Online-Spezial: Donnergrollen am Feierabend – Deutschschweizer Literatur und der Zweite Weltkrieg
Niklaus Meienberg, Charles Lewinsky, Otto F. Walter, Urs Faes, Thomas Hürlimann… zahlreich sind die Autoren, die die Erinnerungskultur der Schweiz früh schon hinterfragten: Seit den 1960er Jahren lancierten sie ein Thema, das die Geschichtswissenschaft erst in den 1990ern entdeckte.
Seit 1996 hat die Fachliteratur zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg stetig zugenommen. Dabei wird leicht übersehen, dass in der zeitgenössischen Literatur kritische Auseinandersetzungen mit der jüngeren Schweizer Vergangenheit bereits in den sechziger Jahren stattfanden. So waren es nebst politischen Journalisten mehrheitlich Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die gegen ein beschönigendes Geschichtsbild anschrieben und den Mut aufbrachten, die problematische Schweizer Weltkriegsvergangenheit beim Namen zu nennen. Obwohl Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch in ihren Bühnenstücken und Hörspielen die Schweiz nicht explizit zur Sprache brachten, äusserten auch sie sich in der Presse kritisch zur mythenreichen Nationalgeschichte und zur offiziellen Gedächtnispolitik der Schweiz. Ein Beispiel dafür ist Dürrenmatts Gespräch mit Alfred A. Häsler, das anlässlich der 1.-August-Feier 1966 geführt wurde: «Wer ein schlechtes Gewissen hat, wird leicht doktrinär. Die Schweiz war ja im Kriege nicht nur antinationalsozialistisch, als bürgerliche Ideologie fand der Nazismus bei uns weit mehr Anhänger als jetzt der Kommunismus, eine Tatsache, die wir allzu leicht verdrängen.»
Zum eigentlichen Wegbereiter für eine Reihe von literarischen Werken, welche versuchten, die kollektive Erinnerungsarbeit in der Schweiz voranzutreiben, wurde jedoch Walter Matthias Diggelmanns Veröffentlichung «Die Hinterlassenschaft» (1965). Gleichzeitig war es der erste Roman in der Nachkriegszeit, der die Übel der Gegenwart in direkten Bezug zu einer verfehlten Schweizer Erinnerungspolitik setzte. Dass sich Diggelmanns vergangenheitskritische Fragen von der Gegenwartspolitik auf die Haltung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg verschoben, geschah keinesfalls zufällig. In Frankfurt fanden zwischen 1963 und 1965 die Auschwitz-Prozesse statt, und zum ersten Mal seit Weltkriegsende gedachte man in zwei Ausstellungen in der Frankfurter Paulskirche der Judenvernichtung. Insbesondere die Politisierung des deutschen Theaters (Peter Weiss’ «Ermittlung» und «Der Stellvertreter» von Rolf Hochhuth) wie auch die Verjährungsdebatten im Hinblick auf die nationalsozialistischen Verbrechen wurden für Walter Matthias Diggelmann zu entscheidenden Auslösern, in der Schweiz eine kritische Rückschau zu halten. Sein Roman «Die Hinterlassenschaft» ist heute noch vor allem dafür bekannt, dass er einst heftige öffentliche Kontroversen verursacht hat. Erstmalig in der Nachkriegsliteratur der Schweiz geht es darin um jüdische Schicksale von Menschen, die im Zweiten Weltkrieg an der Grenze zurückgewiesen wurden. Doch hätte «Die Hinterlassenschaft» kaum zu solch einem Stein des Anstosses werden können, wenn es ausschliesslich ein Text über die Flüchtlingspolitik gewesen wäre. Obwohl der Titel eine Erbschaft anklingen lässt, basiert die Romanhandlung auf einem Gegenwartsereignis: den antikommunistischen Ausschreitungen im November 1956 gegen Konrad Farner, welche Diggelmann in seinem Roman als «Pogrom von T» bezeichnete. Die umstrittene Wendung «Thalwiler Pogrom» hatte sich im damaligen Sprachgebrauch (insbesondere der Schweizer Linken) eingebürgert, wenn man auf die Ausschreitungen gegenüber der Familie Farner zu sprechen kam. Als Mitglied der Partei der Arbeit (PdA) symbolisierte der Kunsthistoriker und Theologe Konrad Farner (1903–1974) für viele den marxistischen Chefideologen und gemeingefährlichen Intellektuellen, der zu Ostdeutschland Kontakt pflegte. Was «Die Hinterlassenschaft» in den sechziger Jahren umso brisanter machte, war eine Serie von Thesen und das Aufzeigen von historischen Parallelen, welche unliebsame Kontinuitäten hervorstrichen. Diggelmann verglich die antikommunistischen Ausschreitungen in Thalwil von 1956 mit der «Kristallnacht» von 1938 und liess keinen Zweifel daran, dass einflussreiche Schweizer Antikommunisten einst mit Nazideutschland sympathisiert hatten. Die zentrale These des Buches wurde zum eigentlichen Konfliktherd: «Die antikommunistischen Brandstifter von heute sind weitgehend die faschistischen Brandstifter des Antisemitismus der dreissiger Jahre und die so genannten ‚Vaterländischen’ (lies Anpasser) der vierziger Jahre.» Dass sich Diggelmann erlaubte, zwischen den Faschisten der Kriegsjahre und den Antikommunisten und Rechtsextremisten der Nachkriegsjahre direkte Verbindungslinien zu ziehen und damit verhängnisvolle Kontinuitäten aufzuzeigen, wurde damals sehr kontrovers aufgenommen.
Ende der sechziger Jahre und in den frühen siebziger Jahren kam die Geschichtsschreibung in der engagierten Schweizer Literatur erneut unter Beschuss. Angriffspunkt war dieses Mal die Armee, die in der offiziellen Geschichtsauslegung als der bedeutendste Garant für die Unversehrtheit der Schweiz im Zweiten Weltkrieg galt. Unter dem provozierenden Titel «Der Anschluss fand statt» verfasste der Schriftsteller Christoph Geiser 1970 einen Artikel, in dem er festhielt, dass die Schweizer Armee zur Kriegsverschonung wenig beigetragen habe. Die Schweiz sei als Rüstungslieferant dem «Dritten Reich» wirtschaftlich bereits eingegliedert gewesen: «Hitler musste die Schweiz gar nicht besetzen – die Schweizer Industrie arbeitete auch so für ihn.» Geisers Beitrag zu einem neuen Geschichtsbewusstsein war umso aufsehenerregender, als sein Grossvater Hans Frölicher (der ehemalige Schweizer Botschafter in Berlin) von der offiziellen Geschichtsschreibung des Anpassertums beschuldigt wurde (Max Frisch nannte ihn im «Dienstbüchlein» «Hitler-Fan»). Ebenfalls 1970 vertrat Paul Nizon die nahezu gleiche These wie Geiser in seinem Essayband «Diskurs in der Enge. Aufsätze zur Schweizer Kunst»: «Natürlich kommt in unserer bewaffneten Neutralität auch heute noch die traditionelle Abwehrbereitschaft zum Ausdruck, jedoch dürfte für unser Verschontwerden ebenso stark die ‚geschäftliche Drehscheibe Schweiz’ (der eidgenössische Geschäftsknotenpunkt) von Ausschlag gewesen sein, mit anderen Worten: die allseitig Geschäfte erlaubende Neutralität.»
In Widerstreit mit der Konsensgeschichte und ihren Vertretern geriet auch der Journalist und Schriftsteller Niklaus Meienberg. Er hätte sich für sein Schreibprojekt keinen heikleren historischen Gegenstand auswählen können als die Erschiessung der siebzehn Landesverräter innerhalb der Schweizer Armee in den Jahren 1942–1944 (der letzte als Landesverräter angeklagte Schweizer wurde ein halbes Jahr vor Kriegsende hingerichtet). Meienbergs literarisch-dokumentarischer Montagetext «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» (1974) zeichnete nach, wie Ernst S.’ Verurteilung basierend auf einem gut eingespielten Netz von Machtbeziehungen erfolgte. Diese Macht war zwar personell verankert, doch wurde sie erst durch das Zusammenspiel verschiedenster Machtbefugter innerhalb des Militärs, der Strafjustiz und der Psychiatrie ausgeübt. Meienbergs These war bewusst kontrovers: Während sich wirtschaftliche Profiteure und Vertreter der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Elite an Nazideutschland bereicherten und von der Regierung gedeckt wurden, hat man die Unterschicht selbst beim leisesten Verdacht auf Kollaboration zur Rechenschaft gezogen. Laut Meienberg musste Ernst S. sterben, während einflussreiche Schweizer Unternehmer und ranghohe Offiziere einen viel schwerwiegenderen Landesverrat begingen, jedoch durch das Machtsystem geschützt wurden. Ähnlich wie bereits Diggelmann suggerierte Meienberg eine historische Kontinuität: die Machtstrukturen der Kriegsjahre blieben auch nach 1945 institutionell in der Schweizer Gesellschaft verankert.
Für Meienberg war die Geschichtsschreibung ein Amalgam aus mündlich erfragter Geschichte, journalistischer Reportage, Belletristik, Autobiographie, Glosse und politischer Streitschrift. Auffallend ist auch seine Quellenvielfalt: Gespräche mit Beteiligten, Familienangehörigen, psychiatrische Gutachten, Briefe, Exekutionsakten, pathologische Diagnosen usw. So verwendete er als einer der ersten in der Schweiz die Methode der mündlich erfragten Geschichte (Oral History) und stellte sie der traditionellen historischen Metaerzählung gegenüber, die für ihn ihre Glaubwürdigkeit verloren hatte: «Das ist der Mythos des objektiven Historikers, der sich selbst über den Ereignissen schweben sieht, ohne Zorn und Eifer, unabhängig von seiner Klasse, unbefangen in Vorurteilen.»
Obwohl Niklaus Meienberg Anstösse zu einer differenzierteren Geschichtsschreibung gab, taten sich die offizielle und die akademische Historiographie noch schwer damit, die überlieferten, beschönigenden Geschichtsbilder zu revidieren. «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» war, insbesondere nach ihrer Verfilmung durch Richard Dindo (1976), vielen Schulhistorikern ein Dorn im Auge. In einem Protestbrief sprachen sich achtzehn Schweizer Professoren gegen die Verleihung eines deutschen Filmpreises aus. Nachdem der Historiker Georg Kreis sich anfänglich kritisch zur Ernst-S.-Thematik geäussert hatte, revidierte er seine Meinung 25 Jahre später und stellte 2001 anerkennend fest, dass durch Meienbergs Text «eine wichtige Bresche in das vermauerte und wenig selbstkritische Selbstverständnis der sogenannten Aktivdienstgeneration und – mehr noch – der Nachkriegsgeneration geschlagen wurde.»
In den achtziger Jahren erschien eine Reihe vergangenheitskritischer Texte, die auf ein breites Spektrum von literarisch-historiographischen Verfahren und Gestaltungsformen zurückgriffen. Ein gemeinsamer Nenner ist die Verwendung der Oral-History-Methode, die Fiktionalisierung von lebenden Protagonisten und der Einbezug der Montagetechnik. Thomas Hürlimanns Erstlingsstück «Grossvater und Halbbruder» wurde am 15. Oktober 1981 im Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt. Der Zeitpunkt ist insofern von Bedeutung, als das Theaterstück das erste in der Schweiz war, das die Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg und den in der damaligen Schweizer Gesellschaft latent vorhandenen Antisemitismus behandelte. Das Stück machte deutlich, dass die Schweiz für ihre vermeintliche Neutralität einen hohen Preis bezahlte. Die Schweizer Protagonisten stehen bei Hürlimann auf Beobachterposten mit klarsten Sichtverhältnissen. Sie schauen zu, warten ab und handeln doch nicht. Sie dispensieren sich somit im Namen der Neutralität von der Geschichte. Am Schluss des Stücks bleibt in «Grossvater und Halbbruder» die unerbittliche Frage, die erst fünfzehn Jahre später in der Schweizer Öffentlichkeit und Presse tiefgreifender und konfrontativer diskutiert wird: War das Abseitsstehen ein anderes Wort für unterlassene Hilfeleistung, Beihilfe oder gar Mord? Skandalös für das Publikum war nicht nur, dass Hürlimann die Problematik der unterlassenen Hilfsbereitschaft als Groteske darstellte, sondern dass er seinen Vater – den damals amtierenden Bundesrat und Vorsteher des Departements des Innern – in der Figur MEIN VATER HANS HÜRLIMANN auf die Bühne stellte. «Grossvater und Halbbruder» steht deshalb auch für die Rebellion der Nachkriegsgeborenen gegen die Vätergeneration und für den Versuch einer Aufarbeitung der transgenerationell weitergegebenen Schuld.
Charles Lewinsky und Doris Morf schreiben in «Hitler auf dem Rütli. Protokolle einer verdrängten Zeit» aus dem Jahre 1984 eine kontrafaktische Oral History, die von der Voraussetzung ausgeht, dass Hitler am 10. Mai 1940 in die Schweiz einmarschiert sei. In 48 fiktiven «Zeitzeugenberichten» geben Schweizer Bürgerinnen und Bürger zwanzig Jahre nach Kriegsende Auskunft darüber, wie sie die Zeit kurz vor und während der nationalsozialistischen Herrschaft im «Reichsgau Schweiz» bis zur Befreiung «durch die amerikanischen Streitkräfte und die schweizerischen Verbände unter General Guisan» am 27. April 1945 erlebt haben. Das Buch ist als Geschichtsbuch konzipiert, inklusive Zeittafeln, historischem Hintergrundmaterial und einem Nachwort, welches die historiographische Aufarbeitung in der Nachkriegszeit zusammenfasst. Der Symbolwert des Rütli ist dabei kaum zu überbieten – insbesondere für die Schweizer Armee. Am 21. Juli 1940 trug General Guisan seinen berühmten Rütli-Rapport vor, in dem er seine Soldaten zum Rückzug ins Alpen-Reduit aufrief. Die «Tatsache», dass der Führer auf dem Rütli, dem Geburtsort und symbolischen Zentrum der alten Eidgenossenschaft, aufmarschiert, ist nicht nur gleichbedeutend mit dem Ende der politisch unabhängigen Schweizer Nation, sondern versinnbildlicht auch die Zerstörung des Mythos «Eidgenossenschaft». Indem das Autorenteam Lewinsky und Morf die Wehrmacht auf das Rütli marschieren liess, zerstörte es das Nervenzentrum der Eidgenossenschaft, das Symbol für die schweizerische Demokratie und die Neutralität schlechthin. Dieser Umstand wurde noch dadurch verstärkt, dass im Jahr 1941 der Schweizer Nationalfeiertag mit der 650-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft zusammenfiel. Lewinsky und Morf trafen das Schweizer Selbstverständnis da, wo es am verletzlichsten ist: in den eigenen, sorgfältig konstruierten nationalen Mythen und Legenden.
In den späten achtziger Jahren erschienen im Vor- und Umfeld der sogenannten «Diamant»-Feier zum Gedenken an die Generalmobilmachung von 1939 zwei Romane, die erneut ein kritisches Licht auf die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg warfen. In Otto F. Walters «Zeit des Fasans» (1988) verfolgt ein Historiker den Aufstieg und Untergang einer Deutschschweizer Grossindustriellenfamilie innerhalb einer Zeitspanne von zwanzig Jahren. Der dichte Roman gibt Einblicke, wie Geschichtsschreibung konkret entsteht und wie sie sich nicht von den eigenen, subjektiv gefärbten Erinnerungen loslösen kann. Nebst dem erfahrungsgeschichtlichen Zugang berührt der Text auch die schweizerischen Wirtschaftsbeziehungen mit dem «Dritten Reich» und die Appeasement-Politik des Schweizer Generals Henri Guisan gegenüber Hitler. Während Walter Matthias Diggelmann spielerisch und oftmals leichtfertig Fakt und Fiktion mischte und Niklaus Meienberg die Meinung vertrat, dass Aussagen für sich selber sprechen, problematisierte Otto F. Walter die Erinnerung als vermittelndes Medium. Immer wieder versucht der Erzähler in «Zeit des Fasans», den Vorgang der Erinnerung und der Vergangenheitsrekonstruktion in einer schrittweisen Annäherung sprachlich zu umschreiben. Dabei geht es ihm weniger darum herauszufinden, was passiert ist oder hätte sein können. Vielmehr widmet er sich den Prozessen und Einflüssen, die eine Rolle spielen, wenn die Erinnerungen neu artikuliert werden. Stets von neuem wirft der Erzähler die Frage auf, wie das Gedächtnis funktioniert, wo es im Körper beheimatet ist und wie es aktiviert wird: «In welchen Zonen des Körpers, des menschlichen Gehirns ist das Vergangene gespeichert? Das Vergangene oder welche wie ausgewählten Stücke davon? Welche Reflexe, oft genug durch winzige Anlässe in Gang gesetzt, spielen da so zusammen, dass ein Mensch . . . sich auf einmal wiedererlebt in Szenen seiner Kindheit, die zu vergessen er sich doch Jahre lang bemüht hatte?»
In «Sommerwende» (1989) von Urs Faes führt die Erforschung der eigenen Familiengeschichte den Erzähler zu einer historischen Aufarbeitung der Schweizerischen Antisemitismusströmung in den Kriegsjahren. Es wird angedeutet, dass zwischen Nazideutschland und der Schweiz der dreissiger Jahre ideologisch lediglich ein gradueller Unterschied bestanden habe. Gleichzeitig weist der Text darauf hin, dass die virulente Überfremdungsrhetorik der achtziger Jahre eine Fortsetzung der restriktiven Flüchtlings- und Asylpolitik der Weltkriegszeit gewesen sei. Wie die anderen in diesem Artikel erwähnten Autoren bediente sich Urs Faes dokumentarischer Verfahrensweisen. Die Konfrontation mit der jüngsten Geschichte des Zweiten Weltkrieges findet in «Sommerwende» auf zwei Ebenen statt. Zusätzlich zu jener Ebene, die sich mit der Rekonstruktion von Faktenmaterial beschäftigt, thematisiert der Roman den eigentlichen Umgang mit der Geschichte – und zwar individuell wie auch kollektiv. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, wie die Geschichte des Zweiten Weltkrieges im kollektiven Gedächtnis der Schweiz gespeichert und tradiert wird. Was bleibt in der Erinnerung erhalten, was wird ausgeblendet? Nicht unbedeutend ist zudem der Tatbestand, dass Urs Faes wie bereits Otto F. Walter die erste mündliche Geschichte schrieb, die sich mit der Situation der Frauen im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt. In aller Deutlichkeit und Dringlichkeit stehen in seinem Roman Frauenschicksale im Mittelpunkt – es sind ausnahmslos Frauen der Unterschicht. Damit erschliessen Urs Faes und Otto F. Walter eine Alltagskultur, die in der traditionellen Geschichtsschreibung bis zur Gründung von «Archimob», dem ersten Schweizer Oral-History-Projekt (1998), fast vollständig vernachlässigt wurde.
Alle die hier vorgestellten Texte, die zwischen 1965 und 1989 erschienen sind, zeigen aber auch, dass es letztlich unmöglich ist, eine Vergangenheit restlos auf- oder abzuarbeiten, und dass die Aufarbeitung einer schwierigen, weil jahrzehntelang unterschlagenen Vergangenheit nicht abgeschlossen werden kann. «Aufarbeitung ist ein anhaltender Prozess, dem nicht wirklich ein Ende beschieden ist», betonte Theodor W. Adorno 1959 in seinem berühmten Vortrag «Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?» Denn «aufgearbeitet», so erklärte Adorno, «wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären.» Daher müssen wir uns stets wieder von neuem zu ihr stellen, denn die Vergangenheit ändert sich in dem Masse, in dem sich unsere Erinnerung an sie und unsere Wertschätzung für sie ändert. Diese Erkenntnis wird vom Schweizer Historiker Jean-François Bergier bestätigt: «Die Geschichte ist nie zu Ende geschrieben: Neue Quellen kommen ans Licht und jede Generation stellt der Vergangenheit neue Fragen.»
Die Deutschschweizer Literatur hat diese Fragen bereits vor 1996 unermüdlich und meist angesichts heftiger Widerstände in der Gesellschaft gestellt. Autoren wie Walter Matthias Diggelmann, Niklaus Meienberg, Charles Lewinsky, Doris Morf, Otto F. Walter, Urs Faes und Thomas Hürlimann sind der Schweizer Konsensgeschichte zweifelnd und misstrauisch gegenübergestanden und haben sich beharrlich geweigert, literarische Versöhnungsangebote zu machen. Die Wirkungsmacht ihrer vergangenheitskritischen Texte lag folglich darin, dass sie immer dann als Korrektiv wirkten, wenn im Schweizer Erinnerungskollektiv Fakten übergangen, vergessen oder verleugnet wurden.