Pathos mit Gefahrenpotenzial
Die Begrifflichkeiten in der Präambel des Rahmenabkommens haben es in sich.
Der Text des institutionellen Rahmenabkommens Schweiz–EU wird von kaum jemandem gelesen, auch in den Zeitungen werden die Inhalte in aller Regel nur umschrieben. Dabei müsste bereits die Präambel dazu Anlass von Diskussionen sein. Sie ist zwar nicht direkt anwendbarer Vertragstext; indem sie die gemeinsam festgelegten Absichten der Vertragsparteien umschreibt, gibt sie aber den Hintergrund wieder, vor dem der Vertragstext ausgelegt werden muss. Damit hat die Präambel sehr wohl eine verpflichtende Wirkung.
Die Präambel verwendet auffallend starke und pathetische Worte, was ihre Bedeutung noch unterstreicht. Aber was heissen «gemeinsame Werte» und «europäische Identität» – verbindet die Schweiz mit der EU so viel ausser der direkten Nachbarschaft? Ihr historisch gewachsenes politisches System grenzt sie doch vielmehr ab von der EU und ihren Mitgliedstaaten. Um nur eine Besonderheit zu nennen: Der Zweck ihrer bewaffneten Neutralität ist ja gerade die Abgrenzung gegenüber allen anderen Staaten und Vereinigungen. Müssten solche Differenzen von dieser Präambel nicht aufgenommen und festgehalten werden, wenn sie, wie umschrieben, die Wahrung der Unabhängigkeit der Vertragsparteien ernst meint? Darin ist auch die Rede von «zahlreichen bilateralen Abkommen», nicht nur von denjenigen des Geltungsbereiches des vorliegenden Abkommens gemäss Artikel 2. Wird damit ein Grundstein gelegt für eine mitgliedschaftsähnliche Beteiligung der Schweiz an der EU, ist das als eine Äusserung mit Absicht auf unbeschränkte Geltung des Abkommens zu verstehen? Irritierend auch die Erwähnung der «Gleichheit» im dritten Absatz: Wer genau soll sich wem, bei Ungleichheit, angleichen?
Wenn die Beteiligung der Schweiz am Binnenmarkt nur auf der Basis der Regeln, die für den Binnenmarkt gelten – und von der EU festgelegt werden –, möglich ist, kann von einer Wahrung der Unabhängigkeit der Vertragsparteien, zumindest der Schweiz, keine Rede mehr sein. Insbesondere werden die Grundsätze der direkten Demokratie und des Föderalismus durch die von der EU festgesetzten und von der Schweiz zu übernehmenden Regeln untergraben. Die neue Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat in einem Interview«1 ausdrücklich betont, dass die EU kein föderalistisches Gebilde sei: Wie bloss soll unter dieser Voraussetzung der innerschweizerische Föderalismus gewahrt werden können? Es ist doch nicht anzunehmen, dass die EU je im schweizerischen föderalistischen System gefällte politische Entscheide, die ihren Regeln widersprechen, anerkennen wird.
Zu beachten gilt auch, dass sich bilaterale Verträge und ein institutionelles Abkommen gegenseitig widersprechen. «Bilateral» heisst bekanntlich «zweiseitig», gilt also für Verträge, die zwischen zwei gleichwertigen Partnern ausgehandelt werden. Ein institutionelles «Rahmen»-Abkommen jedoch bedeutet die Aufgabe des bilateralen Vertragswesens zugunsten einer Institution, einer Organisation, die den Interessenausgleich der teilhabenden Mitglieder vornimmt und die Regeln festsetzt. In diesem Rahmen bedeutet Homogenität tendenziell Gleichschaltung der Schweiz mit den Mitgliedern der EU.
Ich deute dieses institutionelle Abkommen als Kompetenzverschiebung hin zur EU und zur Brüsseler Bürokratie bei gleichzeitiger Schwächung unserer direktdemokratischen Institutionen, als Bedeutungs- und Unabhängigkeitsverlust unserer Institutionen und unseres Parlaments; behördliche Entscheide werden zunehmend in Zusammenarbeit mit den europäischen Administrationen gefällt werden müssen. Es handelt sich dabei um weit mehr als um ein blosses Wirtschaftsabkommen. Die von der Präambel umschriebenen Absichten legen fest, dass eine Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz in jede erdenkliche Richtung angestrebt werden soll.
In der Europäischen Union herrscht Einheit in Vielfalt. Das ist etwas anderes als Föderalismus. Ich finde, das ist der richtige Weg.» Interview mit Ursula von der Leyen. In: «Tages-Anzeiger» vom 19. Juli 2019, S. 7. ↩