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Orient-Express

VIII – Auf dem Pilgerweg

Ich, Darius, König der Könige – so beginnt die Inschrift auf dem mächtigen Felsrelief von Bisitun. Im schwindenden Nachmittagslicht waren die monumentalen Figuren kaum noch zu erkennen. Links und rechts ragt eine jäh abfallende Felsspitze empor, so dass, wie die Kurden sagen, die Silhouette eines Hauses mit durchhängendem Dachfirst entsteht. Auf der höheren Felswand, ockerfarben und flechtenüberwachsen, sind die gigantischen Figuren bärtiger Männer auszumachen. Archäologen, die sich in Körben von oben herunterlassen, können die stolze Keilschrift lesen – Ich, Darius, König der Könige …

Diese Strasse von Hamedan, dem alten Ekbatana, nach Kermanschah und dem Pass Taqhe Gara, der nichts anderes ist als eine gigantische Treppe, die in den Irak hinunterführt, ist eine der Strassen, auf der alle grossen Armeen der Geschichte marschiert sind. Die Steine sind abgenutzt und schief von den Schritten ungezählter Generationen von Soldaten und Tieren. Überall haben sich die Leute an Felswänden verewigt. Eine eigentümliche Geschichtsschwere liegt über diesen Tälern und Felsen, diesen steinigen Flussbetten. In den hallenden Schluchten meint man die Rufe der Elamiter und der Soldaten des grossen Königs zu hören, durchsetzt mit den Flüchen der Tommies und dem Getrappel der russischen Kavallerie.

In den letzten Jahren hat die Geschichte diese Region abermals heimgesucht in Gestalt dreier gnadenloser Armeen. Während des Krieges haben Türken und Russen hier gegeneinander gekämpft. 1918 kamen die Briten in ihrem Feldzug um Öl hierher und bauten die Strasse, genauer gesagt, erneuerten sie. Das hat dazu geführt, dass hier kaum noch ein Chan oder Dorf steht, dass die Wüste, Schauplatz der grossen Aufmärsche der Geschichte, das ganze Agrarland aufgefressen hat und dass man während einer Tagesreise in einem klapprigen Ford nichts zu essen findet, ausser, mit viel Glück, eine Schale saure Milch im Zelt kurdischer Nomaden.

Auf der Strasse wimmelt es von Pilgern aus Persien und der gesamten schiitischen Welt, denn es ist eine gute Reisezeit. Die Flüsse sind trocken, die Pässe noch nicht zugeschneit, und die irakische Tiefebene kühlt allmählich ab. Ich weiss überhaupt nicht, wovon sie sich ernähren, diese fröhlichen und staubbedeckten Familien, die zu Fuss unterwegs sind, denn der Armenier und ich können noch so viel mit unserem Silber klimpern, wir können von Glück sagen, wenn wir am Tag irgendwo eine Mahlzeit auftreiben. Diese Pilger sind unterwegs zu den heiligen Stätten des Irak, Kazimain und Samarra und Nadschaf und Kerbela, zu den Gräbern von Imamen, Männern, die keinen Schatten werfen, deren Seele Gott gehört. Reiche auf Pferden und Maultieren, Frauen in Kamelsänften, Arme auf Eseln oder zu Fuss, Karawanen mit den weissen Särgen von Verstorbenen, die in heiliger Erde bestattet werden sollen. Den ganzen Tag fahren wir an ihnen vorbei, bespritzen sie, wenn die Strasse matschig ist, geben ihnen Staub zu essen, und der Ford hüpft und keucht wie ein Hund auf drei Beinen, denn der armenische Fahrer, der Englisch spricht und eine kaum kaschierte englische Offiziersuniform trägt, empfindet den Triumph des Kreuzes und der Alliierten über den Turban und die Hunnen wie seinen eigenen.

In einem verfallenen Ort, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, übernachteten wir in einer Karawanserei, in einer kleinen Zelle, deren Tür wir mit dem Auto versperrten. Der Armenier bat mich, auf unsere Sachen aufzupassen, und zog los, um etwas zu essen zu besorgen. Ich sass auf dem niedrigen Dach und zog den Kopf ein, um nicht eine der zerbrechlichen Glaskugeln herunterzureissen, die funkelnd an der kobaltblauen Himmelsdecke hingen. Überall im Hof flackerten Lagerfeuer, an denen bewegungslose Pilgergestalten sassen. Sie unterhielten sich so leise, dass man das Kauen der Maultiere und Pferde in den Ställen hören konnte. Gelegentlich blökte ein Kamel. Ein Geruch von brennendem Reisig stieg mir in die Nase und von dem Kaffeehaus in der Toreinfahrt ein süsslicher Opiumhauch. Alles war wie aus dünnem Glas oder Eis, in der intensiven Fragilität des Moments traute man sich kaum zu atmen.

Ost und West und Nord und Süd waren starke und körperlose Präsenzen, wie das Wesen, das man sich hinter der Gardine phantasierte, als man noch ein kleines Kind war. Die vier Himmelsrichtungen waren Folterinstrumente, die sich in einen bohrten wie die Schwerter der Mater dolorosa. Warum ist der Osten so anders als der Westen, warum ist man im Süden glücklich und im Norden elend?

Ein Hauch von angesengtem Fleisch lag in der Luft, und dann erschien der Armenier auch schon mit ein paar Kebabspiessen in der Hand, dünnem Fladenbrot und einer weissen Melone unter dem Arm. Wir assen und schliefen auf der Stelle ein. Am nächsten Morgen war der Hof leer. Die Pilger waren vor Tagesanbruch verschwunden. Wir tranken etwas Tee und fuhren los. An diesem Tag würden wir den
gewaltigen Pass überqueren, der sich tausenddreihundert Meter hinabwindet in die mesopotamische Ebene. Ich war unruhig und bedrückt. Namen der Städte, die ich alle nicht gesehen hatte, summten wie Mücken um die Ohren – Kabul, Herat, Chorasan, Isfahan, Schiras. Bagdad kann das nicht aufwiegen. Es hatte auch so einen deutschen Klang, erinnerte an Artikel in der Nation über die Nahostfrage und an den «Winter Garden». Ah, diese bonbonfarbenen arabischen Nächte.

 And the ladies of the harem

Knew exactly how to wear ’em

In Oriental Baghdad long ago.

Warum schliesslich einen Ort ansteuern, der so definitiv in Berlin und New York etabliert ist? Bagdad ist in den Geheimplänen des deutschen Generalstabs, in Jake und Lee Shuberts Bühnenfundus, in den Tresoren der Anglo-Persian. Warum sich am Ufer des Tigris herumtreiben? Zwischen den beiden Flüssen wurde Ausländern immerhin das Wrack des Garten Eden gezeigt und ebenjener Feigenbaum, aus dessen Blättern Adam und Eva Anstand, Moral und Tugend geschneidert hatten. Das war doch etwas!

Derweil rollte der Ford voran. Wir kamen an all den Pilgern vorbei, die die Nacht in der Karawanserei verbracht hatten. Die ausgedörrte weite Ebene wellte sich, wurde von Gräben durchzogen. Plötzlich floss die Ebene durch eine Bergspalte, die Strasse wurde mitgerissen, wir kamen in ein breites, steil abfallendes Tal, das sich zu einer Schlucht verengte, und fuhren im Zickzack eine Bergwand hinunter. Die Hügel vor uns falteten sich wie enorme Stufen zu einer Abfolge von blaugestreiften Horizontalen. Das Meer? «Mespot», sagte der Armenier. «Dort drüben, Bagdad.»

In Kasr Schirin schienen alle zu glauben, ich hätte es furchtbar eilig. Der Ort war ein hübsches rosa und weisses Städtchen mit Balkonen, die von dünnen weissen Säulen getragen wurden. Ich wollte bleiben und etwas essen, herumsitzen und mir die Stadt ansehen, doch alle dachten, dass ich den Zug verpassen würde, wenn ich nur eine Sekunde wartete. Und bevor ich mich versah, wurde ich in ein Gefährt mit drei Gendarmen samt Gewehr gepackt, und los ging die Fahrt nach Chanikin, wie ich annahm.

Dieser Wagen wurde von zwei Maultieren gezogen und erinnerte mich ein wenig an die Darstellungen der Ochsenkarren der Merowinger auf den Fleisskärtchen, die man bei einer guten Note im Französischunterricht bekam. Es war eine (ungefederte) Wagonette mit Verdeck und hübsch gerafften Seitengardinen. Der Holzrahmen war mit hellroten und blauen und lila Blumen bemalt. Auf der Ladefläche lagen der Gendarmerieoffizier und ich, der Länge nach ausgestreckt, Rücken an Rücken, die Köpfe elegant mit den Händen abgestützt, während die beiden einfachen Gendarmen zu unseren Füssen hockten. Der Kutscher ging nebenher und trieb die Maultiere fluchend an.

So verliess ich Kasr Schirin und Persien widerstrebend und in orientalischer Pracht.

Durch eine aberwitzig zerzauste Landschaft aus rosa und violetten und zart orangefarbenen Hügelchen, zinnoberroter Ödnis und einem grossen kieselsteinernen Flussbett. Nirgendwo ein Hauch von Grün, nur dieses Durcheinander aus kraftlosen Mineralfarben in der sengenden Nachmittagssonne. Schlingernd rumpelte der Wagen über die zerfurchte Piste. Rosa Staub legte sich über uns, und schliesslich erreichten wir, durchgerüttelt und hungrig und durstig, den Bahnhof, die Endstation aller Endstationen. Ein Gleis mit ein paar gelben Schuppen, alte Männer hockten im Sand und verkauften Wassermelonen. Dahinter noch weitere Schuppen und ein Gleis, auf dem drei separate Güterwagen standen. Ringsherum mehrere Stacheldrahtzäune. Das hier, Bahnhof und Absperrung, war die irakische Grenze.

Die persischen Gendarmen trugen den Koffer und geleiteten mich ernsten Gesichts in das Bahnhofsgebäude und kehrten wieder um. Der Wagen entfernte sich, und ich war allein mit den Fliegen. Nach Stunden fand ich den Babu-Bahnhofsvorsteher, einen wichtigtuerischen und strengen Mann. Hier war eine andere Zeit als in Persien, das Geld war anders, dies war nicht Chanikin, nirgendwo gab es etwas zu essen. Also setzte ich mich draussen vor der Bahnhofstür auf meinem Koffer in den Schatten, versuchte, meine Wassermelone zu essen, bevor die Fliegen sie mir wegassen, alles klebte mir am Leib, und ich fühlte mich einsamer und einsamer. Weiter hinten am Gleis hockten einige «Eingeborene», charakterlose Eingeborene wie bei Kipling.

Schliesslich kam eine schwarze Lokomotive angeschnauft, die drei graue Waggons mit Fensterläden zog und aus jeder Ritze den Geruch von Dampf und Maschinenöl verströmte, der mich an all die grossen Bahnhöfe erinnerte, das alte Seventh Street Depot in Washington und die Grand Central und die South Station und den Gare St. Lazare und den Gare d’Orléans und die Estación del Mediodía und den Bahnhof in Strassburg. Ah, das Essen in Bahnhofsrestaurants und die Drinks in den kleinen Bars auf der anderen Strassenseite! Die Austern in der Grand Central und die Langusten gegenüber vom Gare St. Lazare, die hastig hinuntergestürzten Mahlzeiten in Bobadilla und die Kastanien und Churros am Ende der Calle Atocha, das eingelegte Rebhuhn und die Weinbergschnecken, mit Manzanilla hinuntergespült, all die letzten Mahlzeiten in all den Grossstädten, vermischt mit dem Dampfgeruch und dem Wumm- Zisch, Wumm-Zisch, Wumm-Zisch der Lokomotiven. Süssigkeiten, Zigarren, Zigaretten … Vielleicht ein Chicken-Sandwich, Hortonʼs Eiskrem … Keine Bestellungen mehr nach Abfahrt des Zuges … Oh, selbst die eingewickelten Sandwiches und der Geruch von Windeln in den Zügen der New York, New Haven & Hartford.

Mir blieb nichts anderes, als in der Dunkelheit zu sitzen, inmitten schreiender Erinnerungen, mich mit Wassermelone vollzustopfen und im Schein der trüben Bahnhofsfunzel die Pilger aus Persien zu beobachten, die nach Überqueren der magischen Linie des britischen Herrschaftsbereichs ihre Fröhlichkeit, die Würde ihrer Gesichter und Bewegungen, die Eleganz ihrer Lumpen und ihrer hohen Filzhüte verloren und, in den stickigen Zug drängend, sich in gesichtslose Kiplingsche Eingeborene verwandelt hatten.

Unter heftigem Magengrimmen nach allzu viel Wassermelone und in sorgenvoller Erinnerung an den französischen Arzt, der mir gesagt hatte: «Monsieur, en Iraq il ne faut pas abuser des pastèques», rollte ich schliesslich die gestreifte Täbris-Decke aus und legte mich schlafen.

Als ich aufwachte, bot mir ein Engländer einen Drink an. Wir waren in Chanikin. Er kam von irgendwelchen Ölbohrungen im Norden. Wir sassen im trüben Licht des Schlafwagenabteils und sprachen über die Yeziden. Alle seine Arbeiter waren Yeziden, Teufelsanbeter. Er versuchte, Informationen über sie zusammenzutragen, aber es war sehr schwer, etwas Konkretes herauszufinden. Im Mittelpunkt ihres Kults steht eine Stadt beziehungsweise das Grabmal eines Scheich Aadi bei Mossul. Die Yeziden gelten als letzte Angehörige einer manichäischen Sekte. Sie haben ein heiliges Buch, aber Schreiben und Lesen sind ihnen verboten. Der Name Scheitan ist ihnen heilig, und alle S- und Sch-Laute sind aus ihrer Sprache verbannt. In manchen Nächten sollen sie rauschhafte Feste von jener Art feiern, wie sie den frühen Christen von den Römern nachgesagt wurden. Sie verrichten die niedrigsten Arbeiten, sind Strassenarbeiter und Strassenkehrer, ein paar Wohlhabende sind Gemüsegärtner. Sie glauben an die gnostische siebenfache Emanation Gottes, aber Scheitan verehren sie als Herrn dieser Welt in Gestalt eines goldenen Pfaus.

Schliesslich gab es keinen Whisky mehr und keine Melone und nichts mehr über die Yeziden. Wir legten uns schlafen. Als ich aufwachte, war der Engländer verschwunden. Die Sonne erhob sich über einer weiten Ebene, staubig und baumlos wie ein New Yorker Hinterhof, gleichmässig schlachtschiffgrau in allen Richtungen, ohne Hügel oder Häuser oder die leiseste Aussicht auf ein Frühstück.

 

Der hier vorliegende Auszug ist ein exklusiver Vorabdruck aus Dos Passos’ bis heute aufschlussreichen Reisenotizen aus den Jahren 1921– 1926. «Neben ihrem rein literarischen Wert sind sie ein einzigartiges Zeugnis für die durch den Ersten Weltkrieg und den Bolschewismus verursachten Umwälzungen aller Lebensverhältnisse im Kaukasus und im östlichen Mittelmeer. Der ‹Orient›, wie er
bis heute durch unsere Nach­rich­tensendungen geistert, hat sich in dieser Zeit überhaupt erst herausgebildet», schreibt Stefan Weidner im Nachwort der deutschen Erstausgabe von Orient-Express (Übersetzung: Matthias Fienbork). Das Buch erscheint am 23.2.2013 bei Nagel & Kimche im Carl-Hanser-Verlag. Wir danken dem Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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