«Plötzlich war ich ganz allein und völlig frei»
Die britische Architektin Elspeth Beard umrundete in den frühen 1980er-Jahren mit dem Motorrad die Welt. Nach ihrer Rückkehr fühlte sie sich fremd in ihrer Heimat.
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Elspeth Beard, was bedeutete Ihnen Freiheit, als Sie aufwuchsen?
Ich hatte Glück, dass meine Eltern mir allerhand Freiheiten gewährten. Meine Erziehung war wahrscheinlich ungewöhnlich. Mein Vater war ein äusserst exzentrischer Psychiater, der Wert darauf legte, seinen Kindern die Freiheit zu geben, Fehler zu machen und durch diese zu lernen. Uns wurde nie gesagt, dieses oder jenes zu tun beziehungsweise dieses oder jenes zu lassen. Im Familienurlaub fuhren wir mit dem Auto quer durch Europa, ich und meine beiden Geschwister hinten zusammengepfercht. Mein Vater war besessen davon, alles zu sehen, was im Michelin-Reiseführer aufgezählt wird. Also fuhren wir von einer Kirche zum nächsten Altarbild und von diesem zur nächsten Ruine, wobei jeder Tag hauptsächlich darin bestand, zu fahren, zu fahren, zu fahren und zu fahren, um dann abends irgendwo das Zelt aufzuschlagen. Morgens um 6 Uhr ging es dann wieder raus, das Zelt wurde abgebaut, und wir setzten uns erneut ins Auto, um so viel wie möglich zu sehen. Das wurde uns sehr früh mitgegeben.
Das hört sich an wie eine frühe Lektion in Sachen Spontaneität, was das Reisen angeht.
Für uns war das Reisen normal, wir verbrachten jeden Sommer so. Das träufelte uns dieses forsche Bewusstsein ein, mehr über die Welt und über andere Länder zu erfahren. Zusammen mit dem Anspruch unserer Eltern, uns so viel Freiheit einzuräumen wie irgend möglich, bescherte mir das eine gute geistige Verfassung. Als ich Anfang 20 war, hatte ich keinerlei Bedenken, hinauszugehen und etwas zu wagen. Ich fuhr Motorrad. Ich wollte die Welt sehen.
Erinnern Sie sich noch an den Moment, in dem Sie sich der Motorradkultur gewahr wurden?
Als ich zu fahren begann, war das schlichtweg eine günstige wie einfache Art, mich durch London zu bewegen. Ich bin mit 16 von der Schule geflogen, was aber in Ordnung war. Meine Eltern schrieben mich für ein College ein, damit ich dort meinen Schulabschluss mache und ich mich später an einer Universität immatrikulieren könnte. Am College traf ich dann eine Gruppe Biker, die mir eine erste Einführung gaben; ein Freund verkaufte mir seine kleine Yamaha 100. Das war mein erstes Motorrad. Ich habe es verwendet, um mich durch London zu bewegen – es kostete nicht viel, war schnell und effizient. Ich verstand es wirklich vorwiegend als Transportmittel. Danach habe ich mir ein etwas grösseres Motorrad zugelegt, eine 250er. Darauf habe ich dann die Fahrprüfung bestanden; zuvor konnte man in Grossbritannien mit einer 250er-Maschine ohne Fahrerlaubnis unterwegs sein. Heute klingt das wahnsinnig, aber so war es.
Wann wechselten Sie zu stärkeren Motorrädern?
Ein Jahr später kaufte ich meine BMW 600. Plötzlich dämmerte mir, dass man mit solch einer Maschine wirklich weit kommt. Ein weiteres Jahr später flog ich an die amerikanische Westküste. Ich kaufte mir eine sehr günstige, alte 750 BMW R75 mit Fünftaktmotor und fuhr damit von der West- an die Ostküste. Auf dieser Reise dachte ich irgendwann: Das ist ziemlich cool, vielleicht ist es möglich, so die Welt zu umrunden? Heute klingt das albern, aber damals hat das kaum jemand gemacht. Nur sehr, sehr wenige Menschen hatten darüber geschrieben, Ted Simon zum Beispiel; heute weiss ich, dass es davor auch schon Autoren gab. Zum Zeitpunkt der Reise hatte ich bereits drei Jahre Architektur studiert. Ich kehrte nach Grossbritannien zurück, und ein Jahr später kam es in meinem Leben zu einer Reihe an Ereignissen, wegen derer ich nur noch wegwollte. So kam es dann zur Weltreise.
Das war im Sommer 1982. Der Kalte Krieg war noch im Gange, viele arabische Länder waren Diktaturen. Wie haben Sie unter diesen Umständen Ihre Route festgelegt?
Ich war erst 23, recht nervös und ziemlich ängstlich. Statt ostwärts durch Europa und den Iran zu fahren, dachte ich, dass ich im Westen beginnen sollte – in den USA. Ich verschiffte mein Motorrad also nach New York. Weil ich im Vorjahr in den Vereinigten Staaten gewesen war, war das vertrautes Territorium. Dort wurde Englisch gesprochen und die Strassen waren gut. Ich dachte, dass das ein sanfter Anfang für mich wäre. Und so viel Wasser zwischen mir und meinem Zuhause würde es schwierig für mich machen, einfach umzukehren. Ich fuhr durch die USA, dann Kanada und noch durch ein Stück Mexiko. Ich nahm ein Schiff nach Neuseeland und kam schliesslich in Sydney an, wo ich sieben Monate bleiben sollte, weil ich pleite war. Dort habe ich mich architektonisch betätigt und ausserdem in einem Pub gearbeitet, um 6000 Pfund zu sparen, um wieder nach Hause zu kommen. Ich fuhr also durch Australien, dann mit dem Schiff nach Indonesien, weiter nach Singapur, von dort mit dem Motorrad durch Malaysia und Thailand. Dann nahm ich das Schiff nach Indien, fuhr nach Pakistan, in den Iran, durch die Türkei, über Griechenland und quer durch Europa bis nach London. Ich habe in etwas weniger als zweieinhalb Jahren 35 000 Meilen zurückgelegt.
Wie haben Sie den Iran nach der islamischen Revolution erlebt?
Der Iran war wirklich seltsam – das Land, das mich am meisten beunruhigte, weil ich nichts darüber herausfinden konnte, und das sich im Krieg mit dem Irak befand, als ich durchfuhr. Eine Alternative hatte ich aber nicht. Damals reiste man noch anders als heute. Man konnte nicht so viel planen wie heute. Morgens fuhr man los und wusste nicht, wohin man gelangen würde, wie weit man fahren werden müsse, um irgendwo unterzukommen – nichts. Das war wie eine leere Leinwand. Und genau darin bestand das Abenteuer, eben weil man keine Ahnung hatte, was passieren würde. Für den Iran bekam ich ein siebentägiges Visum ausgestellt. Ich empfand die Bevölkerung als sehr nett, gastfreundlich und liebenswürdig, mir schien sie aber sehr angestrengt, gegenüber Leuten aus dem Westen öffentlich ja keine Sympathien zu zeigen. Ich nehme an, dass die Geheimpolizei überall war und alle beobachtete. Aber im Privaten wollten die Menschen dennoch sehr freundlich, einladend und gastfreundlich sein.
Haben Sie von Ihrer Reise besonders prägnante Erinnerungen, was Freiheit angeht?
In dem Moment, in dem ich auf der Strasse war, verspürte ich ein überbordendes Freiheitsgefühl. Plötzlich war ich ganz allein und völlig frei darin, jede einzelne Entscheidung zu treffen. Es gab niemanden um mich herum, ich kannte niemanden, es waren keine Telefone verfügbar, und Kommunikation war fast inexistent. Obwohl das ein recht beängstigendes Gefühl war, war es zugleich ein Erlebnis absoluter Freiheit. Ich musste mich gegenüber niemandem rechtfertigen oder nicht irgendwem irgendwas erklären. Es gab nur mich und das, was ich machen wollte.
Das klingt aber auch sehr anstrengend.
Es kann ermüden. Mir war bewusst, dass man bei einem solchen Tanz auf dem Vulkan nicht den Kopf verlieren darf. Es war gut und schlecht zugleich, und dieser Eindruck, gänzlich allein zu sein, bisweilen alles andere als toll. Das Wichtigste war dieses Freiheitsgefühl. Ich denke nicht, dass das auf der Welt heute noch erfahrbar ist.
Spielt die Ambivalenz im Titel Ihrer Autobiografie hierauf an? Das «lone» in «Lone Rider» tönt sowohl nach «lonely», einsam, als auch nach «singulär», einzig.
Exakt. Gut gemacht! Viele Menschen kapieren das nicht. Sie sagen: «Ach, Sie waren doch gar nicht wirklich allein», weil ich Abschnitte der Reise in Begleitung verbracht habe. Aber darum geht es nicht. Das Motorradfahren hat mich in vielerlei Hinsicht isoliert und an einen noch einsameren Ort befördert. Mit einem Motorrad die Welt zu umrunden, isolierte mich von meinen Freunden und von meiner Familie, die diese verrückte Idee nicht nachvollziehen konnten. Und wenn ich irgendwo zum Übernachten anhielt, wurde ich oft für diese seltsame Person auf einem Motorrad gehalten. Selbst in Hostels war ich isoliert. Diese Reise war wirklich eine sehr, sehr einsame Erfahrung. Als ich zurückkam, war es dann nicht minder vereinzelnd, weil niemand begriff, was ich gemacht hatte, etwas darüber erfahren wollte oder überhaupt Interesse zeigte.
Können Sie sich das erklären? Es ist doch bemerkenswert, dass in jener Zeit eine Frau alleine die Welt mit einem Motorrad umrundete.
Innerhalb der britischen Motorradkultur wurden Frauen nicht für ernsthafte Fahrerinnen gehalten. In den einschlägigen Zeitschriften waren die einzigen abgebildeten Frauen halbnackte Models, die sich auf den Maschinen räkelten. Vor dem Internet bestand die einzige Möglichkeit, die eigene Geschichte zu erzählen, darin, dass eine Zeitschrift sie druckt und die Leser auch interessiert sind, sie zu lesen. Es brauchte den zugewandten Redaktor, der Interesse daran hatte, diese Geschichte zu veröffentlichen. Die Motorradpresse war sehr macho – wirklich eine Männerwelt. Und ich denke, dass die schlichtweg nicht bekanntmachen wollten, dass eine Frau diesen Trip hingelegt hatte. Zu akzeptieren, dass ich das gemacht hatte, war wohl schwierig für sie. Das Desinteresse war damals überaus schmerzhaft für mich.
Wie stand es um die Reaktionen in Ihrem privaten Umfeld?
Ich verstehe bis zu einem gewissen Grad, warum meine Freunde und meine Familie nicht interessiert waren – es ist ja ähnlich, wenn andere von ihrem Urlaub erzählen oder ihre Bilder davon zeigen: Wenn man sich nicht darauf beziehen kann oder es nicht versteht, ist es eigentlich ziemlich langweilig. Weil meine Reise so extrem war, war es für meine Freunde und meine Verwandten wohl noch schwieriger, nachzuvollziehen, was ich durchlebt habe.
Mussten Sie sich nach Ihrer Rückkehr wieder anpassen?
Ja, es dauerte etwa anderthalb Jahre, um mich wieder zu fassen. Das andere Problem bestand darin, dass so wenige Menschen das getan hatten, was ich gemacht hatte, und es äusserst schwierig war, jemanden zu finden, mit dem ich über all dies hätte reden können. Ich fühlte mich wie auf einer einsamen Insel.
Berühren sich die Motorradkultur und Architektur eigentlich in Ihrem Leben?
Die Reise hatte erheblichen Einfluss auf meine Tätigkeit als Architektin. In Sydney habe ich praktisch gearbeitet, in einem Architekturbüro, Baustellen besichtigt und plötzlich begriffen, um was es dabei eigentlich ging. Die Welt zu umreisen und all diese unglaublichen Gebäude in diversen Kulturen zu sehen, wie Menschen wohnen und wie sie lokales Baumaterial verwenden – ich liebte das einfach. Ich hatte das beim Reisen alles aufgesogen. Als ich heimkam, entschied ich mich, mein Architekturstudium zu beenden, was ich in den folgenden zwei Jahren auch tat. 1998 eröffnete ich dann mein eigenes Büro.
Worin sind Sie spezialisiert?
Ich kümmere mich häufig um alte Gebäude wie Wassertürme, Leuchttürme, Windmühlen und Kraftwerke. Jedes Projekt ist eine echte Entscheidung und Herausforderung, weil das meist Vorhaben sind, die andere Architekten ablehnen, weil sie zu kompliziert seien. Man muss da kreativ sein und es anders angehen. Wenn mir jemand sagt: «Entwerfen Sie doch einfach ein schlichtes Haus», entgegne ich üblicherweise: «Das will ich aber nicht» – denn das könnte ich zwar, ich ziehe es aber vor, etwas zu machen, das mich immer noch an meine Grenzen bringt und diese weiter hinausschiebt, um eine Lösung für ein Problem zu finden, die noch niemandem eingefallen ist. Meine Reise definierte die Art Architektur, die mich in den letzten 30 Jahren interessiert hat. Es geht dabei nicht darum, Geld zu verdienen – es geht darum, interessiert zu bleiben. Ein schönes Gebäude zu retten ist hundertmal wichtiger als die Frage, wie viel sich damit verdienen lässt.
Lassen Sie uns nochmals auf die Eingangsfrage zurückkommen: Was bedeutet Ihnen Freiheit heute?
Nun, aufgrund des Klimas, in dem wir seit zwei Jahren leben, bin ich wirklich besorgt, was Freiheit angeht. Mir tut die junge Generation leid. Ich befürchte, sie wird niemals jene Art Freiheit erleben, die ich hatte. Und leider fühle ich mich selbst gar nicht mehr frei – mir mutet es an, als hätten mir die Coronamassnahmen die Beine abgehackt. Ich kämpfe aber nach wie vor und reise auch. Im Winter war ich in Mexiko, fuhr Motorrad und kostete erneut ein Stück Freiheit. Vielleicht ist sie also noch immer da draussen. Man muss einfach intensiver nach ihr suchen. Es ist schon gut so.