Peter Gross: Jenseits der Erlösung. Die Wiederkehr der Religion und die Zukunft des Christentums
Bielefeld: Transcript-Verlag 2007
Aufgabe der Religion ist gemäss soziologischer Definition, die unverfügbaren Ränder der Gesellschaft und des menschlichen Lebens zu kontrollieren. Dass der Mensch stirbt, dagegen kann keiner etwas tun, kein Polizist, kein Steuerberater, keine Ärztin. Spätestens am Grab beginnt die Grauzone der Religionen. Schamanen, Brahmanen, Imame und Pfarrer regieren in diesen düsteren Gefilden, die niemand freiwillig betritt.
Doch all das, findet Peter Gross in seinem Buch «Jenseits der Erlösung», sei banal. Eine so allgemeine Definition von Religion als «Kontingenzbewältigung» bleibe blutleer. Dasselbe gelte von der Wiederkehr der Religion, die allüberall postuliert werde. Nicht die allgemeine Frage nach der «Wiederkehr der Religion» interessiere, sondern einzig die spezifischere nach der «Zukunft des Christentums». Die Substanz, das Blut und die Glut, das ist’s, worum es Gross in seinem leidenschaftlichen Wurf geht.
Gross lehnt sich wahrlich weit hinaus, und dort draussen zeichnet er mit wuchtigem Stift seine Skizzen. Den Menschen beschreibt er im Anschluss an die Anthropologie als «Mängelwesen»: wir seien unvollendet, unruhig, es fehle uns an Instinkt. Doch der Mangel enthalte auch Möglichkeiten. Das Defizit setze die spezifisch menschliche Dynamik frei. Dasselbe gelte auch für den Tod, an dem jegliche Allmachtsphantasien und Ganzheitskonzepte zerbrächen. Hier, an der Grenze, würde das menschliche Leben seine Intensität empfangen, seinen nie erlöschenden Antrieb. Auch mit dieser Denkform knüpft Gross an eine alte philosophische und theologische Überlieferung an.
Ebenso alt seien die Versuche, das Defizit zu vertuschen, den Mangel zu beheben. Den Stachel herauszuoperieren, wie Gross sich in einem an Paulus angelehnten Leitmotiv des Buches ausdrückt. Geschichtsphilosophische Spekulationen, egal ob an Marx oder Markt orientiert, postulierten innerweltliche Vollendung in naher oder ferner Zukunft. Sie alle werden – auch das ist nicht neu – von Gross als Transformationen christlicher Erlösungsvorstellungen, aus der Vertikalen in die horizontale Zeitachse, entlarvt. Ob Himmel oder Futur – beides seien Strategien, das Unvollendete spekulativ zu verganzheitlichen.
Dasselbe soll für alle Formen holistischer, esoterischer, mystischer, gnostischer Religiosität gelten, wo Gross keine Gnade kennt. Was sogar Kirchen als Wiederkehr der Religion feiern, dieser «allüberall hervorquellende psychologische Polytheismus», wird von Gross als «Schwundstufe simpler Spiritualität» gebrandmarkt. Das Anliegen ist klar: Differenz darf nicht eingeebnet werden. Es gibt keine innerweltliche und auch keine innerseelische Ganzheit. Für den Kreuzzug gegen alle Formen von Holismus wappnet sich Gross mit den Arma Christi: «die Nägel, die seine Hand durchbohrten, die Lanze, die seine Seite öffnete, der Kelch, der sein Blut auffing, die Dornenkrone, die seine Stirne verletzte, das Schweisstuch, das sein Antlitz trocknete».
Doch man fürchte sich nicht: «Jenseits der Erlösung» ist kein grausiger katholischer Traktat. Die Arma Christi werden ins Metaphorische gewendet. Nur darum geht es Gross, dass die Unerlöstheit bleibt. Auch der christliche Himmel kann nur eine Flucht sein. Vorläufig gilt es, «im Fleisch», innerhalb der Grenzen und Gräben menschlicher Bedingtheit, zu leben. Diese mit Hilfe des christlichen Symbolsystems neu zu deuten, ist die eigentlich schöpferische Leistung des Buchs.
Soziologisch lässt sich gemäss Gross ein veränderter Umgang mit Makeln beobachten: sie werden im Soap-Zeitalter nicht mehr versteckt, sondern vielmehr zur Schau getragen. Wunden sind geradezu prestigeträchtig. Darin sieht der Soziologe scharfsichtig eine Korrelation zur Christologie: die Wunden sind gemäss christlichem Glauben das Erkennungsmerkmal des Auferstandenen! Hier, in dieser Entsprechung des Stigmamanagements in Soziologie und Christologie, zeichnet sich für Gross eine «Geburt innerhalb der Grenzen des überkommenen Christentums» ab; Stigmata und damit verbundene Erlösungsbedürftigkeit weisen fortan nicht mehr ins Jenseits, sondern jenseits jenseitiger Erlösung ist das erlöste Anerkennen des Nichterlöstseins im Diesseits das Ziel aller Wege.
Ist es das? Man zweifelt wie Gross’ Leitfigur, der zweifelnde Thomas. Weiss der Soziologe, wenn er die Litanei über leere Kirchen nachspricht, dass das Christentum weltweit schneller wächst als die Menschheit? Und dass die am schnellsten wachsenden Gemeinden, auch hierzulande, die evangelikalen sind, die mit den in diesem Buch vorgelegten entmythologisierenden Interpretationen nichts, aber auch gar nichts anzufangen wüssten? Die haben nämlich feste Vorstellungen vom Jenseits, die verstehen sich durchaus als erlösungsbedürftig, und die haben ihren Erlöser: Jesus Christus. Basta. So einfach ist das.
Das Buch kann als Zielgruppe nur einen kleinen und wohl wirklich kleiner werdenden Kreis von kritischen Christen und Kryptochristen in unseren Breitengraden im Auge haben. Mit Blick auf diese wäre dem faszinierenden Opus an einigen Stellen mehr Tiefenschärfe zu wünschen. Zum Beispiel ist «der Gottessohn» dem Tod nicht entgangen, er eben gerade nicht, auch wenn Gross das gut gnostisch insinuiert: «Tatsache ist, dass es noch nie vorgekommen ist (ausser beim Gottessohn), dass ein Mensch dem Tod entgeht.» Sonst würde das christliche Erlösungsparadox – Vernichtung des Todes durch den Tod – dem platten Dualismus von Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits zum Opfer fallen. Dem Tod entgangen sind hingegen Elija und Henoch, auch wenn man, solches sagend, riskiert, von Gross als esoterisch infizierter Kirchenchrist identifiziert zu werden. Indessen ist es einfach biblisch. Elija wird in einem Feuerwagen entrückt (1 Kön 2,11), und von Henoch heisst es: Er «lebte mit Gott. Dann war er nicht mehr da; denn Gott hatte ihn hinweggenommen» (Gen 5,24).
Damit kommen wir zum Punkt, der den Leser – einen Theologen protestantischer Provenienz – an diesem Buch leicht irritiert: der sorglose Umgang mit biblischen Texten. Intensiv und exzessiv werden die Metaphern vom Stachel und der Wunde zitiert, ja zelebriert. Andeutungsweise erfährt man, welchen Stellen sie entnommen sind. Dem Autor entgeht dabei, dass der sogenannt ungläubige Thomas seine Hand gar nicht in die Wunde des Auferstandenen legt. Er sagt nur: «Mein Herr und mein Gott!» (Joh 20,28). Diese Antwort wäre ein Wasserfall auf die Mühle von Gross: an der Wunde wird Gott sichtbar. Der stigmatisierte Gott. Und auch die andere Passage, die passim zitiert wird, wäre ein solcher Katarakt: vergeblich versucht Paulus, den «Stachel im Fleisch» herauszuoperieren. Gott selber rechtfertigt die Existenz dieses «Satansengels» (sic!) mit den Worten: «Du hast genug an meiner Gnade, denn die Kraft findet ihre Vollendung am Ort der Schwachheit» (2 Kor 12,9). Kraft in der Schwachheit – das ist doch die Pointe von Peter Gross’ Buch, oder?
besprochen von ANDREAS FISCHER, geboren 1966, evangelisch-reformierter Pfarrer in Zürich-Schwamendingen.