Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Oregons demokratische Revolution und ihre Schweizer Wurzeln
Andreas Gross, zvg.

Oregons demokratische
Revolution und ihre Schweizer Wurzeln

Zürcher Erfahrungen mit den Volksrechten inspirierten die Demokratiebewegung an der Westküste der USA. Massgeblichen Einfluss hatten ein New Yorker Gewerkschafter, ein Zürcher Sozialist und ein Eisenschmied, der zum Juristen wurde.

Anfang der 1890er-Jahre gab es in Zürich die sozialdemokratische Zeitung «Die Arbeiterstimme». Das «Wochenblatt für das arbeitende Volk der Schweiz», wie sie sich selber nannte, erhielt im Januar 1894 einen Brief vom anderen Ende der Welt. Geschrieben hatte den Brief ein Zürcher Auswanderer namens Bosshard, der in Portland, der grössten Stadt des Gliedstaates Oregon im Nordwesten der USA, eine neue Heimat gefunden hatte. Bosshard berichtete in dem Brief, dass «in Oregon, an der Küste des Stillen Ozeans, eine starke Volksbewegung im Gange ist zur Einführung des Initiativ- und Referendumsrechts in die Verfassung des US-Bundesstaates».

Diese Volksbewegung wollte Bosshard unterstützen. Deshalb bat er die Redaktion der «Arbeiterstimme», ihm doch Unterlagen und Erfahrungsberichte der Zürcher Demokratiebewegung zuzustellen, die 25 Jahre zuvor das liberale «System Escher» zu Fall gebracht und die neue Zürcher Kantonsverfassung mit weitgehenden Volksrechten durchgesetzt hatte. Robert Seidel, der Chefredaktor der «Arbeiterstimme», war begeistert. Er schickte Bosshard alles, was er zur friedlichen direktdemokratischen Revolution von 1869 zur Hand hatte, und schrieb in seinem Blatt: «Es erfüllt uns mit Stolz und Freude, zu sehen, wie die treffliche Idee der direkten Gesetzgebung durch das Volk die Welt erobert.»

Artikel in der «New York Times»

Was Bosshard nicht bewusst war: Er war nicht der Erste, der dafür sorgte, dass die Zürcher Demokratiebewegung der 1860er-Jahre zur Inspirationsquelle des Progressive Movement in den USA der 1890er-Jahre wurde. Diese Pionierrolle hatte ein kleines Büchlein des damals 40-jährigen New Yorker Journalisten und Gewerkschafters James W. Sullivan (1848–1938) mit dem Titel «Direct Legislation by the Citizenship through the Initiative and Referendum» übernommen. Es fasste drei Artikel, die Sullivan im Mai 1889 in der «New York Times» geschrieben hatte, zusammen und erweiterte sie zu den «schweizerischen Erfahrungen mit einer reinen Demokratie» und dem Kampf um die Erweiterung der repräsentativen, indirekten Demokratie um die direktdemokratischen Volksrechte Initiative und Referendum in der ganzen Schweiz zwischen 1860 und 1885. Sullivan hatte in der zweiten Hälfte des Jahres 1888 Europa, vor allem Frankreich und die Schweiz, besucht, die demokratischen Erweiterungen der rein repräsentativen Demokratie studiert sowie die Praxis vor allem im Kanton Zürich.

Die Artikel Sullivans in der «New York Times» zeigten keine grosse Wirkung. Doch sein 120-seitiges Büchlein schlug 1892 ein wie eine politische Bombe. In den Händen der Aktivisten des Progressive Movement und der Kämpfer für eine «Progressive Democracy» wurde es zum «Katalysator» einer demokratischen Umwälzung. Das Büchlein verkaufte sich Mitte der 1890er-Jahre vor allem an der US-Westküste besser als die Bibel. Es machte seinen Autor zum «Vater der amerikanischen direkten Volksgesetzgebung». Heute kennen immerhin die Hälfte der 50 amerikanischen Gliedstaaten die direkte Demokratie. Auch wenn sie auf Bundesebene (noch?) nicht existiert, sind sich also mehr als zwei Drittel der amerikanischen Bürgerinnen und Bürger Volksabstimmungen gewöhnt und möchten sie (wie in der Schweiz) nicht mehr missen. In der Zürcher Zentralbibliothek findet sich übrigens heute noch das Exemplar von Sullivans «Direct Legislation», das der Autor seinem wichtigsten Informanten aus Zürich, Karl Bürkli (1823–1901), linker Flügelmann der Demokratischen Bewegung, gewidmet und 1892 über den Atlantik zugestellt hatte.

Druck aus dem Volk

Für den Durchbruch der direkten Demokratie waren in den USA wie in der Schweiz eigentliche breite und mächtige Bürgerbewegungen verantwortlich. Ohne Druck aus dem Volk waren dies- wie jenseits des Atlantiks die Volksvertreter nicht bereit, ihre gesetzgeberische Macht mit dem Volk zu teilen. Die progressive Demokratiebewegung der 1890er-Jahre in Oregon wollte angesichts des «plutokratisch beherrschten Parlamentes» den direkten Einfluss der Bürger genauso stärken wie die Zürcher Demokratiebewegung in den 1860er-Jahren angesichts der selbstherrlichen, liberalen «Geldaristokratie» um Alfred Escher. In Zürich wie in Oregon waren es die «Eisenbahnbarone», die Parlament und Politik beherrschten. Sie vernachlässigten die Interessen der einfachen Bürger und kümmerten sich in keiner Weise um deren Sorgen.

In der Wirtschaftskrise der 1890er-Jahre litten die Oregoner Bauern und Holzarbeiter enorm unter den privaten monopolistischen Eisenbahn- und den Schiffsgesellschaften und deren Banken. Diese liessen die Produktions- und Transportkosten steigen, während die Verkaufspreise aufgrund der importierten Ware fielen. Da im Parlament in der Hauptstadt Salem die Eisenbahn- und Schiffsbarone das Sagen hatten, fühlten sich die meisten Bauern und Handwerker unverstanden, ohnmächtig und hilflos. Das entfremdete sie von der mehr am Kapital orientierten, Oregon lange dominierenden Republikanischen Partei. Sie wurden umso empfänglicher für die fundamentale Kritik und die demokratischen Forderungen der aufkommenden ländlichen Reformbewegung.

In einem der Zentren der Reformbauern der «People’s Party», einer grossen, wir würden heute sagen, «alternativen» Obstplantage in Milwaukee bei Portland, hatten sie eines der 1500 in Oregon verkauften Bücher von Sullivan eingehend studiert und sich die Forderung nach der Volksgesetzgebung zu eigen gemacht. Der junge William S. U’Ren (1859–1949), der sich als gelernter Eisenschmied in Abendkursen autodidaktisch zum gewieften Juristen weitergebildet hatte, gründete 1893 gleich einen «Direkte-Demokratie-Club». Sullivans Büchlein hatte ihn davon überzeugt, dass die «Macht der Gesetzgebung nun wieder dorthin verschoben werden (muss), wo sie hingehört, nämlich in die Hände des Volkes».

U’Ren organisierte 1894 im ganzen Bundesstaat unter den Bauern rund um Sullivans Büchlein unzählige Lesungen und Diskussionen zur Volksgesetzgebung. Ihm ging es darum, demokratische Wege zu finden zur Umgehung der Blockade aller sozial- und wirtschaftspolitischen Reformen durch die republikanische Mehrheit im Parlament. Im Juni 1895 schrieb William U’Ren: «Vor zwei Jahren verstand in Oregon noch fast niemand etwas von den Volksrechten. Heute habe ich den Eindruck, dass drei Viertel aller intelligenten Wähler die direkte Demokratie verstehen und für diese Revolution sind.» 14 000 der insgesamt 80 000 Wähler Oregons hatten eine entsprechende Petition unterzeichnet. Dieser Schwung brachte U’Ren 1896 auch ins Parlament Oregons. Dort konzentrierte er sich vollständig und mit allen parlamentarischen Tricks auf die Formierung einer Allianz, welche wie in der Staatsverfassung vorgesehen zweimal – einmal vor und einmal nach einer Wahl – der Verfassungsrevision zur Einführung von Volksinitiative und Referendum zustimmte. 1902 folgte dann auch die Volksabstimmung. Das Ergebnis war überwältigend. Mit 62 024 gegen 5668 stimmten die Oregoner der Einführung der Volksrechte zu.

Grosse Reformen

Damit war Oregon nach South Dakota, das ihm vier Jahre vorausgegangen war, zwar erst der zweite US-Gliedstaat, der die direkte Demokratie einführte. Doch er sollte zu jenem werden, der diese sofort weitaus am intensivsten praktizierte. 1908 kamen 19 Vorlagen zur Abstimmung, 1910 gar 32. Grosse Reformen im Interesse der Mehrheit der einfachen Menschen gelangen: So wurde per Initiative und Volksabstimmung das Frauenstimmrecht, das Proporzwahlrecht, die direkte Wahl der beiden Senatoren und manche soziale Reform verwirklicht. William U’Ren sprach wie Gottfried Keller in Bezug auf Zürich 40 Jahre zuvor von einer «gelungenen (friedlichen) Revolution». Jahrelang ist die Idee der direkten Demokratie in Oregon als «Swiss System» bezeichnet worden. Nun wurde sie bundesweit zum «Oregon System». U’Ren vergass aber nie, wem die Oregoner es verdankt haben. In einem Brief aus dem Jahr 1912 an den Schweizer Professor William Rappard schrieb William U’Ren: «Wir übernahmen unser Initiativ- und Referendumsrecht von Ihrem Land. Wir wurden in unserem Kampf für die direkte Demokratie von vielen Schweizer Emi­granten und James Sullivan unterstützt.»

«Jahrelang ist die Idee der direkten Demokratie in Oregon

als ‹Swiss System› bezeichnet worden.»

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!