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Pekings kostspielige Kontrolloffensive

Die Regierung sieht China auf dem Weg zu einer modernen sozialistischen Nation. Sie greift immer stärker in den Technologiesektor ein. Selbst wenn das zulasten des Wirtschaftswachstums geht.

Pekings kostspielige Kontrolloffensive
Kai von Carnap & Valarie Tan, zvg.

 

Fast eineinhalb Jahre ist es her, dass Jack Ma, Gründer der chinesischen E-Commerce-Plattform Alibaba, Chinas Finanzbehörden die Leviten las. In einer Rede am 24. Oktober 2020 in Schanghai warf er den Regulierungsbehörden Inkompetenz vor und machte sie für die Schwächen des chinesischen Finanzsystems verantwortlich. Sein eigenes Finanzdienstunternehmen Ant Financial pries er dabei als Vorreiter. Mas kritische Rede markierte einen Wendepunkt, ab welchem der Parteistaat gegenüber den bis dahin weitgehend unregulierten chinesischen Technologieunternehmen zunehmend die Muskeln spielen liess.

Am selben Tag leiteten die Behörden die «Operation Cyber Sword» ein: eine breit angelegte Kampagne, an der 14 Ministerien beteiligt sind und die das Ziel verfolgt, Chinas Tech-Sektor unter staatliche Kontrolle zu bringen. Den Behörden wurden zahlreiche Aufgaben übertragen: Sie sollten Livestreaming-Umsätze regulieren, gegen unfairen Wettbewerb auf Onlinemärkten vorgehen, Werbung im Netz stärker überwachen, den Onlinehandel einer zen­tralen Kontrolle unterstellen und den illegalen Handel mit Tieren und Pflanzen auf E-Commerce-Plattformen beenden. Chinas «Cyber Sword» richtet sich dabei nicht nur ­gegen einzelne Unternehmen oder Apps, sondern nimmt auch ganze Branchen und Ökosysteme ins Visier.

Es folgte im Anschluss eine bis heute andauernde Regulierungswelle. Hunderte Unternehmen wurden mit Geldbussen in Höhe von insgesamt mehr als drei Milliarden US-Dollar belegt, zahlreiche Anwendungen wurden aus chinesischen App Stores entfernt. Auch gegen Ant wurde eine Untersuchung eingeleitet, und Jack Ma verschwand für drei Monate spurlos aus der Öffentlichkeit. Peking spielte die Bedeutung des bis dahin reichsten Manns in China und ­populären Unternehmers herunter. Die parteistaatliche Zeitung «People’s Daily» schrieb etwa: «Es gab nie eine Ära Ma, nur eine Ära, in der Jack Ma gelebt hat.»

Teil einer langfristigen Strategie

Hinter der Regulierungsflut steckt ein Strategiewechsel, den Xi Jinping, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPC), lange vorbereitet hat. Vergangenes Jahr, pünktlich zum hundertjährigen Bestehen der KPC, erklärte Xi feierlich den Beginn einer «neuen Entwicklungsphase» für China. Die Partei habe das Versprechen von Xis Vorgänger Deng Xiaoping, eine «Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand» zu schaffen, im Verlauf der vergan­genen 40 Jahre durch Marktreformen und eine teilweise ­Öffnung der Wirtschaft eingelöst.

Geht es nach Xi, so soll China bis 2049 eine «moderne sozialistische Nation» werden. Was das ganz konkret bedeutet, ist noch nicht in Stein gemeisselt. Bereits jetzt ist jedoch klar, dass China unter Xi einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel vollzieht. Gesellschaftliche und politische Stabilität haben Priorität vor reinen Wachstumszielen. Kernelemente des neuen Wirtschaftsmodells sind technologische Unabhängigkeit, eine vom Parteistaat gesteuerte Wirtschaft und das Ziel, zur weltweit führenden Technologiesupermacht aufzusteigen.

Die strenge Regulierung grosser Technologieunternehmen ist nicht das eigentliche Ziel Pekings, sondern nur eine Etappe bei der Umsetzung der Gesamtstrategie für die nächsten 30 Jahre. Hier liegt auch der zentrale Unterschied zu den USA und Europa, die Technologieriesen ebenfalls stärker regulieren möchten.

Festigung der Kontrolle über den Tech-Sektor

Chinas Führung hat in den vergangenen Jahren neue Institutionen und Regelwerke geschaffen, um ihre Strategie umzusetzen. 2018 wurde die staatliche Behörde für Marktregulierung gegründet, die vergleichbar mit der Schweizer Wettbewerbskommission ist, jedoch mehr Befugnisse hat. Sie entstand aus dem Zusammenschluss von drei Kartellbehörden. Im Rahmen des 2019 überarbeiteten Gesetzes gegen unfairen Wettbewerb hat die Behörde in der ersten Jahreshälfte 2021 mehr als 3000 Fälle untersucht und 206 Millionen Yuan an Bussgeldern eingenommen. Die staat­liche Behörde für Marktregulierung überwacht auch die Einhaltung des 2019 eingeführten E-Commerce-Gesetzes und des Antimonopolgesetzes, welches 2019 umfassend überarbeitet wurde.

In ähnlicher Weise stützt sich die 2014 gegründete Aufsichtsbehörde Cyberspace Administration of China (CAC) auf das Cybersicherheitsgesetz von 2017 und das Datensicherheitsgesetz von 2021. Im Rahmen dieser Gesetze wurden die Anbieter von mehr als hundert Apps ­wegen übermässiger und illegaler Sammlung persönlicher Daten vor Gericht gezogen.

Einer der bekanntesten Fälle dreht sich um den Fahrdienstanbieter Didi, der einst als das wertvollste Start-up der Welt galt. Bevor die Behörden Didi ins Visier genommen hatten, beschäftigte das Unternehmen rund 13 Millionen Fahrer in China, die täglich mehr als 20 Millionen Fahrten durchführten. Das Unternehmen übertraf damit all seine Konkurrenten und war dabei, im Ausland zu expandieren und seinem US-Pendant Uber die weltweite Führung im Fahrdienstgeschäft streitig zu machen. Im Juli 2021, zwei Tage nach dem triumphalen Debüt des Unternehmens an der New Yorker Börse, leitete die CAC eine grosse Cybersicherheitsuntersuchung gegen Didi ein und liess die Applikation aus den App Stores entfernen. Das hat auch Didis internationale Ambitionen ausgebremst: Der Aktienkurs des Unternehmens ist von rund 16 US-­Dollar direkt nach dem Börsengang auf unter 4 US-Dollar Ende Januar 2022 gefallen.

«Kernelemente des neuen Modells sind techno­logische ­Unabhängigkeit,

eine vom Parteistaat gesteuerte Wirtschaft und das Ziel,

zur führenden Technologie­supermacht auf­zusteigen.»

Weshalb haben Chinas Aufsichtsbehörden Untersuchungen gegen Didi eingeleitet? Auf den täglich mehr als 20 Millionen vermittelten Fahrten sammelt Didi eine ­Unmenge an Daten. Neben personenbezogenen Daten und Fotos von Menschen und Nummernschildern erfasst Didi auch geografische Standorte von Militär- und Regierungsgebäuden – Daten, die gemäss neuen Richtlinien der Regierung als «kritisch» eingeordnet werden und im Namen der natio­nalen Sicherheit vom Staat geschützt werden müssen. Unternehmen, die sensible Daten verarbeiten, unterliegen deshalb einer deutlich strengeren behördlichen Aufsicht und Kontrolle.

Globale Entwicklungen

Auch zahlreiche westliche Staaten arbeiten derzeit an ­einer strengeren Regulierung von Technologieriesen. In der Europäischen Union verpflichtet der Digital Services Act Unternehmen, illegale Inhalte auf ihren Onlineplattformen zu überwachen. Der Digital Markets Act befähigt zudem die Europäische Kommission, Übernahmen durch Technologieunternehmen zu stoppen, um die Entstehung von Monopolen zu verhindern. In den Vereinigten Staaten sieht ein parteiübergreifender Gesetzesentwurf vor, dass Technologieunternehmen Nutzern die Möglichkeit zu ­bieten haben, sich gegen manipulative Algorithmen zu entscheiden.

Was China von anderen Ländern unterscheidet, ist die Geschwindigkeit seines zentral gesteuerten Vorgehens: Nahezu monatlich treten neue Richt­linien in Kraft. Dazu gehört auch die Einschränkung mancher digitaler Geschäftsmodelle, gegen die Peking im Namen des Jugend- und Verbraucherschutzes vorgehen will.

Chinas Internetsektor, einst die Brutstätte technischer Innovationen, wird durch die regulativen Eingriffe herausgefordert: 80 Prozent der Werbung auf Webseiten Dritter, eine wichtige Einnahmequelle für viele Apps und Websites, wurden von den Behörden als «irreführend» eingestuft und entfernt. Der chinesische Tech-Gigant Tencent verzeichnete im dritten Quartal 2021 das langsamste ­Umsatzwachstum seit seinem Börsengang 2004. Und die ­Rentabilität von Alibaba sank im Vergleich zum Vorjahr um 38 Prozent.

Die Umstrukturierung der Unternehmen, die durch die neuen Vorschriften erforderlich ist, hat auch zu Entlassungen geführt. Besonders im Anzeigenverkauf und der Entwicklung von Gaming- und Online-Nachhilfe-Apps brechen für zahlreiche Anbieter Finanzierungsmöglichkeiten weg. Auch ausländische Unternehmen wurden nicht verschont: Microsoft hat sein Karrierenetzwerk ­LinkedIn in China geschlossen und durch eine eingeschränkte Version namens InCareer ersetzt. Yahoo zog sich im November 2021 aus China ganz zurück. Beide begründeten ihre Schritte mit dem «schwierigen Umfeld» in China.

2022 stehen weitere Gesetzesanpassungen an, nicht zuletzt wegen des geplanten dreijährigen Sanierungsprogramms für Algorithmen. Eine Reihe von Entwürfen für Verordnungen zur Überwachung des grenzüberschreitenden Datentransfers und Änderungen zur strengeren Durchsetzung des Antimonopolgesetzes verstärken die Unsicherheit und den Druck auf die Unternehmen, sich in den Dienst von Xi Jinpings «China-Traum» einer wiedererstarkten chinesischen Nation zu stellen. Doch der soziale und politische Druck wächst durch eine insgesamt schwächelnde Wirtschaft. Auf dem Weg zum 20. Parteitag im Herbst 2022 wäre Xi daher in den nächsten Monaten gut beraten, für wirtschaftliche Stabilität und Planungssicherheit zu sorgen – gerade Chinas Tech-Konzernen gegenüber.

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