Original Swiss from Ghana
Allen Pendlern ist er ein Begriff: Kwasi Nyankson. Er war der wohl beliebteste Bahn-Steward der Schweiz. Der gebürtige Ghanaer über Robotermentalitäten im Service, afrikanische Weisheiten und die Umkehrung des Credos «Der Kunde ist König».
Herr Nyankson, eigentlich wollten wir eine «Nacht des Monats» mit dem berühmtesten und wohl auch beliebtesten Railbar-Steward der Schweiz machen…
…aber ich bin kein Railbar-Steward mehr. Ich wurde gefeuert.
Deswegen wollten wir mit Ihnen reden. Und wir sind soeben auf dem Weg durch die Luzerner Bahnhofshalle einigen Zugreisenden begegnet, die Sie direkt auf Ihr Nichterscheinen im Zug angesprochen haben: Man kennt Sie beim Namen, jeder dritte auf dem
Perron erkundigt sich nach Ihnen. Was ist passiert?
Es gab einen dummen Zwischenfall mit einem Kunden. Mein Verdacht ist allerdings, dass dieser nur als Vorwand diente, um mich loszuwerden. Die allermeisten Passagiere mochten mich und meine Art. Ich vermute, dass meine Popularität meinem Arbeitgeber nicht gefiel.
Das ist nicht plausibel: Glückliche Kunden sind zahlende Kunden. Und zahlende Kunden sind das, was sich ein Unternehmen wünscht…
…Das sollte man meinen, ja. Aber jedes Mal, wenn ich mit den Verantwortlichen sprach, hörte ich denselben Satz: Sie bewegen sich ausserhalb unserer Unternehmenskultur – Ihre Art, zu verkaufen, passt nicht zu diesem Unternehmen, sie entspricht nicht dem Verkaufsleitfaden.
Wie sieht dieser Leitfaden aus?
Sie wollen, dass man das Abteil mit einem «Grüezi mitenand» betritt und dann wie eine Marionette durch die Reihen läuft. Angeblich, weil die Kunden das verlangen. Wo das Unternehmen diese Idee her hat, weiss ich nicht – denn meine Kunden verlangten nicht nach einem Roboter, sondern nach einem netten Verkäufer. Ich bemühte mich, so einer zu sein. Und ich werde kein Roboter-Make-up auftragen, nur weil das irgendein Unternehmensbürokrat von mir verlangt. Wenn man mir nun bei der Kündigung sagt, «der» Kunde sei eben König, dann frage ich mich doch, welchen Kunden das Unternehmen damit meint. Die Antwort ist: sie meinen nur einen einzigen von mehreren tausend.
Nun kommen wir zum Kern der Sache: Ihnen wurde gekündigt, weil jemand unzufrieden mit Ihnen war?
«Unzufrieden» ist das falsche Wort. Ich kam an seinen Platz und fragte witzelnd: «Do you want to spend your money? I am ready for your money!» So, wie ich das seit fast 18 Jahren mache. Mit einem Augenzwinkern natürlich. Aber der Herr war in diesem Fall wohl nicht zu Scherzen aufgelegt. Er fragte mich, was mir denn einfalle, so mit ihm zu reden, und sprang auf. Angeblich hatte er grosse Angst vor mir. Vielleicht habe ich ihn erschreckt, ich weiss es nicht. Von den Motiven für sein aufgeregtes Verhalten hörte ich erst einige Wochen später, als man mich in die Firmenzentrale zitierte – und dort lag meine Kündigung schon unterschrieben bereit, ohne dass man mich auch nur einmal zur Sache angehört hätte.
Das klingt zu simpel. Kann es sein, dass Ihre Umsätze unter den Erwartungen lagen?
Nein, die waren sogar sehr gut! Und das hat man mir auch seitens des Unternehmens mehrfach bestätigt. Mein Verdacht: Es liegt nicht am Umsatz. Es liegt eher an meinem Alter.
Eine steile These, das müssen Sie erklären.
Ich bin in diesem Jahr fünfzig geworden. Und das bedeutet, dass ich Anspruch auf mehr Urlaub habe und ausserdem meinen Arbeitgeber automatisch mehr Geld koste: Die Pensionskassenbeiträge haben sich mit meinem Geburtstag schlagartig erhöht, und diese sind vom Unternehmen zu bezahlen. Ich koste einfach mehr als der 48jährige oder der 25jährige.
Nach der Logik dürfte es ja fast keine über 50jährigen Arbeitnehmer mehr geben.
Nein. Ich glaube, dass Unternehmen grundsätzlich gewillt sind, leistungsfähigen älteren Mitarbeitern mehr zu zahlen. In Unternehmen, die einfache Arbeiten anbieten, wo also sehr hoher Kostendruck entsteht, weil man sich vor Bewerbern kaum retten kann, ist die Mitarbeiterbindung aber niedriger. Das ist nun einmal so.
Sie haben sich mit Ihrer Situation einfach abgefunden?
Wissen Sie, ich komme aus Ghana. Und dort gibt es ein Sprichwort: Wenn zwei Elefanten miteinander kämpfen, ist es das Land, das leidet. (lacht) Der eine Elefant, das ist die Firma. Und der andere Elefant, das sind die Kunden, die mich zu 99 Prozent mögen, ja sogar eine Facebook-Fanseite für mich bewirtschaften. Beide Seiten hätten wenig davon, wenn wir nun miteinander streiten – und ich will auch gar nicht zurück.
Wieso nicht?
Aus folgendem Grund: Ein Geschäft lässt sich nicht programmieren oder normieren, denn es sind ja unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Stimmungen und unterschiedlichen Mentalitäten. Ich habe 18 Jahre lang die Leute im Zug bedient. Völlig unterschiedliche Leute. Und die meisten von ihnen haben irgendwelche Probleme. Zu Hause, beim Job, sonstwie. Und im Zug denken sie darüber nach, versuchen sich zu entspannen. Wenn ich nun diese Leute bedient habe, dann freundlich, lustig, herausfordernd. Ich habe versucht, den Leuten nicht nur das zu verkaufen, was sie haben wollen, sondern ihnen das zu geben, was sie brauchen. Nicht selten war das neben einem Getränk oder einer Tüte Chips auch Freundlichkeit, Wärme und Freude.
Der Wohlfühleffekt ist nichts anderes als Marketing.
Nennen Sie es, wie Sie wollen. Die Leute haben gelacht, mir auf die Schulter geklopft, mich irgendwann mit Handschlag begrüsst. Für mich war das immer ein Job, der Menschen glücklich machte, ihre Bedürfnisse befriedigte. Wissen Sie: dieser Job ist ja eigentlich unnütz. Die allermeisten Zugfahrgäste haben Essen und Getränke daheim. Sie müssen nicht im Zug essen! Es ist teuer und unnötig. Bei mir haben viele gekauft, weil sie meine Herzlichkeit mochten. Das haben mir viele Menschen gesagt – und damit hatte ich einen erfüllten Job. Wie ein Arzt im Krankenhaus, wie ein Priester in der Kirche. So sehe ich das.
Sie müssen in dieser Zeit auch viel über die Schweizer Bahnreisenden gelernt haben.
Richtig! Ich habe gelernt, dass man Soziologie nicht studieren muss, um ein Soziologe zu sein. (lacht) Ich habe über den Kundenkontakt mit Abertausenden von Menschen so viel über die Leute dieses Landes gelernt, dass ich mich Soziologe nennen könnte. Ich habe gelernt, mit Menschen umzugehen, die dich hassen oder lieben. Ich bin reich. Reich an Erfahrung.
Reich, aber ohne Arbeit?
Ich habe im Leben gelernt, dass alles einen Anfang und ein Ende hat. Ich werde Gott sicher nicht böse sein, weil nun 18 gute Jahre zu Ende gegangen sind. Ich sage Ihnen: Wer anderen Gutes tut oder 18 Jahre getan hat, dem wird auch Gutes zurückgegeben. Und ich versichere Ihnen: Wer zwei Dschungel überlebt hat, der macht sich beim Betreten des dritten keine Sorgen mehr. Ich habe Jahrzehnte mit dem tropischen Regenwald gelebt, muss es also wissen: So ein Zug ist dem Dschungel gar nicht so unähnlich: Dort leben die verschiedensten Tiere. Böse Tiere, liebe, schöne, gute und gierige Tiere. Man kann viel über diese Tiere lesen, aber wenn man ihnen begegnet, ist es dann doch anders. Vielleicht sollten die Leute aus den Büros, die unseren Verkaufsleitfaden gemacht haben, auch mal einige Jahre in dem Job arbeiten. Dann hätten sie ihr Wissen über die Menschen nicht aus unpersönlichen Studien.
Ihre Dschungel-Metapher ist witzig, allein…
…das ist keine Metapher, so ist das Leben dort. Wer keine Ahnung vom Dschungel hat, sollte denen, die sich hineinwagen, keine Ratschläge erteilen.
Wie funktioniert so ein Schweizer SBB-Dschungel denn genau?
Ich wuchs in Asafo Akim auf, einem kleinen Dorf am Rande des ghanaischen Regenwalds. Dort musste ich häufig in die Wildnis, um Nahrung zu besorgen. Es gab Mangos, Bananen, Orangen. Aber je nachdem, wann ich kam, gab es Tiere, die aktiv waren oder auch nicht. Ich sah zu verschiedenen Tageszeiten ganz verschiedene Tiere. Das gleiche gilt für den Zug: Wenn Sie spätabends im Zug sind, fahren andere Leute als zur Rush-Hour. Und manchmal fährt auch niemand. Aber dank mir gab es immer Mango-, Bananen- und Orangensaft. (lacht) Und noch etwas: jeder, der in der Wildnis lebt, weiss, wie man Tiere anlockt. Sie stehen auf bestimmte Pflanzen und Früchte: Also pflanzt man, um sie zu locken, die richtigen Bäume. Das gleiche habe ich gemacht. Ich wusste, wie ich meine Kunden anlocken konnte. Ich wusste, was sie brauchen würden…
Sie sind immer noch voller Energie! Woher kommt Ihr ungebrochener Enthusiasmus?
Jeder hat eine Quelle der Energie. Aus ihr schöpft er für das Leben, für die Liebe, für die Arbeit. Meine Quelle ist das Gottvertrauen. Das macht mich zum unschlagbaren Optimisten. Gott hat mich mit Freude ausgestattet. Und ich gebe sie gern weiter.
Wo und wie wollen Sie Ihren Energieüberschuss künftig loswerden?
In Ghana sagt man: Wenn dein Kind ertrinkt, so wirst du morgen trotzdem wieder Wasser trinken. Für mich bedeutet das: Das Leben geht weiter, nun muss ich einen neuen Platz finden. Ich möchte den Leuten dienen, ihnen Freude machen. Das kann ich anbieten. Für mich als originaler Luzerner Hinterländer aus Ghana ist aber auch klar, dass irgendwann mein Leben in der Schweiz vorbei ist. Ich darf nicht Ausländer werden, bedeutet: Ich möchte nicht hier sterben, sondern daheim, in Afrika, meinem anderen Zuhause. Dort, wo grosse Teile meiner Familie auf mich warten, ausserdem ein Haus und hoffentlich ein schöner Lebensabend.