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«Politik muss die Probleme der Menschen lösen – ob
demokratisch oder nicht, ist sekundär»

Der Politikwissenschafter Parag Khanna hat die Schweiz in einem neuen Index zum stabilsten Land der Welt erkoren. Den Schlüssel für den Erfolg des Landes sieht er in den kompetenten Beamten.

«Politik muss die Probleme der Menschen lösen – ob demokratisch oder nicht, ist sekundär»
Parag Khanna, zvg.

Parag Khanna, Sie haben ein «Periodensystem der Staaten» kreiert. Worum geht es bei diesem neuen Index und warum ist er relevant?
Es geht darum, die Stabilität von Nationen anhand von Stärke und Staatlichkeit zu messen. Jeder Staat will letzten Endes stabil sein. Unser Index ist ein Werkzeug. Er soll Staaten helfen, bessere Staaten zu werden.

 

Was ist unter «Staatlichkeit» zu verstehen?
Die Qualität des Staates besteht aus seinen Institutionen. Wir haben eine Vielzahl von Faktoren angeschaut: Qualität der öffentlichen Dienstleistungen, Gesundheitswesen, Nahrungsmittelsicherheit, Innovationspotenzial, Bildung, Nachhaltigkeit und andere. All dies ist wichtig für eine leistungsfähige Gesellschaft und den Zusammenhalt.

 

Gemäss Ihrem Ranking ist die Schweiz das stabilste Land der Welt.
Richtig. Schon wieder ein Spitzenplatz in einem internationalen Vergleich. Langweilt Sie das eigentlich schon? (lacht) Die Schweiz ist fast überall top: Wirtschaft, Haushalt, Schulden, Währungsstabilität, auch als diversifizierter globaler Anleger. Verbesserungspotenzial auf hohem Niveau sehen wir lediglich bei den Infrastrukturausgaben pro Kopf und der Nachhaltigkeit der internationalen Lieferketten.

«Die Schweiz ist fast überall top: Wirtschaft, Haushalt, Schulden,

Währungsstabilität, auch als diversifizierter globaler Anleger.»

 

Es gibt bereits vergleichbare Rankings. Was ist neu an Ihrem Index?
Stabilität ist nicht ein Wert an sich, sondern das Resultat vieler Faktoren. Bisherige Indizes, zum Beispiel des «Economist» oder «Freedom House», haben diese Unterscheidung nicht gemacht. Wir haben der Methode ein Update verpasst und Faktoren reingebracht, die im 21. Jahrhundert für die Stabilität von Staaten wichtig sind, zum Beispiel die Widerstandsfähigkeit gegenüber klimatischen Risiken oder die Energiesicherheit.

 

Welche Rolle spielt die Demokratie als Staatsform?
Wir haben herausgefunden, dass die grosse Mehrheit der Staaten schwache, arme, unstabile Demokratien sind. Man sollte also nicht Demokratie mit Stabilität gleichsetzen, wie viele das machen. Nehmen Sie China und Indien. Welches Land ist stabiler? Wo sind die Lebensrealitäten, die Zukunftsperspektiven besser? China hat fast jede Herausforderung in den letzten rund 30 Jahren dank viel Expertise gemeistert. Niemand würde sagen, Indien sei China überlegen, weil es eine Demokratie ist. Es ist also kompliziert.

 

Was waren für Sie persönlich die überraschendsten Erkenntnisse?
Dass die Schweiz zum Beispiel bei der Innovation und vielen anderen Rankings top ist, ist bekannt. Dass jedoch ein kleines Land wie die Schweiz auch in einem breiter gefassten Index obenaus schwingt, hat mich schon überrascht. Ebenfalls finde ich faszinierend, dass in den Top 20 grosse und kleine Nationen aus Ost und West mit den verschiedensten politischen Systemen zu finden sind. In der Politikwissenschaft galt lange das Mantra, dass grosse Staaten die stabilsten seien. Oder dass Stabilität nur durch Demokratie erreicht werden könne. Solche Gleichsetzungen hielt ich schon immer für falsch.

 

Mich hat überrascht, dass Deutschland, Europas kranker Mann, auf dem zweiten Platz und das nicht reformierbare Frankreich auf Platz acht rangieren. Ein krasser Widerspruch zur öffentlichen Wahrnehmung dieser Länder.
Nun, es gibt die Nachrichten und es gibt die Daten. Die Topplatzierung Deutschlands heisst nicht, dass in Deutschland alles super läuft und das Land als Vorbild für andere dienen soll. Ein Ranking ist immer relativ; will heissen, anderswo schaut es verhältnismässig schlechter aus. Vergleichen wir Deutschland und die USA nach den letzten Wahlen. Punkto Stabilität des Landes erleben wir in den USA einen Abstieg, ja geradezu einen Absturz. In Deutschland hingegen sind die Verhältnisse bereits wieder stabil – alles deutet auf eine grosse Koalition hin. Stabiler geht es kaum. 2017 gab es in Deutschland während fünf Monaten keine Regierung. Der Staat funktionierte dennoch.

 

Die Bevölkerung in der Schweiz wächst so schnell wie in kaum einer anderen Industrienation. Inwiefern ist das in den Index eingeflossen?
Bevölkerungswachstum ist grundsätzlich ein positives Phänomen und fördert die Stabilität eines Landes. Klar, punktuell kann es auch zu Problemen kommen. Die USA sind ein Migranten- und somit auch ein Innovationsmagnet. Ist das Land deswegen instabil? Im Gegenteil. Ähnliches kann man über die Schweiz sagen. Migration geschieht hier kontrollierter und besser als in den meisten anderen Ländern. Staaten, deren Bevölkerung wächst, haben meist auch ein erhöhtes wirtschaftliches Wachstumspotenzial. Italien oder Japan mit ihrer sinkenden Bevölkerung beweisen das Gegenteil.

 

Sie haben ein Buch über das asiatische Jahrhundert geschrieben. In Ihrer Rangliste ist das jedoch mit 16 westlichen Ländern in den Top 20 nicht wirklich sichtbar. Warum?
Ich finde schon. Mit Japan, Südkorea, China und Singapur sind immerhin vier Länder vorne mit dabei. Und die Abstände zur Spitze sind wirklich klein. Dass in Grösse, System und Struktur so unterschiedliche Länder Asiens so weit vorne sind, finde ich faszinierend.

 

Sie sind Anhänger einer «direkten Technokratie» – also einer effektiven Mischung aus den Stärken der Demokratie und Technokratie. Welches sind Ihre besten Beispiele einer funktionierenden Technokratie?
Das ist einfach zu beantworten, denn es gibt nur zwei: Singapur und die Schweiz. Die Schweizer sind zu Recht stolz auf die direkte Demokratie. Aber die Züge fahren pünktlich wegen der funktionierenden Technokratie, nicht wegen der Demokratie. Die Demokratie ist im Selbstverständnis der Schweizer übergewichtet. Die Institutionen funktionieren, weil sie von kompetenten Beamten geleitet werden. Die Schweiz ist eine Urtechnokratie und eine vorbildliche noch dazu. Die Schweizer sollten auf die Technokratie genauso stolz sein wie auf die Demokratie.

 

Sie nennen Singapur und die Schweiz auch als Vorbilder für die USA. In welcher Hinsicht?
Die beste Regierungsform für die USA wäre eine Mischung der Technokratien von Singapur und der Schweiz mit demokratischen Elementen nach Schweizer Vorbild.

 

Ein autoritär geführter Stadtstaat als Vorbild für das «Land of the free»?
Singapur ist viel demokratischer, als man gemeinhin annimmt. So gibt es etwa die demokratische Praxis regelmässiger Konsultationen des Volkes via Umfragen. Vielleicht müssen wir auch unser Verständnis von Demokratie modernisieren. Die demokratische Kultur in Singapur ist um ein Vielfaches ausgeprägter als in den USA. Die Leute sind sehr gebildet und haben eine begründete Meinung.

«Die demokratische Kultur in Singapur ist um ein Vielfaches ausgeprägter als in den USA.»

 

Wo sehen Sie die Schwächen von Singapur?
Bei der grossen Ungleichheit. Arme müssten besser unterstützt werden. Auch ist das Bewusstsein, dass Innovation nicht von oben aufoktroyiert werden kann, zu wenig ausgeprägt. Und ich wünschte mir mehr akademische Freiheit.

 

Sie sind der Meinung, dass man Politiker weniger an ihrer demokratischen Legitimation, sondern vor allem an ihrer Leistung messen soll …
Korrekt. Politik muss die Probleme der Menschen lösen. Ob demokratisch oder nicht, ist sekundär. Sind die staatlichen Institutionen von hoher Qualität, ist ein Land weniger abhängig von der politischen Führung. Einen Erlöser wie Obama oder Trump braucht es dann nicht mehr. Länder, die nach einem Erlöser suchen, haben schon verloren.

 

Welche Megatrends sollten wir im Auge behalten?
Die Multipolarität. Der Wettbewerb verschiedener Imperien wird zunehmen. Auch Asien wird multipolarer werden. Die Globalisierung wird mit neuen Allianzen voranschreiten. Die Widerstandsfähigkeit und die Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel werden zu zentralen Faktoren im Wettbewerb der Länder werden.   

 

Welche zukünftigen geopolitischen Veränderungen sagen Sie voraus?
Ein Szenario ist ein Auseinanderfallen und eine Zersplitterung Russlands. Ich denke, die Anziehungskraft der zentral- und ostasiatischen Nachbarn Russlands wird in den kommenden Jahrzehnten stärker sein als diejenige von Moskau. Der Klimawandel, Demografie, interne Schwächen sowie die Stärke von China werden diesen Trend begünstigen. Das heisst nicht zwingend, dass sich der Grenzverlauf ändern wird. Aber ein erweiterter chinesischer Einflussraum der Prosperität wird an Bedeutung zunehmen. Vorboten dieser Entwicklungen gibt es schon heute, in Form von Ölleitungen, gesponsert von China.

 

Megacities sind für Sie das neue Gesicht der Welt. Welche globalen Metropolen taugen zum Vorbild?
Sicher Abu Dhabi und Dubai. Auch die Greater Bay Area in Südchina oder Singapur. Letzteres schmilzt gerade mit der Provinz Johor in Malaysia und vorgelagerten indonesischen Inseln zur Metropolregion zusammen.

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