheinlichkeit nach wissen können.

Ich schreibe derzeit an einem Roman, in dem mir das mehr als einmal schwergefallen ist. Er spielt zwischen 1936 und 2006 und eine der ersten Fragen, die sich mir stellte, war die nach dem Wissen einer 15jährigen, die im 3. Jahr der Herrschaft Hitlers in einer deutschen Kleinstadt lebt, über das, was die nationalsozialistische Herrschaft für die Kritiker des Regimes, für Juden, für Behinderte, für alle, die nicht begeistert mitliefen, bedeutete und noch bedeuten würde. Ich hätte mich dafür entscheiden können, das Leben in Berlin zu beschreiben, dort, wo Pogrome, Judenboykott und Bücherverbrennung offenkundig waren, auch wenn sie den Alltag nicht so bestimmten, wie man heute zu wissen glaubt. In der Provinz aber applaudierten die Massen nicht, das Verhalten der nichtjüdischen Deutschen bündelte sich nicht zu einem «massenhaften Phänomen», es war extrem unterschiedlich. Ein Roman darf zuspitzen, sich auf das Böse konzentrieren. Er darf aber auch differenzieren.

Nur in der Rückschau glaubt man, der Schwefelgeruch habe damals bereits allen in der Nase gestanden. Aus einer rückschauenden Erzählperspektive entstehen höchstens Abziehbilder, aber keine Charaktere, die Leser interessieren könnten. Den sadistischen SS-Mann kennen wir zur Genüge. Ebenso den opferwilligen Widerstandskämpfer. Interessanter wäre, ihn als ambivalenten Charakter zu zeichnen – als Zweifelnden, an sich Verzweifelnden.

Vielleicht gelingt mir das noch.

Die Hauptfigur in der «Deutschstunde» von Siegfried Lenz ist ein Kunstmaler, dem während der Hitlerzeit das Malen verboten wird. Die Figur des Malers Max Ludwig Nansen sei «nach einem sehr realen Vorbild modelliert», schreibt Jochen Hieber in der FAZ, nach Emil Nolde, dem expressionistischen Maler, dessen Werke während des Dritten Reichs als «entartete Kunst» verfemt waren. Emil Nolde war indes auch bekennender Antisemit, Nationalsozialist und glühender Anhänger Adolf Hitlers. Muss man deshalb die «Deutschstunde» des Schriftstellers Lenz «neu lesen», ein in der deutschen Nachkriegszeit prägendes Buch, das Lenz selbst als den Versuch sieht, Politik dort zu zeigen, «wo sie am äussersten Rand der Gesellschaft … getragen, erlitten, manchmal mit kleinen Genugtuungen ausgekostet wird»? Natürlich nicht. Wonach auch immer ein Schriftsteller «modelliert»: keine fiktive Person ist identisch mit ihrem Vorbild oder gar rechenschaftspflichtig dafür.

Und ein Autor muss nicht für die Verfehlungen seiner Figuren büssen. Ich erhielt vor einiger Zeit den erbosten Brief einer Frau, die mich wegen Frauenfeindlichkeit vor Gericht bringen wollte. Ich habe nie verstanden, was genau sie mir vorwarf: dass eine meiner weiblichen Charaktere zickenbissige Bemerkungen machte? Oder dass ich eine Figur erfunden hatte, die nicht von jedem Frauentypus etwas hielt? Im übrigen: Gilt die alte Weisheit unserer Deutschlehrerinnen nicht mehr, dass es für den Wert eines Werks irrelevant ist, ob sein Autor ein guter Mensch ist?

Der Narr darf die Wahrheit sagen und der Überbringer der Botschaft wird nicht geköpft: das gehört oder gehörte zum Umgang mit Literatur. Mit einem seltsamen Säuberungsfuror aber beugt man sich heutzutage über gestandene Werke der Weltliteratur, um sie von Vokabeln wie «Neger» zu befreien. Seit wann müssen Literatur und die Sitten und Gebräuche der Gegenwart im Einklang sein?

Liegt es daran, dass die Grenze zwischen Politik und Poesie verschwimmt?

Warum wird ausgerechnet nach Dichtern und Denkern gerufen, wenn man glaubt, das Volk benötige ethisch-moralische Handreichung? Sind Schriftsteller aus Handwerkstradition oder gar per se «moralische In­stanz»? Kennen sie die Welt genauer als andere? Haben sie einen besseren Zugang zum politischen Geschäft, verstehen sie mehr von Krieg und Frieden?

Eine Zeitlang hatten goldene Worte deutscher Literaten die Funktion von Kirchentagsreden: das unordentliche Volk braucht seine regelmässige Dosis Mahnen & Warnen, und wer könnte das besser als jene, deren Geschäft das Wort ist, mit dem ja bekanntlich alles anfing?

Dass Schriftsteller irgendwie «politisch» seien, speiste sich aus dem Verdacht, Literatur sei per se «widerständig», weil sie dem blossen Sosein und Dasein eine eigene Dimension entgegensetze. Links glaubte man sogar, dass Literatur die Bannerträgerin der Arbeiterbewegung sein müsse, dass sie «aufklärerisch» zu sein habe, wolle sie mehr sein als «l’art pour l’art», als ein kunstvolles Nichts. Weiss der Himmel, warum man glaubte, dass sich dieses Programm von Propaganda unterscheide.

Derweil ist der Ruf nach dem Mot juste der gern auch als «Intellektuelle» – darunter firmiert so ziemlich alles vom Büchnerpreisträger über den Provinzsoziologen bis zum Feuilletonpraktikanten – apostrophierten Schriftsteller etwas seltener geworden, vielleicht weil niemand in Sicht ist, der sich vehement um die Nachfolge von Günter Grass bewirbt. Nicht nur dessen Prosa begann matt zu werden, als sie Botschaften zu transportieren hatte, man denke an die Dystopie «Die Rättin», auch die Lyrik litt unter einem Überschuss an Politik, ich meine seine famose, als Gedicht verkleidete Israelkritik «Was gesagt werden muss». Die heutigen Literaten aber machen, anders als Grass in Deutschland und weiland die Gruppe Olten in der Schweiz, noch nicht einmal Wahlkampf für die Sozialdemokraten, sondern, so schimpfen ihre Kritiker, hangeln sich von Literaturstipendium zu Literaturstipendium und nutzen die Landverschickung via Goethe-Institut nicht etwa, um andere Länder und Sitten kennenzulernen, sondern als eine Lebensweise, der man feingeklöppelte Introspektion abgewinnen kann.

Vielleicht hat die in Leipzig geschulte neue Schriftstellergeneration ja politisch nichts mehr zu sagen. Auch recht. Aber muss, wenn sie schon einmal einen «Aufruf» von sich gibt, selbiger gleich so unliterarisch ausfallen wie Juli Zehs Protest gegen die NSA, ein Schriftstück, das offenbar noch nicht einmal eine Word-Autokorrektur gesehen hat? So etwas unterschreibt manch einer offenbar, weil es der Selbstvermarktung dient – wenn alle anderen unterschreiben, will man doch dabei sein! Der engagierte Schriftsteller aber tritt hier wie eine blasse Karikatur aus Zeiten auf, als «Rock gegen rechts» noch hip war und die Schleife am Revers den Empfindsamen adelte.

Gewiss wohnt dem Dichten eine eigene Wahrheit inne, die indes nichts mit dem zu tun hat, was man «politisch» nennen kann. Das «Widerständige», dieses Anreden gegen «die Verhältnisse», liegt in der Perspektive, in der radikalen Subjektivität erzählender Prosa. Und das ist nachgerade das Gegenteil von Politik.

Anders gesagt: seit dem Gilgamesch-Epos oder der Bibel kreisen die Menschheitserzählungen nicht um das grosse ganze Unheil, sondern darum, wie es dem Individuum ergeht, dem es auf die Füsse fällt. Ihr Anliegen ist nicht, die Sintflut zu erklären, sondern Menschen zu zeigen, die sie erleiden.

Wie eng der Begriff des Engagiertseins gefasst ist, wie einseitig das «Politische» gedacht ist, zeigt sich stets, wenn eine(r) anders empfindet, als der Mainstream will. Als Sibylle Lewitscharoff ihr subjektives Unbehagen an künstlich gezeugten Menschen («Halbwesen») äusserte, wollten einige Lautsprecher ihr gleich den Büchnerpreis aberkennen; eine entsprechende Petition sammelt Stimmen dafür. Als ob ihr literarisches Werk insgesamt durch solch konservative Befürchtungen kontaminiert sei, Befürchtungen übrigens, die eine lange Geschichte haben. Es beschäftigte die Menschheit schon immer, wer oder was bei der Zeugung mittut, von Dr. Frankenstein bis zum Heiligen Geist. Wäre das nicht eine Debatte wert gewesen, in der die Literatur etwas zu sagen gehabt hätte? Stattdessen hat sich das Feuilleton zum Richter in Sachen Political Correctness aufgeschwungen.

Sichtweisen werden nicht dadurch interessant, dass alle sie teilen. Und «Widerständiges» geht nicht nur in eine Richtung. Wer es damit ernst meint, muss genau das verteidigen, was anstössig ist. Das ist der Kern von Meinungsfreiheit. Dass sich im deutschen und auch im schweizerischen Blätterwald die Forderung nach Zensur breitmacht, wenn etwas nicht dem allgemeinen Empfinden (in den Zeitungsredaktionen) entspricht, ist traurig. Im Kampf um seine Deutungshoheit verliert das Feuilleton seine Vielstimmigkeit. Und seine Leser.

Wozu brauchen wir noch Literaten, wenn wir Politiker haben? Während der Engagé klassischen Musters bestenfalls steril und hölzern wirkt, schlimmstenfalls wie ein Veteran aus dem Willy-Wahlkampf, hat sich die Politik in den warmen Mantel der Subjektivität gehüllt. Hier ein Tränchen, dort ein Kniefall: Hauptsache, es rührt. Hatte man nicht einst geglaubt, politisches Sprechen lebe von der Verallgemeinerung und vom Unterschied zwischen Fakten und Befindlichkeit, Sache und Emotion? Hiess es nicht immer, Entrüstung sei keine politische Kategorie?

Ach was. Richtig eingesetzt, wird sie zur PR-Allzweckwaffe. Vielleicht ist es also genau diese Poetisierung der Politik, die den literarischen Engagé überflüssig gemacht hat. Moral kommt jetzt direkt von oben, muss der Politik nicht mehr von anderen als Wärmespender zur Seite gestellt werden. Politik hat ihr semantisches Feld verlassen, sie verhandelt nicht mehr die allgemeinen Dinge. Sie ist beim Menschen im Singular angekommen. «Du bist Deutschland!»

Wer sich regelmässig die Talkshows von Lanz über Jauch und Illner bis zum «Club» antut, erlebt das in Dauerschleife. Dort gilt das reine, das «sachliche» Argument als kalt, sofern es nicht auch «Betroffenheit» erzeugt, dieses heute für unverzichtbar gehaltene Gefühl von «tua res agitur»: hier geht es um dich, um deine Angelegenheiten. Betroffenheit ruft hervor, wer das jeweilige Phänomen überzeugend gross zeichnet, so dass jene wohlige Mischung aus Angst und Demut entsteht, die ein Fernsehgesicht mit einem ernsten «Das könnte jedem von uns passieren» begleitet.

Der subjektive Ausgangspunkt, die Erzählung über ein individuelles Schicksal, das, wenn es schon nicht als pars pro toto steht, doch zumindest zur Identifikation auffordert, die den allgemeinen Sachverhalt schmackhaft machen soll, motiviert Prosa nicht erst seit heute. Später wurde er vom Journalismus entdeckt: nicht aufklären soll er, der Skribent, sondern eine Geschichte erzählen. Das ist mittlerweile die Grundmelodie politischen Sprechens: immer schön subjektiv sein. Immer schön bei einer Erzählung bleiben, die uns nahegeht, mit Opfern, Tätern, Kronzeugen der Anklage. Natürlich ist das steigerungsfähig: Betroffen macht schliesslich auch, wenn vom eigenen Verhalten Wohl und Wehe des ganzen Globus abhängt. Jeder anständige Religionsführer versteht es, seine Schäfchen mit dem Verweis aufs Fegefeuer auf Linie zu bringen.

Hatte nicht Politik einmal die Aufgabe, gerade das Fernstliegende gegen die Wünsche der einzelnen zu verteidigen? Heute muss es uns als ureigenes Interesse verkauft werden. Das erfordert Verrenkungen, die nicht jedem gelingen.

Das mieseste Beispiel für diese Strategie findet sich in dem dafür berüchtigten Film von Al Gore, «Eine unbequeme Wahrheit», in dem uns ein weinendes Kind dazu auffordert, die Welt zu retten. Jeder Imperativ braucht ein weinendes Kind. «Das ist kein politisches Problem, sondern ein moralisches»: Al Gore hat die Sache auf den Punkt gebracht.

Es waren nicht vor allem Thilo Sarrazin und seine Thesen, sondern die Diskussion um und mit ihm, die ich nie vergessen werde. Eine Horde gackernder Politikerinnen hielt ihm bei jedem mit Daten und Fakten unterfütterten Argument entgegen, er reduziere Menschen auf «kalte» Zahlen, wo es doch auf jeden einzelnen in seiner Unverwechselbarkeit ankomme.

Wir lernen: Wer mit Statistiken oder gar Wahrscheinlichkeiten operiert, «relativiert», und das kommt nicht gut an bei Menschen, die gelernt haben, nur ihrem eigenen Gefühl, also ihren Ängsten, zu vertrauen. «Engagierter» Journalismus unterstützt das gern: was macht es schon, wenn die Fakten nicht ganz stimmen, Hauptsache, man hat aufgerüttelt.

Politik also als konkrete Poesie! Das könnte die Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin erklären, nach der – durch ein Erdbeben samt Flutwelle ausgelösten – Havarie eines Atomreaktors in Japan die deutsche Energieproduktion auf Sonne und Wind umzustellen, die, wie es die Sage will, keine Rechnung schreiben. Seither entsteht in Deutschland etwas, das Schilda weit übertrifft. Bei gutem Wetter produzieren wir Strom im Überfluss und bezahlen Nachbarländer dafür, dass sie ihn uns abnehmen. Bei schlechtem Wetter brauchen wir die maroden Atommeiler der Nachbarn, damit bei uns das Licht nicht ausgeht. Das ist Lyrik.

Die Poesie den Poeten, die Politik den Politikern! Vielleicht sollte man wieder über den Unterschied reden. Wer die durch einen Tsunami verursachte Havarie im fernen Japan zum Anlass nimmt, das Industrieland Deutschland ins Windmühlenzeitalter zurückzuführen, macht Politik zum Objekt subjektiven Empfindens einer gerade mal gefühlten «Mehrheitsstimmung». Wer glaubt, sich an gar nichts mehr halten zu müssen, was nach überprüfbaren Fakten aussieht, glaubt an Märchen.

Der Poet wiederum ist nichts und niemandem verpflichtet, schon gar nicht einem albernen Petitionssozialismus, wie er gerade wieder die Runde macht. Da forderten die üblichen Verdächtigen dazu auf, sich an der Europawahl zu beteiligen – mit Statements, wie sie unbedarfter noch nicht einmal den Verfassern von Wahlkampfparolen gelingen. Ist das die Sehnsucht nach dem alten Willy-Feeling und der EsPeDe von Günter Grass oder der Wunsch, den eigenen Namen endlich wieder grossgedruckt zu sehen?

Kann es sein, dass der Publikumserfolg von Büchern wie Thilo Sarrazins «Deutschland schafft sich ab» sich gar nicht vor allem deren Inhalten verdankt, sondern ihrer rabiaten Ablehnung durch die Mehrheit der Meinunghabenden, die noch immer nicht verstehen wollen, dass ihre Leser nicht umerzogen werden wollen?

Die Deutungshoheit der «Qualitätsmedien» hat sich erledigt. Unsere Redaktoren und Feuilletonisten bestimmen nicht mehr, was gelesen, was gedacht wird. Sie haben sich längst von ihren Lesern verabschiedet, die sie schon nicht mehr heimlich verachten. Wichtiger ist das Lob im Kollegenkreis. Das, dieser hohe Ton des Besserwissens, hat ihnen sicher mehr geschadet als die Bezahlt-wird-nicht-Mentalität des Netzes.

Wenn sich die Literatur zum Büttel der herrschenden Meinung macht, verliert sie mit. Nicht wenigen Lesern steht der Sinn nicht nach Traktaten, auch nicht nach gutgemeinten, schon eher nach Berichten aus dem Leben, in dem nichts gerade ist, weder gut noch böse und selten bunt, eher grau in allen Schattierungen. Am liebsten aber haben sie womöglich jene Bücher, die sie aus der gegenwärtigen Welt entführen, in einen Kosmos, der auf jeden Fall aufregender ist als das Land des Lächelns, als die Konsensdemokratie samt Mutti, deren Verwalter zwar mit der Wirklichkeit nur noch wenig zu tun haben, deren Phantasie aber noch nicht einmal für eine solide Utopie reicht.

Doch, ja, vielleicht für eine: «Die Rente ist sicher.» Aber das ist ja noch nicht einmal ein Märchen.

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