Politik ist ein notwendiges Übel
Die Vorstellung einer Welt ohne kollektive Entscheide ist eine Illusion.
«Ohne Politik geht nichts, und mit Politik geht alles schief.» Diese Weisheit aus einem Witzbuch über die Bundespolitik aus den 1980er-Jahren bringt das liberale Dilemma auf den Punkt. Freiheitlich Gesinnte halten die Freiheit des Individuums hoch, insbesondere die Freiheit vor staatlichen Eingriffen. Doch um die Freiheit zu garantieren, braucht es einen Staat, der die Rechte und Regeln durchsetzen kann. Mit anderen Worten: Politik.
Anarchisten und auch viele Libertäre entziehen sich diesem Dilemma, indem sie den Staat nicht nur in die Schranken weisen, sondern ganz abschaffen wollen – das Problem der Staatseingriffe würde sich damit gar nicht mehr stellen. Sie träumen von einer Welt ohne Politik, die ausschliesslich auf rein freiwilligen Verträgen basiert. Natürlich verstehen sie, dass auch eine solche Ordnung gemeinsame Regeln erfordert. Sie berufen sich dann auf das Naturrecht, das die Grundlage für alle freiwilligen Transaktionen bilden soll. Doch woher kommt das Naturrecht? Es gibt davon viele Varianten; christliche, humanistische und sogar nationalsozialistische. Der Entscheid, welches Naturrecht gelten soll, ist ein genuin politischer. So wird der Rückgriff auf vermeintlich naturgegebenes Recht, das frei von Politik ist, zum Zirkelschluss.
Nehmen wir an, Sie wohnen frei von staatlichem Zwang an einem Karibikstrand und geniessen das Leben. Bis jemand das Nachbargrundstück kauft und Ihnen ein Hochhaus vor die Sonne stellt, mit einem lärmigen Nachtclub im untersten Stock. Was tun Sie? Sie können vor einem privaten Gericht klagen. Doch was, wenn Ihr Nachbar es ablehnt, sich dieser Gerichtsbarkeit zu unterstellen? Und selbst wenn er es täte: Wie sollte ein Gericht den Konflikt zwischen Ihrem Eigentumsrecht und dem Ihres Nachbarn lösen? Das Naturrecht gibt hierzu keinen Aufschluss. Das Beispiel zeigt: Selbst wenn wir uns einzig auf Naturrecht stützen, brauchen wir gesellschaftliche Institutionen, die dieses Recht garantieren können.
Die historische Erfahrung lehrt uns zudem, dass der Abschied von demokratischer Politik in aller Regel nicht im naturrechtlichen Paradies endet, sondern in einer neuen Form von Politik, die garantiert nicht mehr Wert auf individuelle Freiheit legt.