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Online-Spezial: Über Zustände, die wiederherzustellen sind

Ein Disput zum Thema Konservatismus und Liberalismus.

Vorrede: Im März 2016 kam unser langjähriger und sehr geschätzter Autor Jörg Scheller mit einer Idee auf mich zu. Aus seiner Zeit an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, so Scheller, kenne er den Philosophen Marc Jongen persönlich und wolle mit ihm öffentlich diskutieren, nachdem er Jongens Positionen in einem Essay für DIE ZEIT im Januar dieses Jahres kritisiert und Jongen sich per Online-Statement revanchiert hatte. Jongen, ehemals Assistent von Ex-HfG-Rektor Peter Sloterdijk, hat einen kometenhaften Aufstieg hinter sich – vom bis anhin völlig unbekannten Hochschullehrer zum «AfD-Hausphilosophen» (taz), der seiner konservativen Protestpartei ein intellektuelles Fundament geben will. Jongen nennt das «Avantgarde-Konservatismus» und zieht mit seinen Einlassungen durch die Feuilletons und Kultursendungen. Scheller wolle versuchen, sagte er, seinem ehemaligen Kollegen nicht nur mit «diskursiven Langstreckenwaffen» zu begegnen, sondern eine Diskussion auf Augenhöhe zu führen – den Konservativen mit liberalen Argumenten aus der Reserve locken. Diese Idee fand ich nicht nur anregend, ich hielt Scheller auch an, einen intellektuellen Austausch zu führen, der sich über mehrere Wochen erstrecken sollte – und so ganz bewusst Raum gebe für eine Debatte jenseits populistischen Politgeplänkels.

Um es vorwegzunehmen: Der erwartete Clash zwischen dem Konservativen und dem Liberalen blieb aus, ebenso die erwartete Schärfung der Begriffe. Stattdessen zeigt der Dialog, dass die Kategorien unbestimmter und umstrittener sind denn je – beide Diskussionspartner nehmen für sich in Anspruch, die eigentlichen Liberalen zu sein. Scheller bezieht Position für das Lager der «Globalisierungsagenten», wie Jongen das nennt. Und Jongen, so beginnt Schellers Briefwechsel bereits, erscheint als Vertreter des aufsteigenden «Nationalkonservatismus» in einem Atemzug mit Marine Le Pen, sieht sich selbst jedoch als Hüter (national)liberaler Werte. Aus dieser Konstellation heraus entwickelte sich zwar ein anregender und sehr anschaulicher Disput, er bleibt aber schlussendlich einem Lagerdenken verhaftet, ohne dass die Lager noch klar umrissen werden können.

Das hier publizierte Dokument ist Ausdruck eines Phänomens, das gegenwärtig die politische Landkarte Europas spaltet. Es geht nicht mehr nur um liberal und konservativ, links und rechts. Es geht darum, sich darüber zu verständigen, was darunter überhaupt zu verstehen ist. Solange dies nicht ausgemacht ist, kreisen die Debatten früher oder später auf zunehmend aggressive, destruktive Weise um das diffuse Begriffspaar «die» und «uns». Unter dieser bewussten oder unbewussten – sicherlich aber fahrlässigen – Diskursverknappung leiden nicht nur politische Debatten in den Parlamenten, sondern auch die öffentlichen Diskussionen – gedruckt oder am Gartenhag. Der vorliegende Dialog zeigt somit zuvorderst, wie schwer die Bemühungen um Verständigung sind. Und wie dringlich es ist, dass sie fortgesetzt werden.

Michael Wiederstein

 

Zürich, 2. April 2016

Jörg Scheller: In vielen Ländern Europas sind derzeit nationalkonservative Parteien im Aufwind. Als Reaktion auf Globalisierungsfolklore und Political Correctness kann man sich das bis zu einem gewissen Grad erklären. Mir scheint jedoch, dass die meisten dieser Bewegungen in Wahrheit nicht konservativ, sondern regressiv sind. Schrille und martialische Töne dominieren, man wühlt in der Mottenkiste des Völkischen, man lanciert dieselben kruden Vereinfachungen und Unredlichkeiten, die man dem Gegner vorwirft. Steckt hinter dem viel beschworenen «Rechtsruck» tatsächlich Konservatismus, in dessen Resonanzraum doch eher das Bedächtige und Bewahrende schwingt? Knüpfen Front National in Frankreich, PiS in Polen, die SVP in der Schweiz und die AfD in Deutschland nicht vielmehr an jene reaktionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts an, die gerade nicht konservativ und dezidiert antiliberal waren?

 

Karlsruhe, 7. April 

Marc Jongen: Zunächst würde ich bestreiten, dass es sich bei den von dir genannten Parteien um einen einheitlichen Block handelt. Aus weitem Abstand betrachtet mag eine gemeinsame Stossrichtung festzustellen sein, doch näher herangezoomt zeigen sich beträchtliche nationale Unterschiede. Die entscheidende Frage aber, die du aufwirfst, ist die nach den Möglichkeiten eines politischen Konservativismus in Zeiten des Niedergangs der Demokratie und der Krise des Rechtsstaats, auch des Nationalstaats. Könnte es nicht sein, dass ab einem bestimmten Verfallsgrad der politischen Sitten und der Institutionen der Konservative schrill, ja revolutionär werden muss, um die Zustände wieder herzustellen, die ihm die geordneten und bewahrenswerten erscheinen? Dazu zählen übrigens auch elementare Standards des Liberalismus, die heute massiv bedroht sind. Wenn sie zu verteidigen «reaktionär» ist, dann würde ich mir dieses Etikett fast schon als Orden anheften. Ich meine aber, wir sollten ein Wort über den Glauben an den «Fortschritt» verlieren, den ich aus deinem Abscheu vor dem «Regressiven» und aus Begriffen wie «Mottenkiste» heraushöre. Ist das Neuere allemal das Bessere? Kann es nicht auch im makrohistorischen Massstab Fehlentwicklungen und Sackgassen geben? Und wie wäre ihnen zu begegnen?

 

Bern, 1. Mai 

Jörg Scheller: Ich glaube, «Zustände wiederherstellen» zu wollen, die unter ganz anderen Bedingungen als den heutigen herrschten, verführt zu einer Politik mit der ideologischen Brechstange. Man kann nicht die Ära des Nationalstaats beschwören, wenn Technologien, Medien und Kulturtechniken diese längst überschritten haben. Der Konservatismus suggeriert, es gäbe eine gute, alte Zeit. Dabei war diese Zeit ihrerseits hybride, konfus, kontingent, keinesfalls so «geordnet» und «sittsam», wie du meinst. Wie der Nationalstaat erst durch den Buchdruck möglich wurde, bedingen die neuen Technologien, vor allem das Internet, neue Formen der Politik. Zudem ist der kapitalistischen Marktwirtschaft, auf die sich Nationalkonservative ja gerne berufen, die Überschreitung nationaler Grenzen eingepreist. Dass Kapital und Wohlstand beständig vermehrt werden sollen, führt zwangsläufig zur Globalisierung. Aus deren Kuchen kann man sich nicht einfach die Rosinen herauspicken, frei nach dem Motto: Wirtschaftsprofite, gerne – Migranten, nein, danke! Wer etwa mit China Handel treibt, handelt sich politische Nebenwirkungen ein. Also, nicht «wiederherstellen» ist die Aufgabe, sondern «herstellen»! Dass man dabei auf Bewährtes zurückgreifen wird, ist eine Binse. Um Leszek Kolakowski zu zitieren: «Im Punkte der Explosion, die das Erbe zu sprengen scheint, stammt der Sprengstoff immer schon aus ererbten Beständen.» 

 

Karlsruhe, 17. Mai 

Marc Jongen: Wenn man dir zuhört, dann versteht man besser, wieso sich unter Intellektuellen die ganzen Jahre über so wenig Widerstand gegen Angela Merkels Kurs der «Alternativlosigkeit» geregt hat und wieso man selbst jetzt noch, im Angesicht des drohenden Desasters, sich lieber an den Gespenstern der Vergangenheit abarbeitet, die man auf ihre Kritiker projiziert, als die realen Gefahren der Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen. Die «Zwangsläufigkeit» der Globalisierung – und in deren Schlepptau auch des Niedergangs des Nationalstaats, der Massenmigration usw. –, von der du sprichst, ist ein suggestives, weil in sich stimmiges Konzept. Anders als du vermutest, bin ich auch weit davon entfernt, es für gänzlich verfehlt zu halten. Ich wende mich nur gegen die fatale – und wie ich nun meine: zutiefst ideologische – Tendenz, unter dem Bann dieses Bildes jeden Irrsinn zu akzeptieren und sogar noch intellektuell zu legitimieren, der auf dem Weg in die «güldene» Zukunft von den politischen Globalisierungsagenten begangen wird. Um dein Beispiel aufzugreifen: Natürlich kann es Handel ohne Massenmigration geben, ja die Kontrolle über die eigenen Grenzen ist sogar die Voraussetzung für eine florierende Wirtschaft – wie à la longue auch für den Sozialstaat! Dies einzusehen und einzufordern hat nichts mit politischer Nostalgie zu tun, sondern ist schlicht ein Gebot staatspolitischer Vernunft. Die «Kulturtechnik», die den Nationalstaat zurzeit am effizientesten überschreitet, ist eine Form von postdemokratischer Governance, vulgo Korruption. Das kann doch auch nicht in deinem Sinne sein.

 

Bern, 12. Juni 

Jörg Scheller: Die Kritik am Merkel’schen Geschlingere, das Vertrauen, Verbindlichkeit, Verlässlichkeit torpediert, teile ich. Gerade die Merkel’sche Alternanz-Politik zeigt, dass «Alternativlosigkeit» ein Phantasma ist. Doch die Verbindung von Demokratie und Nationalstaat ist keine natürliche! Aus historischer Sicht entstand Demokratie in den überschaubaren attischen Stadtstaaten, wo ein Grossteil der Bevölkerung, etwa Frauen und Sklaven, von ihr ausgeschlossen war. Nationen sind heute wie der Kapitalismus und wie Frau Merkel: kombinierbar mit allen möglichen Ideologien und Inhalten. Massenmigration wiederum ist kein Zeichen des Niedergangs des Nationalstaats, man denke bloss an die Völkerwanderung. Und Korruption ereignet sich in Nationalstaaten genauso wie in supranationalen Systemen. Wie Kamel Daoud einmal richtig sagte, reichen «nationale Visionen» heute nicht zuletzt angesichts des globalen Terrors nicht aus: «Der Terrorismus hat eine Ideologie, die keine Grenzen kennt.» Ich rede also nicht der «Zwangsläufigkeit der Globalisierung» das Wort, sondern verachte die Scheinheiligkeit derer, die gerne von ihr profitieren, aber hinter den heimeligen Kachelofen flüchten, sobald sie in anderer Form als Indexfonds und erweiterten Speisekarten vor der Tür steht. Aber lass uns einmal die Gretchenfrage stellen: Wie halten es die neuen National- und Rechtskonservativen denn mit dem Liberalen? Ist ihnen das Liberale nicht das, was dem Wolf die Kreide ist?

 

Karlsruhe, 26. Juni 

Marc Jongen: Ich glaube, es wäre viel gewonnen, wenn wir von dem Schwarz-Weiss-Denken wegkämen, als gäbe es nur die Entscheidung zwischen einem Einbunkern im Nationalstaat und der totalen Schleifung des letzteren. Dass das Prinzip «Demokratie» auf supranationale Gebilde prinzipiell übertragbar ist, halte ich durchaus nicht für ausgeschlossen. Das Gelingen einer solchen «translatio democratiae» ist aber an strenge Voraussetzungen gebunden, psychosozialer wie auch institutioneller Natur. Wenn die «Vereinigten Staaten von Europa» ein demokratischer Staat sein sollen, dann müsste die europäische Identität ihrer Bürger stärker ausgeprägt sein als die jeweils nationale, so dass man etwa auch bereit wäre, Renten- und Sozialversicherungssysteme zu vergemeinschaften, einschliesslich der damit verbundenen dauerhaften Transferleistungen von den reicheren zu den ärmeren Ländern. Um das ohne schlimmste Klimavergiftungen zwischen den Völkern hinzubekommen, müssten so viele Eigenheiten der Länder – bis hin womöglich zu den Nationalsprachen – geschleift werden, dass man sich fragen muss, ob dieser Preis nicht zu hoch wäre.

Die Briten haben ja vor kurzem eindrucksvoll klargemacht, dass sie diesen Weg ablehnen. Hat Grossbritannien, um zu deiner Gretchenfrage zu kommen, darum nun dem Liberalismus abgeschworen? Dem Mutterland des Liberalismus gerade von deutscher Seite diesen Vorwurf zu machen, wäre doch ein wenig vermessen. Im Gegenteil sehe ich hinter dem britischen Nein zur EU die alte englische Freiheitsliebe am Werk, die allergisch ist gegen Regulierung und Bevormundung. Vielen der sogenannten linksliberalen Positionen, die seitens der EU mit brachialer Regulierungswut durchgedrückt werden – ich nenne nur das Gender Mainstreaming –, ist das Prädikat der Liberalität schlichtweg abzusprechen. Sie sorgen für ein Klima der repressiven Toleranz und sind auch nicht im Ansatz demokratisch legitimiert. Es mag im rechtskonservativen Lager Tendenzen geben, im Kampf gegen diese Dinge das Kind mit dem Bade auszuschütten, trotzdem möchte ich die Beweislast umkehren und dich fragen, für wie liberal du die angedeuteten Entwicklungen hältst. Ist es ein liberales Klima, wenn aus staatlichen Kampf-gegen-rechts-Programmen alimentierte Linksfaschisten Namenslisten von AfD-Mitgliedern hacken und ins Internet stellen, worauf manche der Betroffenen ihren Beruf nicht mehr ausüben können, weil der Druck auf sie zu gross wird?

 

London, 6. Juli 

Jörg Scheller: Gerade die EU hat doch die lokalen, regionalen, nationalen Eigenheiten wieder aufs Tapet gebracht! Die Nationalkonservativen sollten ihr dankbar sein, denn ohne EU-Integration hätte es wohl keine Renaissance des Partikularismus gegeben. Aber natürlich ist man zu schnell, zu technokratisch und ökonomistisch vorgegangen. Durch die Römischen und Maastrichter Verträge wurde die Gemeinschaft mit wenig ökonomischem Sachverstand primär ökonomisch grundiert. Kurioserweise wirft man der EU aber auch vor, Werte zu oktroyieren, etwa mit Blick auf Gender- und Umweltpolitik. Wenn man Brüssel also nicht als Technokratie- und Bürokratiemonster geisselt, dann eben als Ideologiemonster. England hingegen lobst du als Hort des Liberalismus. Aber: steht letzterem dort nicht ein recht robustes Klassensystem gegenüber? Doch, doch. Zudem hat ein eher illiberaler Reflex, nämlich die Furcht vor dem Wettbewerb mit ausländischen Arbeitskräften, den Brexit begünstigt. Aus nationaler Sicht mag diese Furcht angebracht sein, doch für die EU hat dieser Wettbewerb gesamthaft positive Konsequenzen: Die krassen, noch aus der Zeit des Kalten Krieges stammenden Lohn- und Vermögensgefälle nehmen ab. Im einen Land stagnieren oder sinken Löhne und Vermögen, in anderen aber steigen sie. Salopp gesagt: Man trifft sich langfristig in der Mitte. Dort, wo die Unterschiede nicht so gross sind, dass sie zu Resignation, Spaltung und Verkrustung führen, gedeiht Liberalismus am besten.

Wenn es um genuin liberale Forderungen wie «Ehe für alle» geht, zeigt sich schnell, wie liberal Rechtskonservative wirklich sind – höchstens im Wirtschaftspolitischen, nicht im Gesellschaftspolitischen. Deshalb: etwas mehr Kalifornien, bitte! Gegen vulgäres, auf Parolen beschränktes AfD-Bashing oder gewaltsame Aktionen habe ich mich übrigens mannigfach ausgesprochen. Und deiner Kritik an repressiver Toleranz und übertriebener Political Correctness würde ich mich eigentlich gerne anschliessen – schade nur, dass derzeit jedes noch so krude reaktionäre Ressentiment zu einer solchen Kritik verbrämt wird und auch ein Brandstifter wie Donald Trump vom Gütesiegel «politisch inkorrekt» profitiert. Ich würde sagen: Dass Blödsinn politisch inkorrekt ist, macht ihn nicht weniger blödsinnig. Was mich aber noch mehr befremdet, ist die Doppelzüngigkeit der Rechtskonservativen: Wenn ein AfD-Plakatierer attackiert oder Mitgliederlisten gehackt werden, bricht Wehklagen aus und man stilisiert sich zum «Opfer des Linksfaschismus». Wenn aber Flüchtlingsheime brennen, der rechte Mob marschiert oder Putin sich die Krim einverleibt – Schweigen. Oder eher stillschweigende Billigung? Ein Kennzeichen echten Liberalismus sind doch Rechtssicherheit und gleiche Massstäbe für alle!

 

Karlsruhe, 26. Juli 

Marc Jongen: Die EU als Retterin des Regionalen und Nationalen – da muss ich jetzt mal tief durchatmen. Und solange unsere Kampf-gegen-Recht-Regierung und die staatstreuen Medien den «gleichen Massstäben für alle» tagtäglich Hohn sprechen, werde ich mich für ohnmächtige Verbalgesten der Opposition nicht rechtfertigen. Wie mich überhaupt stört, für alles pauschal in Haftung genommen zu werden, was von Kaczynski bis Trump unter dem arg strapazierten Label «rechtskonservativ» firmiert. Ich habe mich nicht in der AfD engagiert, weil mich diese Herren so begeistert hätten, sondern weil ich die hegemoniale Mainstream-Politik so desaströs finde.

Innerhalb politischer Lager kommt es natürlich immer zu gewissen Solidarisierungseffekten, aber gerade wir als intellektuelle Beobachter der Szene – diesen Status nehme ich für mich trotz allem noch in Anspruch – sollten doch darauf achten, solchen Reflexen nicht zu sehr zu erliegen. Ich möchte daher dein zustimmendes Wort zu repressiver Toleranz und Political Correctness aufgreifen und die Vermutung äussern, dass wir bei näherer Betrachtung vielleicht in mehr Punkten übereinstimmen, als der von Lagerdenken und Projektionen dominierte Gesprächsverlauf bisher vermuten lässt. Um das herauszufinden, wäre eine Verständigung über den Liberalismus in der Tat der geeignete Weg. Wir würden uns wohl rasch darauf einigen, dass man eine bestimmte, sehr grundlegende Form des Liberalismus gar nicht ablehnen kann, wenn man nicht die säkulare Moderne im Ganzen ablehnen will. Dann hätten wir uns aber zu fragen, ob der Liberalismus seit dem 18. Jahrhundert nicht durch verschiedene Wandlungsphasen hindurchgegangen ist und sich heute womöglich in einem Stadium befindet, wo er kaum noch mehr als eine leere Hülse ist. Gemäss Oswald Spenglers Theorie der Pseudomorphose scheint er mir von Kräften besetzt, die sich seiner zu höchst illiberalen Zwecken bedienen, die Freiheit in Zwang, Toleranz in Intoleranz und das liberale Utopia in ein zunehmend Orwell’sches Regime konvertieren, das uns beiden zuwider ist.

 

Genf, 27. Juli 

Jörg Scheller: In der Diagnose mögen Gemeinsamkeiten bestehen, nicht aber im Therapiekonzept. Mein frommer Wunsch wäre eine Politik, die von Sachlichkeit, Nüchternheit und nichtklientelistischer Kritik geprägt ist – und tatsächlich an die Potentiale der säkularen Aufklärung anknüpft, ohne deren blinde Flecke und Verfehlungen auszuklammern. Dass nun aber gerade die Rechte als liberale Aufklärerin ein «Orwell’sches Regime» bekämpft, kann ich weder am Neckar noch am Bosporus noch an der Weichsel erkennen. Es brechen eher Zeiten an, in denen die liberalen Zwischentöne einen noch schwereren Stand als üblich haben werden: viele Bürger suchen wieder nach Stärke, Klarheit und Eindeutigkeit, schaffen gezielte (Ausnahme-)Zustände, die harte, finale Verdikte zu erfordern scheinen. Und auch der begrenzte Seitenumfang des «Schweizer Monats» erfordert eine solche Finalität. Wir werden aber einen weiteren Raum finden, um unsere Erörterungen über repressive Toleranz und das liberale Utopia fortzusetzen?

 

Karlsruhe, 27. Juli 

Marc Jongen: Ist ja nett, dass du schon alle meine Therapievorschläge zu kennen scheinst. Dass ich jetzt auch für Erdogans diktatorischen Islamismus mitverantwortlich bin, wird unseren weiteren Austausch ebenfalls nicht erleichtern. Diese Zuschreibung entspricht im übrigen der – Verzeihung – «linksliberalen» Gleichsetzung von islamistischem Terror hier und dem als «rechts» gebrandmarkten Protest dagegen dort, die an Perfidie kaum zu übertreffen ist. Dennoch möchte ich den Kampf um die Zwischentöne – auch mit dir – unbedingt weiterführen, denn auf den «Abbruch der Verhandlungen» folgt erfahrungsgemäss nichts Gutes.


Jörg Scheller
ist Kunstwissenschafter und lehrt an der Zürcher Hochschule der Künste.


Marc Jongen
ist Philosophiedozent an der HfG Karlsruhe und stellvertretender Landesvorsitzender der AfD in Baden-Württemberg. Derzeit arbeitet er an einer philosophischen Grundlegung seiner Partei.

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