Pax Technologica
Ökonomische Integration liess die Welt zusammenrücken und von alten Konflikten abrücken. Können die Treiber des technologischen Fortschritts diese Erfolgsgeschichte fortsetzen?
Jede Epoche wird mit einer Vision des globalen Friedens verbunden – und in der Regel nach dem amtierenden Hegemon dieser Zeit benannt: Pax Romana während der römischen Epoche, Pax Mongolica, als die Mongolen weite Teile der Welt regierten, Pax Britannica während vieler Jahre – und Pax Americana (bis) heute. Keine dieser Epochen war, das wissen wir heute, tatsächlich besonders friedlich. Grossmächte verstärkten ihre Dominanz unter anderem mit Fortschritten in der militärischen Technologie. Diese sollten ihre Feinde einschüchtern, befeuerten gleichzeitig aber gegenseitiges Wettrüsten und nationale Wettstreite. Die Römer hatten Waffen aus Bronze und Artilleriebatterien in Form riesiger Katapulte; die Mongolen verwendeten Steigbügel und an den Enden versteifte Pfeilbogen, während sie durch Eurasien galoppierten; es waren Dampfmaschinen und Gewehre, die es dem britischen Militär ermöglichten, ein globales Imperium aufzubauen; und die USA sind immer noch die führende Militärmacht in Sachen Atomwaffen, Flugzeugträgerflotten, Langstreckenbombern und anderen Technologien.
Es ist wenig verwunderlich, dass einige Beobachter der Gegenwart die historischen Muster des Wettrüstens auch im heutigen Aufstieg Chinas wiederentdecken. Die asiatische Grossmacht verhält sich in gewisser Weise wie ein klassisches merkantilistisches Reich: Es sichert sich natürliche Ressourcen über Kontinente hinweg, während es die globalen Märkte mit seinen billigeren Waren überschwemmt. Einen Teil ihrer Leistungsbi-lanzüberschüsse haben die Chinesen dabei auch in militärische Anlagen investiert: in eine Hochseearmee, weltraumgestützte Waffensysteme und Cyber-Sicherheit.
Seit dem Aufstieg der Song-Dynastie in China vor fast genau einem Jahrtausend, so könnte man formulieren, wechselten die Hegemonialmächte an verschiedenen Orten der Welt etwa einmal pro Jahrhundert. Das ist keine wissenschaftliche Formel, aber wenigstens ungefähr richtig – und es unterfüttert die Vermutung, dass China eines Tages die USA in ihrer globalen Hierarchie überholen wird. Nun, so weit die Historie. Da die Welt einer weiteren Runde nationaler Wettstreite ins Auge blickt, ist die Sorge nicht ganz unberechtigt, dass diese Konkurrenz auch zu einem erneuten Wettrüsten führt. Hier allerdings müssen wir uns vom Historizismus verabschieden. Denn auf den Plan tritt ein Faktor, der die Mächte der Welt – seien sie mit ehrenhaften Anliegen beschäftigt oder nicht – kooperativer macht, statt sie zu entzweien: Technologie.
Da die modernen Staaten mehr Einwohner, vor allem urbane und miteinander verbundene, haben, sind sie auf funktionierende Technik – Medizin, Landwirtschaft, Kommunikation und so weiter – deutlich stärker angewiesen als zu früheren Zeiten. Und moderne Technologie erfordert lange Lieferketten und grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Ein solches Beispiel wäre etwa die Fertigung von Hochtechnologie im Fernen Osten, die trotzdem letztlich unter amerikanischem Label auf die Märkte kommt (von Apples iPad über Running-Schuhe von Nike bis zu Photovoltaikanlagen für europäische Hausdächer). Selbst die Tatsache, dass Technologien für militärische Ziele entwickelt werden, ändert nichts an diesem Kooperationsmodus. Das Internet etwa wurde im Rahmen einer Finanzierung des US Department of Defense entwickelt, heute profitieren Chinesen in ähnlicher Weise davon wie US-Amerikaner oder Schweizer. Können wir also mit Recht von einer Art Pax Technologica der globalen Stabilität sprechen, wenn wir auf unsere Zeit und die nahe Zukunft schauen?
Friedensförderung durch Technologie
Es war diese Erkenntnis, dass wirtschaftliche Macht die Grundlage geopolitischer Sicherheit ist, die Wissenschafter in den späten 1980er Jahren dazu brachte, «Geo-Ökonomie» als alternativen Ansatz zur «herkömmlichen» Weltpolitik zu sehen. Paul Kennedys Rise and Fall of the Great Powers warnte davor, dass eine schlechte wirtschaftliche Lage zu Hause eine Hauptursache der «imperialen Überdehnung» im Ausland sei. Und Samuel Huntington wies darauf hin, dass «Wirtschaft die wichtigste Quelle der Kraft und des Wohlergehens» eines Staates sei. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges sind die globalen Konfliktherde stark rückläufig, während sich wirtschaftliche Integration und Zusammenarbeit deutlich ausgedehnt haben. Diese gegenseitige Abhängigkeit, so die Theorie, fördert den Frieden.
Die Wahrheit ist: Geo-Ökonomie hat Geopolitik nie ersetzt. Letzterer ist ein Begriff, der vor etwa einem Jahrhundert geprägt wurde. Wir verstehen die beiden derzeit als eher komplementär. Es gibt viele wichtige Unterschiede zwischen den amerikanisch-chinesischen Beziehungen heute und den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen vor dem Ausbruch des Kalten Krieges – wahr bleibt aber: Die USA und China sind bei allen politischen Differenzen immerhin durch geo-ökonomische Verflechtung tief miteinander verbunden. Die schnelle und globale Verbreitung von Technologie beschleunigt diese Abhängigkeiten und führt dazu, dass Staaten wenig Interesse an Konflikten haben, die eine garantierte gegenseitige ökonomische Zerstörung mit sich bringen können.
Einige der wichtigsten Variablen, die die Weltmachtstruktur bestimmen, sind heute also immer noch wirtschaftlicher Natur: Wird die US-Wirtschaft wieder auf die Beine kommen? Wird Europa wirtschaftlich weiter zusammenhalten oder auseinanderdriften? Wird Chinas erstaunliches Wachstum sich fortsetzen, wird es stagnieren oder gar noch einmal explodieren? Da aber eine wachsende Zahl dieser Variablen technologischer Art ist, bedeutet dies, dass der Kurs und das Wachstum der Technologie – und die Frage, wer sie beherrscht – eine grössere Rolle in der Geopolitik spielen werden.
China steht derzeit etwa vor enormen ökologischen Herausforderungen; es leidet heute bereits unter der Übernutzung einiger Landesteile, die das jeweilige Ökosystem stark in Mitleidenschaft zieht. Will es seinen Weg in eine moderne Ökonomie fortsetzen, das heisst, nachhaltiges Wachstum fördern, so muss es innovativer sein als der Westen, der für seine Strukturanpassungen viel mehr Zeit hatte. Deshalb ist China nun binnen weniger Jahre zu einem der weltweit grössten Hersteller von Solarzellen geworden und wird vielleicht eines Tages ebenso führend sein, wenn es um die Herstellung von Elektroautos geht. Die Kommunistische Partei hat eine Reihe von stark verschmutzten Städten und Regionen aufgefordert, die Emissionen zu verringern und saubere Kohle und andere alternative Energietechnologien zu verwenden. Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion ist auch eine der sieben strategischen Säulen des letzten Fünfjahresplans. China muss das eigene Land gleichzeitig ausbeuten und schonen, um es langfristig nutzen zu können. Und ja, das ist ein technologisches, kein rein politisches oder rein wirtschaftliches Problem.
Und die USA? Sie waren immer abhängig vom Öl des Nahen Ostens – was sich in ihrer Politik widerspiegelt, die seit Jahrzehnten mit derjenigen der Ölstaaten verstrickt ist. Die USA könnten sich dieses «Problems» schon bald entledigen. Nicht durch militärische Macht oder politisch forcierte Erhöhung der Kaufkraft im eigenen Land, sondern durch Technologie. Dies könnte bedeuten, dass neue (und weniger gefährliche) Methoden zur Förderung von Rohstoffen, wie etwa von einheimischem und saubererem Schiefergas oder von Naturgas unter der arktischen Eiskappe, für eine aussenpolitische Neuorganisation der USA sorgen.
In den Entwicklungsländern könnten neue Generika und gentechnisch veränderte Lebensmittel den Zustand von Gesundheit, Effizienz und Wohlstand der Bevölkerung drastisch verbessern, ja viele Menschen aus der Armut befreien und vielleicht einige der Ursachen von bisher «ethnisch» genannten Konflikten mildern. Die konsequente Nutzung von Technologie, nicht die Entwicklungshilfe oder der Raubbau an Bodenschätzen, wäre das potentielle Ende sich abwechselnder politischer Despotien.
Techno-Pragmatismus
Natürlich war Technologie immer schon Motor unserer Geschichte. Die Erfindung des Kompasses und die damit verbundene Seeschifffahrt beförderten zunächst die Entdeckung der Neuen Welt, auch den Kolonialismus und schliesslich den Welthandel. Und die Reformation kann selbstverständlich nicht ohne die Erfindung der Druckmaschine gedacht werden. Technologisches Wachstum schafft dabei Probleme wie Lösungen. Es beschleunigt Kohlenmonoxid-Emissionen, kann uns aber auch helfen, alternative Energien zu entwickeln, um die Emissionen wieder zu verringern (oder eben nicht, wenn wir nicht in solche Innovationen investieren). Und Atomkraft kann unsere Stuben heizen – oder sie vernichten.
Wenn militärische Macht von Natur aus wettbewerbsfähig macht – je stärker deine Armee, desto stärker dein Staat –, dann machte und macht wirtschaftliche Macht vor allem eins: kooperativ. Wie die Wirtschaft, so ist die Technologie nicht nur eine treibende Kraft für globale Zusammenarbeit, sie ist schon diese Zusammenarbeit.
Während Techno-Utopisten glauben, Technologie sei die Lösung für das Problem globaler Konflikte, sehen Techno-Pragmatiker wie wir die Technologie als Instrument zur Überwindung tief verwurzelter Zyklen von Wettbewerb um Ressourcen und Marktmacht. In der langfristigen Perspektive wird Technologie zu einer grand strategy: zu einem kollektiven, nicht nationalen Global-unternehmen. Die Welt ist zu komplex geworden für eine Pax Americana, die einfach abgelöst wird durch eine nächste, vielleicht asiatische Hegemonialmacht. Das zunehmend integrierte globale System zieht die alten Grenzen der Staaten neu. Und individuelle Kräfte formen dieses globale System, viele kleine, die vielleicht nichts voneinander wissen. Die Frage ist also nicht nur, wer künftig die Entwicklung der Technologie kontrolliert, sondern wie wir uns gemeinsam entwickeln, anleiten und lenken wollen.
Der Text basiert auf einem Essay, der zuerst in der Zeitschrift «The Atlantic» erschienen ist.