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Päpstliche Denkanstösse

Benedikt XVI hat den theologisch interessierten Laien – auch den nichtkatholischen – schon mehrmals und in verschiedenster Hinsicht überrascht. Eine Zwischenbilanz.

Papst Johannes Paul II war in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine der geschichtsprägenden Gestalten, deren Bedeutung weit über die römisch-katholische Kirche und auch über die Kirche als religiös moralische Instanz hinausreichte. Ob sein aus Deutschland stammender Nachfolger mehr als nur ein Nachlassverwalter und eine konservative Übergangslösung sein würde, war zunächst eine offene Frage. Die bisherigen Publikationen und Wortmeldungen des neuen Papstes zeigen aber, dass dieser seine Funktion – als einer über den internen Wirkungskreis der katholischen Kirche hinaus beachteten globalen Instanz – durchaus aktiv wahrnimmt.

Wer hätte es dem intellektuellen Theologieprofessor zugetraut, dass er ausgerechnet ein so emotionales Thema wie die Liebe zum Gegenstand seines ersten Sendschreibens machen würde? Darin erscheint neben Hinweisen auf Nietzsche, Vergil, Sallust und Descartes sogar das Wort «Sex», das bekanntlich in den elektronischen Suchmaschinen noch vor dem Wort «Gott» rangiert. Die Liebe zum Nächsten wird in dem Dokument in einen direkten und unbefangenen Bezug zur Gottesliebe gesetzt, und in Übereinstimmung mit psychologischen Erkenntnissen (und alttestamentlichen Zeugnissen) wird sogar auf die gemeinsame Wurzel von sinnlichem Eros und spiritueller Agape verwiesen. Das ist eine eindrückliche Abkehr von der bisher vorherrschenden Abwertung alles Körperlichen und Sinnlichen zugunsten einer reinen Spiritualität. Den theologisch Interessierten irritiert allerdings die Tatsache, dass in einem päpstlichen Sendschreiben über die christliche Liebe ausgerechnet die provokativste und christlichste aller Lieben, die Feindesliebe, mit keinem Wort erwähnt wird. Wollte der Papst das Fuder einer allumfassenden Liebe nicht überladen, oder wollte er sich die Bahn freihalten für die später vorgenommen Abgrenzungen von «Gottes Familie» mit Aussenstehenden, Andersgläubigen und Andersdenkenden?

Ein zweites Mal überraschte der Papst die unvoreingenommenen Beobachter mit seiner Regensburger Vorlesung. Er verwies darin kritisch auf jene Koransuren, die den Heiligen Krieg des Islams fordern, und er exponierte sich vor der auf political correctness eingeschworenen Weltöffentlichkeit mit einem Zitat, wonach Mohammed «nur Schlechtes und Inhumanes» gebracht habe. Auch seine nachträgliche Distanzierung (vom Zitierten und vom Zitat) konnte nicht verbergen, dass es dem Oberhaupt der katholischen Kirche in seiner professoralen Geschichtslektion nicht in erster Linie um Versöhnung ging, sondern um jene Abgrenzung gegenüber der militanten Intoleranz, auf die auch die friedlichste Familie zum Schutz gegen aussen nicht verzichtet.

Eine dritte Überraschung war sein Bestseller «Jesus von Nazareth», der vor einer historisch-kritischen Exegese nicht zurückschrickt und methodisch auch Resultate der protestantischen Leben-Jesu-Forschung einbezieht. Das Buch ist denn auch weit über den Kreis einer römisch-katholischen Leserschaft hinaus zur Kenntnis und als Zeugnis der dialektischen Verknüpfung von Wissen und Glauben positiv wahrgenommen worden.

Die vierte Überraschung wirkte auf viele Nicht-Katholiken wie ein Schock. Es ging um die päpstliche Auffassung über das Wesen der Kirche und um den Hinweis, die Orthodoxie stehe diesbezüglich dem Katholizismus näher als der Protestantismus verschiedenster Bekenntnisse. Sollte nach der Abgrenzung gegen den Islam auch noch eine nicht gerade liebevolle Abgrenzung gegenüber der christlich-ökumenischen Grossfamilie nachgereicht werden? Bei einer sorgfältigen Analyse zeigt sich, dass diese Abgrenzung nicht einfach als Rückschritt zu deuten ist. Als Jurist ist mir die wichtige Unterscheidung von Stiftung und Körperschaft geläufig. Während die Stiftung (die synonym auch als «privatrechtliche Anstalt» bezeichnet wird) eine Gesamtheit von Personen und Sachen ist, die dauerhaft einem bestimmten Zweck gewidmet sind, ist die Körperschaft eine Gesamtheit von Personen, die autonom ihren Zweck bestimmen und diesen nach dem vorgesehenen Verfahren auch ändern können. Die Stiftung hat keine Mitglieder, sondern Destinatäre oder Nutzer. Die Körperschaft hingegen basiert auf Mitgliedern, die je nach Statuten eine aktiv gestaltende Rolle spielen und damit auf das Schicksal der Gemeinschaft Einfluss nehmen und sie auch der Willkür ihrer verantwortlichen Organe ausliefern.

Die ihrem Wesen nach unterschiedliche Grundauffassung schliesst in der praktischen Ausgestaltung Mischformen nicht aus. So hat man beispielsweise bei den Universitäten immer wieder diskutiert, ob dort anstaltliche Elemente (das heisst die strikte Ausrichtung auf den Stiftungszweck der Wahrheitssuche und -vermittlung) überwiegen oder die körperschaftlich aufgefasste autonome Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden. Selbst beim Staat machen beide Deutungsmuster Sinn. Je direkt-demokratischer und je offener die Verfassung ist, desto mehr überwiegen die körperschaftlichen Elemente. Die Schweizerische Eidgenossenschaft hat aufgrund ihrer historischen Wurzeln mehr körperschaftlichen als anstaltlichen Charakter.

Aus römisch-katholischer Sicht ist die Kirche eindeutig eine Stiftung, deren Zweck – die Heilsvermittlung – vom Stifter Jesus Christus unabänderlich bestimmt worden ist und die den Gläubigen (als Destinatären des Heils) keine autonome Gestaltungsfreiheit zugesteht. Je besser ihr Leben mit den Geboten des Stifters im Einklang steht, desto gewisser ist das durch ihn verheissene und durch seine Nachfolger verwaltete Heil. Es ist aus dieser Sicht folgerichtig, dass die katholische Kirche in Grundsatzfragen keine Mitbestimmung durch ihre Zugehörigen zulassen darf, wenn sie einheitlich, heilig, allumfassend und auf die direkte Nachfolge des Stifters abgestützt bleiben will.

Die protestantischen Kirchen sind hingegen körperschaftlich aufgebaute Gemeinschaften von Menschen, die sich in ihrem Glauben verbunden fühlen und darauf vertrauen, dass sie in der selbstbestimmten Nachfolge Christi und im Vertrauen auf einen nicht anstaltlich und hierarchisch organisierbaren und auch nicht dogmatisch fixierbaren «Heiligen Geist» den Weg zum Heil weisen können. Das Heil selbst wird den Glaubenden als Gnade geschenkt, wobei die Gemeinden hoffen und bitten, dass sie bei der Selbstorganisation die jeweils richtigen Entscheidungen treffen. Das Evangelium steht als «Gottes Wort, von Menschen aufgezeichnet» zwar fest, und über dessen Geltung kann nicht körperschaftlich verfügt werden, aber für die Auslegung gibt es keine abschliessend zuständige oberste Instanz. Wer diese beiden Konzeptionen – christliche Stiftung einerseits und christliche Körperschaft anderseits – einander gegenüberstellt, wird als Nichtkatholik die vom Papst vorgenommene Unterscheidung nicht mehr als Angriff empfinden, sondern als Anstoss zum Nachdenken über das eigene Kirchenverständnis. Der ökumenische Geist darf nicht zur allgemeinen Vernebelung grundlegender Unterschiede missbraucht werden, und es ist kein Unglück, wenn ein theologisch geschulter katholischer Oberhirte Anstoss zum Nachdenken gibt.

Nach so viel Lob von nichtkatholischer Seite sei fünftens und abschliessend noch auf eine Verlautbarung des Papstes verwiesen, in der er sich mit einem Thema befasst, das mehr mit politischem Populismus als mit der Auslegung des Evangeliums zu tun hat: die päpstliche Anprangerung sogenannter Steueroasen und die damit verknüpfte Verurteilung des internationalen Steuerwettbewerbs. Nachdem das in jeder Beziehung gerechte, menschen- und gottgefällige Steuersystem weltweit noch nirgends erfunden oder gefunden worden ist und wohl auch in Zukunft auf sich warten lassen wird, müssen unterschiedlich unzulängliche Steuersysteme miteinander im Wettbewerb stehen. Wer die gezielte Nutzung der Vorteile dieses Wettbewerbs als Kirchenoberhaupt generell verdammt, masst sich ein Wissen an, das nach den Worten des biblischen Gleichnisses mehr in die Zuständigkeit des Kaisers als in diejenige Gottes fällt.

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