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Ostmitteleuropa ist ein Bollwerk des Realitätssinns

Westeuropa behandelt den Osten oft herablassend und bevormundend. Dabei zeigen gerade die Ostmitteleuropäer, wie man Probleme richtig anpackt. Eine Ehrenrettung.

Ostmitteleuropa ist ein Bollwerk des Realitätssinns
Blick auf das moderne Warschauer Geschäftsviertel. Bild: Keystone / Robert Kluba.

Ein Russlandfeldzug gegen die Ukraine – das habe man ja nun wirklich nicht ahnen können! Bis zum heutigen Tag ist diese Ansicht in vielen westeuropäischen Ländern zu vernehmen. Doch die Aussage ist sachlich falsch. Denn schon lang vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hatten viele Stimmen aus Ostmitteleuropa ‒ vor allem aus Polen ‒ vor der Kriegslust des Kremls gewarnt.

Der unscharfe, auch in der Wissenschaft nicht einheitlich gebrauchte Begriff «Ostmitteleuropa» bezieht sich hier auf die multiethnischen, primär westkirchlich geprägten, nach dem Zweiten Weltkrieg im Machtbereich der Sowjetunion stehenden Staaten im Osten Mitteleuropas mit Estland im äussersten Norden und Kroatien im äussersten Süden, westlich begrenzt durch Italien, Österreich, Deutschland, östlich begrenzt durch die Ukraine, Belarus und Russland.

Über Stärken und Schwächen dieses Begriffsverständnisses liesse sich lange räsonieren, doch dafür ist hier kein Platz. Unabhängig von akademischen Diskussionen trifft man heute in Ostmitteleuropa, wo die durch den Sowjettotalitarismus erlittenen Wunden noch heute klaffen und wo ein starker Wille zum wirtschaftlichen Aufstieg besteht, auf jene Bereitschaft zur Konfrontation mit harten Realitäten und auf jene Nüchternheit, die vielen in Frieden und Wohlstand aufgewachsenen Menschen im Westen fehlen.

Arroganz des Westens

Schon 2008 mahnte der damalige Präsident Polens, Lech Kaczyński: «Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen das Baltikum und später vielleicht auch Polen.» Das deutsch-russische Pipelineprojekt Nord Stream 2 bezeichnete er als das, was es faktisch war: «ein politisches Projekt». Vytautas Landsbergis, das erste Staatsoberhaupt Litauens nach der Unabhängigkeit, warnte schon in den 1990er-Jahren luzide vor der Wiederkehr des russischen Expansionismus. Und die damalige litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė sagte 2014, was erst zehn Jahre später zur Alltagsprosa westeuropäischer Mainstreammedien gehören sollte: «Russland ist praktisch im Krieg gegen Europa.»

Der ostmitteleuropäische Realismus speist sich aus konkreter Erfahrung und genauem Hinschauen statt aus Lehrbüchern. Die oben zitierten Stimmen aus Ostmitteleuropa bezeugen auch nicht, dass dort per se «bessere» Demokraten leben würden als im Westen. Das Liebäugeln mit Populismus und Autoritarismus in einigen ostmitteleuropäischen Staaten spricht eine klare Sprache. Der illusionslose Blick auf den russischen Autoritarismus aber, der mal in zaristischer, mal in linksextremer, mal in der heutigen hybrid-rechten Form auftritt, ist in Ostmitteleuropa stärker ausgeprägt als im Westen, wo man sich in sicherer Distanz zum russischen Riesen wähnt. Die Länder Ostmitteleuropas dienen ja als komfortable Pufferzone und müssen im Falle des Falles anstelle des Westens bluten. Aber natürlich wird es ‒ Wandel durch Handel sei Dank ‒ gar nicht so weit kommen! So redete man es sich viele Jahre ein. Daraus spricht nicht nur die alte Arroganz des Westens, sondern auch ein Realitätsverlust, der sich seit dem Fall der Berliner Mauer im Westen Europas breitmacht. Deutschland sticht in dieser Hinsicht besonders hervor.

Man denke nur an die mittlerweile legendären Sätze der damaligen deutschen Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht im Februar 2022, kurz vor der russischen Invasion: «Wir können heilfroh sein, dass der Putin nicht so ist, wie er dargestellt wird. Nämlich ein durchgeknallter, russischer Nationalist, der sich daran berauscht, Grenzen zu verschieben.» Oder an das Eintreten der angeblich so «nüchternen» und «besonnenen» früheren deutschen Kanzlerin Angela Merkel für den Bau der Kriegskassenpipeline Nord Stream 2 sogar nach Russlands Annexion der Krim im Jahr 2014. Merkels bizarre Begründung: Es handle sich um ein rein «privatwirtschaftliches Projekt». Quer durch die ideologischen Lager kritisierten Politiker in Polen zu Recht, dass das Irreführung sei.

Verwöhnte Westkinder

Die Männerfreundschaft des deutschen Altkanzlers Gerhard Schröder mit Wladimir Putin, von Schröders lukrativen Jobs in russischen Staatsunternehmen ganz zu schweigen, spricht für sich. Im Baltikum und in Polen stiess der deutsch-russische Bruderkuss zu Recht auf scharfe Ablehnung. 2021 verstieg sich Schröder im TV-Sender Phoenix zu der geschichtsklitternden Aussage, immer wenn es zwischen Deutschland und Russland gut gelaufen sei, sei das auch gut für den Frieden gewesen. Die gewaltsame Aufteilung Polens im 18. Jahrhundert unter Russland, Preussen, Österreich oder der Hitler-Stalin-Pakt von 1939, der zur erneuten Zerstörung Polens führte und den Zweiten Weltkrieg einläutete – mit derlei Petitessen mochte sich Schröder nicht befassen.

Nicht nur in Deutschland, auch in anderen Gegenden Westeuropas hält sich ein solcher kolonialistischer Blick auf Ostmitteleuropa; mithin auf Regionen, die seit Jahrhunderten mal von Deutschen respektive Preussen, mal von Osmanen, mal von Russen, mal von Österreichern bevormundet, bedrängt, besetzt wurden. Westliche und östliche Grossmächte sehen ostmitteleuropäische Regionen traditionell als amorphe Manövriermasse. Man lernt nicht von ihnen, man belehrt sie und hält sie klein. Im hybriden 21. Jahrhundert aber, da der sogenannte Westen selbst im Begriff ist, nach ein paar Jahrhunderten globaler Dominanz vom Zentrum an die Peripherie zu rücken, können wir verwöhnten Westkinder viel von Ostmitteleuropa lernen. Denn aus der Position derer, die erlebt haben, wie es ist, in der Hackordnung der Mächte unten zu stehen, sieht man Realitäten, die dem entrückten Blick westlicher Herren- und zunehmend auch Damenreitermilieus entgehen.

«Westliche und östliche Grossmächte sehen ostmitteleuropäische

Regionen traditionell als amorphe Manövriermasse. Man lernt nicht von ihnen, man belehrt sie und hält sie klein.»

Wer Realitätssinn in geopolitischen Belangen und Expertise im Umgang mit multiplen Krisen, Instabilität oder Gewalt sucht, sollte nicht nach Paris, Bern oder Rom und vor allem nicht nach Berlin schauen. Deutschland lebt in einer Blase wohlstandssaturierten Wunschdenkens und verwandelt rhetorisch verbrämtes Appeasement gegenüber Autoritären im Äusseren in sozialstaatliches Gold im Inneren.

Wertschätzung der Marktwirtschaft

Auch die Wertschätzung der Marktwirtschaft, welche die Elendsgleichheit des kommunistischen Staatsdirigismus beendete, ist in Ostmitteleuropa relativ robust. So wird die frühere estnische Premierministerin und heutige Vizepräsidentin der EU-Kommission, Kaja Kallas, nicht müde, marktwirtschaftliche Prinzipien, Leistungsbereitschaft und eine strenge Fiskalpolitik zu verteidigen.

Tschechien hat 2025 sein Defizit auf unter drei Prozent gesenkt, die Inflation unter Kontrolle gebracht und zugleich die Verteidigungsausgaben erhöht. In Polen hat sich seit den liberalen Reformen der 1990er-Jahre alles, was in Zahlen messbar ist, trotz nicht zu leugnender psychosozialer und kultureller Kollateralschäden, die sich aktuell in verbissenen «Culture Wars» zwischen Liberalprogressiven und Klerikalkonservativen artikulieren, verbessert: Gini-Index, Lebenserwartung, Human Development Index, Bruttonationaleinkommen pro Kopf, nur um einige Beispiele zu nennen. Das Land rüstet zugleich auf wie kein anderes in Europa – nicht weil es «kriegslüstern» ist, im Gegenteil. Die Polen wollen nach Jahrhunderten der Krisen und Fremdbestimmung eigentlich ihre Ruhe. Doch sie wissen aus bitterer Erfahrung, dass mitunter nur militärische Stärke Kriege verhindern hilft. Auch deshalb sagte der damalige und heutige polnische Aussenminister Radosław Sikorski im Jahr 2011: «Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.»

«Tschechien hat 2025 sein Defizit auf unter drei Prozent gesenkt, die

Inflation unter Kontrolle gebracht und zugleich die

Verteidigungsausgaben erhöht.»

Zwar ist auch Ostmitteleuropa nicht immun gegen die Versuchungen des paternalistischen oder maternalistischen Etatismus. In Polen errang die rechtspopulistische Partei Recht und Gerechtigkeit in den Parlamentswahlen 2015 nur deshalb eine absolute Mehrheit, weil sie mit einer linken Sozialpolitik vor allem ländliche und kinderreiche Wähler umgarnte. Und in Ungarn hat sich längst ein illiberales System mit ausgeprägt klientelistischen und nepotistischen Zügen etabliert.

Gleichwohl: Der sogenannte Westen tut gut daran, den Ostmitteleuropäern nicht nur gut zuzuhören, sondern auch vermehrt auf sie zu hören. Gerade von Zwischen- und Grenzregionen lässt sich lernen, wie der Theologe Paul Tillich in seinem Buch «On The Boundary» (1966) schrieb: «Die Grenze ist der beste Ort, um Wissen zu erwerben.»

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