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Peter Stadler: «Epochen der Schweizergeschichte»

Peter Stadlers «Epochen der Schweizergeschichte» mögen ohne anmassende Voreiligkeit als Teil seines Vermächtnisses angesehen werden; er selbst mutmasst, dass dieses Buch sein «letzter grösserer Beitrag zur Schweizergeschichte bleiben dürfte». Dieser ist fällig geworden nach der Demontage des tradierten Schweiz-Images, wie sie anlässlich der Siebenhundertjahrfeier und der Abstimmung zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) sowie vor der Expo […]

Peter Stadlers «Epochen der Schweizergeschichte» mögen ohne anmassende Voreiligkeit als Teil seines Vermächtnisses angesehen werden; er selbst mutmasst, dass dieses Buch sein «letzter grösserer Beitrag zur Schweizergeschichte bleiben dürfte». Dieser ist fällig geworden nach der Demontage des tradierten Schweiz-Images, wie sie anlässlich der Siebenhundertjahrfeier und der Abstimmung zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) sowie vor der Expo 2002 üblich wurde.

Die vorliegende Geschichte ist durchaus kritisch und frei von aufdringlichem Patriotismus. Eindeutige Grösse billigt Stadler nur sieben Schweizern zu: Niklaus von Flüe, Zwingli, Calvin, Rousseau, Pestalozzi, Dunant und Dufour. Dürrenmatt wird erst in einer weiteren Reihe von nicht spezifisch politisch führenden Persönlichkeiten erwähnt, Keller und Gotthelf auch dort nicht; das mag an der kritischen Haltung gegenüber dem Schweizerischen liegen; auch Peter Stadlers Onkel, der Komponist Arthur Honegger, fehlt in dieser Aufzählung; seine Grösse ist wohl hinter den Experimenten der heutigen Musik noch nicht voll ermessbar.

Die kritische Strenge, mit der Stadler die Schweiz beurteilt, macht es glaubwürdig, wenn er dennoch ihr Ansehen entschieden verteidigt. Das ist ja zur Zeit wahrhaft notwendig und kann nur von einem Historiker von seltener Kompetenz erbracht werden. Für diesen Mut, mit dem sich der Autor – vor allem unter Kollegen – exponiert, verdient er dankbare Anerkennung. Der Titel «Epochen der Schweizergeschichte» würde missverstanden, wenn man dahinter nur ausgewählte Epochen erwartete; das Buch enthält das Ganze der Schweizergeschichte von der Prähistorie bis zur letzten Jahrtausendwende. Mit vorbildlicher Umsicht und Ausführlichkeit sind vor allem das 19. und 20. Jahrhundert nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich und kulturell, und speziell auch im Hinblick auf die Konfessionen, die Parteien und das Militärwesen erfasst. Aufmerksamkeiten wie etwa die Feststellung, dass die «Schweizer Monatshefte» aus dem Disput um den Beitritt zum Völkerbund hervorgegangen sind, finden sich viele.

Diskret gemässigt klingt die patriotisch bejahende, den tapferen Vorfahren dankbare nationale Historiographie des späteren 19. und früheren 20. Jahrhunderts an. Wichtiger freilich sind die neuen Einsichten und zurechtrückenden Urteile, die Stadler sozusagen als Schiedsrichter in bisher unentschiedenen Streitfragen fällt. Salomonisch, das Urteil über den Bundesbrief von 1291: Es räumt ein, dass dieser Vertrag Elemente enthält, die an damals häufige Landfriedensbündnisse ohne staatsgründende Wirkung erinnern, hält aber doch am «hochpolitisch-antihabsburgischen Charakter» des Bundes von 1291 fest.

Selbstverständlich vermeidet der zurückhaltende Historiker jede Polemik gegenüber den Vergangenheitsbewältigern, die 1991 ihre «kulturschaffende» Aufgabe in der Abwertung des gefeierten Datums sahen. Und wenn sensible Leser in diese Zeilen doch etwas Polemisches hineinlesen, so liegt das nicht am Buchautor. Die erwähnte Zurückhaltung beherrscht den Ton über 350 Seiten lang, bis fast zum Schluss des Bandes. Sie wird auch gegenüber dem Bergier-Bericht nicht aufgegeben, der als imponierende Leistung vorgestellt wird, «bewundert viel und viel gescholten». Dass sich die betroffene Generation darin «zuwenig positiv gewürdigt fand», wird nicht bedauert, aber immerhin im Namen dieser Generation vorgebracht. Auch seine zumindest spürbare Ablehnung von EWR und EU verbirgt Stadler, ohne sich selbst zu exponieren, hinter der Meinung des Volkes, dem diese Institutionen «als Instrument der wirtschaftlichen Grossmächte und der Unterdrückung kleinerer Staaten» gälten.

All das macht um so eindringlicher, dass der bedeutende Historiker zum Schluss im Hinblick auf die aktuelle Immigration plötzlich selbst mit leidenschaftlicher Engagiertheit Stellung nimmt: Die Fortführung der bisherigen Asylpolitik bedeute für die Schweiz (so schrieb Stadler 2002) «ethnisch wie finanziell ein Verhängnis, an dem sie noch in diesem Jahrhundert verdientermassen zugrunde gehen könnte». Bei dieser Aussage er darauf verzichtet, sie als Statement anderer – etwa als Parole der SVP – vorzutragen. Im Unterschied zu gewiss weniger bedeutenden Zeitgenossen fehlt Christoph Blochers Name in dieser Schweizergeschichte. Das ist insofern verständlich, als deren Niederschrift schon 2002 abgeschlossen wurde. Damals aber wirkte Blocher auf allzu viele Zeitgenossen noch derart irritierend, dass die Berufung auf ihn die stärksten Argumente unbesehen der Verwerfung preisgegeben hätte. Doch ist auch abgesehen davon offensichtlich, dass Peter Stadler zur Frage um Sein oder Nicht-Sein der Schweiz aus seiner vorsichtigen Historikerobjektivität hervorbrechen und selber Farbe bekennen wollte.

Gerhard Frick ist promovierter Historiker und lebt in Zürich.

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