Online Spezial: Abu Musa
Kann man Erinnerungen pflegen wie ein Instrument? Kann man sie er- und verlernen? Was geschieht mit den Menschen, die man in seinem Inneren versammelt, nachdem man sie nicht mehr hat halten können? Eine melancholische Erinnerungsreise.
Zum letzten Mal sprach ich mit Abu Musa im März 2003, in der Woche, als der Irakkrieg ausbrach. Ich wartete, während der Besitzer des Ladens gegenüber von Abu Musas Wohnung – der einzige im Wohnhaus, der ein Telefon hatte – meinen ehemaligen Musiklehrer aus seiner Wohnung holte.
Vielleicht hatte ich Abu Musa aus einem Schläfchen geweckt. Auf jeden Fall liess er mich meinen Namen dreimal wiederholen.
Zuletzt ein Lachen. «Das kann nicht sein», sagte er. Seine tiefe Stimme klang vergnügt, wenn auch durchtränkt von Müdigkeit und Zigaretten. «Wo bist du?», wollte er wissen: «Bist du immer noch in Amerika?»
Als ich bejahte, spürte ich, wie er ungläubig lächelte. «Dabei könntest du in der Wohnung nebenan sein», sagte er. «Du könntest an einer Ecke meiner Strasse stehen!»
Ich hörte die Geräuschkulisse seiner Nachbarschaft: Kinder, die johlen und übers Trottoir klappern; hupende Autos und solche mit Fehlzündungen; einen Sesamverkäufer, der seine Waren singend an die Passanten bringt.
«Es tut mir leid», sagte ich. «All das, was geschieht.»
Er liess ein weiteres trockenes Lachen hören.
«Es ist nicht deine Schuld. Du bist nicht dafür verantwortlich.» Ich stellte mir vor, wie er auf der Schwelle des Ladens stand, untersetzt-muskulös in seinen Baumwollhosen mit Gummizug und seinem «Don’t-Mess-with-Texas»-T-Shirt, das ihm ein gemeinsamer Freund, der Scherzkeks, geschenkt hatte. «Uns geht es gut», sagte er. Ich hörte einen Unterton in seiner Stimme, ein Bedauern, bitter. «Alles ist noch immer genau gleich.»
Wir unterhielten uns über unsere Familien, mein Leben in Amerika, meine Erinnerungen an Damaskus. Wir verlängerten unsere Unterhaltung so lange, wie wir nur konnten. Doch der Ladenbesitzer brauchte sein Telefon, und bei mir summierten sich die transkontinentalen Gebühren. «Kommst du zurück?», wollte mein Lehrer wissen. «Besuchst du uns wieder?» Ich sagte ihm, dass ich das geplant hätte, sobald Zeit und Geld reichten.
«Warte», sagte er, bevor wir auflegten. «Übst du auch jeden Tag?»
*
Ich hatte Abu Musa zwei Jahre zuvor kennengelernt, im Januar 2001. Ich war Mitte zwanzig und unterrichtete Englisch in Damaskus, um mein Arabisch zu verbessern. Abu Musa war knapp über 50, er lebte in einem smogerstickten Viertel der Stadt, direkt gegenüber einem zerbröckelnden staatlichen Krankenhaus.
Eine amerikanische Musikwissenschafterin hatte mich ihm vorgestellt, weil ich die Oud, die arabische Laute, lernen wollte. «Er ist der beste in der Stadt», hatte sie gesagt. Abu Musa hatte am Konservatorium von Damaskus unterrichtet, bis ihn eines Tages in den späten Neunzigern ein Armeegeneral im Jeep auf dem Bürgersteig gerammt und mit schweren Verletzungen zurückgelassen hatte. Der Offizier entstammte einer mächtigen Familie. Abu Musa verlangte keine Wiedergutmachung. Später erklärte er mir, dass er an diesem Tag das Durchhaltevermögen verloren hätte, das nötig sei, um viele Stunden konzentriert zu arbeiten. In der Folge war er in Depressionen versunken und von seiner Stelle am Konservatorium zurückgetreten. Doch ein Unglück kommt selten allein: sein verwitweter Bruder Ahmad, schon immer überfordert, einen Job zu halten, zog in Abu Musas Zweizimmerwohnung, samt neuer Frau und zwölf Kindern. Abu Musa blieb nichts anderes übrig, als sie, seine eigene Frau sowie sich selbst mit Oud-Privatstunden über Wasser zu halten.
Abu Musas Wohnung lag am unteren Ende einer steilen Treppe, die von der Strasse in die Tiefe führte. Das Wohnzimmer stank nach Diesel und verstopften Abwasserkanälen, zwei Oberlichter liessen gräulich-gelbes Licht herein. Abu Musa und seine Frau strahlten an unserem ersten Tag eine scheue Wärme und Belustigung aus, sie stellten dieselben Fragen, die ich von allen anderen Syrern, die ich getroffen hatte, auch hörte: Was ich hier mache? Warum ich Amerika verlassen habe, um in Damaskus zu leben? Ich antwortete mit meinen Standards: Damaskus sei eine der sagenumwobensten Städte der Welt; mein Freund und ich hätten Jobs als Englischlehrer; wir hätten beide soeben erst unsere Arabischstudien mit dem Master abgeschlossen – und was denn der Sinn unserer ganzen Arbeit sei, wenn wir nie in einem arabischen Land gelebt hätten?
Was ich nicht sagte: als ich nach Damaskus zog, brach ich mit meinem bisherigen Leben. Ich war in einer Sackgasse, desillusioniert, was die Aussicht einer akademischen Karriere betraf, hatte keinen Schimmer, was auf mich zukommen würde. Na ja, immerhin wusste ich, dass, was auch immer ich unternähme, eng mit noch mehr Arabischlernen, mit Schreiben und Musik, mit der Gitarre, verbunden sein würde. Und dann war da dieses gewisse Etwas im Klang der Oud, zugleich so melancholisch und festlich, das mich phantasieren liess, wie es wäre, dieses Instrument zu erlernen.
Als Abu Musas Frau ihm eine Oud in die Hand drückte, schien es zunächst, als sei er verlegen. Bald aber verlor er sich in seinem Spiel. Ich erinnere mich nicht mehr an das Stück, aber daran, dass die Noten, innehaltend und schwebend zwischen den Tonlagen, nach etwas jenseits ihres Selbst Gelegenem strebten. An diesem Tag verliess ich Abu Musas Wohnung in der Gewissheit, dass es richtig war, in Damaskus zu sein.
*
Die Oud ist eine Legende, wenn es um die endlosen Geduldsproben geht, die sie ihren Spielern abverlangt. Mit ihrem kurzen Hals ohne jegliche Griffbrettmarkierungen und mit ihren fünf, manchmal sechs Saitenpaaren stellt die Oud selbst dem geübtesten Spieler mehr als eine Falle. Oud-Spieler erzählen gern, wie sie ganze Tage mit dem Stimmen der Saiten verbringen, oder von den Jahren, die es braucht, ein einziges Stück zu lernen. Streunt man auf dem Griffbrett eine Haaresbreite zu weit, verpasst man die Note, und selbst wenn man sie nicht verpasst, geht die winzige Tonvariation verloren, die dem Stück seinen Ausdruck, seine Kraft gibt. Wie sagten noch Abu Musas Freunde? Ein ernsthafter Oud-Spieler muss sich einem Leben voller Leiden hingeben. Sie sagten es nur halb im Spass.
Trotz all dieser Warnungen – oder vielleicht deswegen! – spürte ich stets eine gewisse Spannung in der Luft, wenn ich den staubigen Boulevard entlang zu Abu Musas Strasse ging. Es war eine schwer fassbare Ahnung, dass ich nahe davor stand, Wissen von der Welt ans Tageslicht zu fördern, das mir bisher verborgen war. Mein Lehrer litt an Schlaflosigkeit und döste auf der Couch. Doch kaum war ich bei ihm, setzte er sich hin und improvisierte eine Klangfolge, basierend auf einem der Maqams, den melodischen Modi (ein Überbegriff, der Tonleitern und Tonart, aber auch typische Melodien, Eröffnungen und Abschlüsse umfasst; d. Red.) der Oud, die ein ganzes Spektrum von Gefühlen ausdrücken, Furcht, Neid, Stolz, Liebe. Er schlug einige Akkorde, verstummte, schlug eine bestimmte Note immer wieder an, bis sie in neue Noten auslief, die sich soeben noch ausserhalb der Hörweite befunden haben mussten. Mir schien es, als ob die Musik die ganze Strasse erfüllte und alle Leute draussen vor der Wohnung stehen blieben und zuhörten. «Hör zu!» Er spielte eine andere Melodie und wartete, dass ich echote. Dann fügte er eine Phrase hinzu, noch einmal eine. Immer wieder warf er neue Motive oder Tonarten ein, während ich mich abmühte, ihm zu folgen. Auch wenn ich bei dieser Musik verloren ging – was in den ersten Monaten meist der Fall war –, fühlte ich mich doch freudig erregt: Ich jagte das Unaussprechliche und hatte endlich eine Sprache, um diese formlosen Ängste, Sehnsüchte und heimlichen Aspirationen auszudrücken, die in der Luft rund um mich herum zerflossen, wenn ich durch diese Stadt schlenderte, meine Freunde besuchte oder zur Arbeit pendelte.
*
Ich war einige Monate nach Hafiz Al-Assads Tod in Damaskus angekommen. Syriens Langzeitdiktator hatte die Präsidentschaft seinem Sohn Baschar vermacht. Tiefe Verunsicherung und gedämpfte Hoffnung bestimmten die Atmosphäre. Meine Freunde und Studenten – junge Geschäftsleute, College-Studenten, Hausfrauen – erwarteten wider besseres Wissen, dass der neue Präsident Reformen einleite, die, wie sich einer meiner Freunde ausdrückte, «Syrien dem Rest der Welt näherbringen».
Doch die Luft war gesättigt von Paranoia und Misstrauen. Das riesige Netz der geheimen Polizei durchdrang die gesamte öffentliche Sphäre, und meine Freunde erzählten unermüdlich Geschichten von Verwandten und Klassenkollegen, die wegen Regimekritik verfolgt oder verhaftet worden waren. Zur selben Zeit brummte die Stadt von grell beleuchteten Läden und Märkten: In warmen Nächten und an Feiertagen waren die Strassen meines Quartiers voll von eisessenden Familien und Freunden, die nach dem Shoppen bis spät in Restaurants verweilten. Egal, wo ich hinkam, überall wollten die Leute ausgehen; ihre eifrige Suche nach Spass und Freundschaft verhöhnte das herrschende Klima der Angst. Wer weiss, ob nicht vielleicht gar ihr Taumel davon angestachelt wurde. Irgendwann lief man immer einem Freund über den Weg, und dann endete der Abend bei seiner Familie, wo wir ausgiebig zu Abend assen. Oder ein Ladenbesitzer zauberte ein Blech Süssigkeiten hervor, und wir verbrachten Stunden damit, Tee zu trinken und Geschichten auszutauschen. «Das macht ihr nicht in Amerika, gell?», jubelte der Kassierer einer Bäckerei eines Nachts, als er aus seinem Laden mir und einem Grüppchen syrischer Freunde Tee und Gebäck offerierte. «Solltet ihr aber!»
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Nach meinem ersten Jahr in Damaskus verschlechterte sich Abu Musas Gesundheitszustand. Ich fand ihn auf seinem Sofa, wo er schmerzverzerrt um Atem rang.
«Nein, nein, nein, mir geht es gut», erwiderte er, als ich fragte, ob ich einen Arzt auftreiben oder später wiederkommen solle. «Das ist normal – seit meinem Unfall», sagte er. «Und vergessen wir nicht: Farid el Atrache spielte, allen Ärzten zum Trotz, auch bis ans Ende seines Lebens.» Abu Musa erwähnte den syrisch-ägyptischen Oud-Virtuosen häufig. Er hatte zeitlebens Herzprobleme gehabt. «Meinst du, dass ihn das Spielen umgebracht hat?»
«Er wäre vermutlich», sagte ich, «früher gestorben, wenn er aufgehört hätte.»
Abu Musa sah mich lange an. «So ist es!»
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Ich verliess Syrien im Juli 2002. Meine Familie hatte angefangen, mir Fragen punkto Karriereplanung zu stellen – und ausserdem machten die Nachrichten, die auf einen Krieg im Irak hindeuteten, sie nervös. Abu Musa schickte mir eine ganze Ladung Oud-Bücher, Kassetten, Noten und Übungsanweisungen nach Hause. Unser Abschied war schnell und scheu gewesen, ein hastiger Kuss auf beide Wangen am Fusse seiner Treppe.
Zurück in Washington fand ich einen Vollzeitjob als Nachrichtenanalystin für den arabischen Raum. Ich schaute mich nach einem Oud-Lehrer um. Erfolglos. Also wurde ich Mitglied einer Band, konzentrierte mich aufs Singen und die Gitarre. Im Nu hatte mich das tagtägliche Leben im Griff. Nach ein, zwei Jahren, in denen ich mich wacker durch Abu Musas Bücher gearbeitet hatte, begann ich das Üben zu vernachlässigen. Einige Jahre nach unserem letzten Gespräch gab ich das Spielen ganz auf.
Erst im Sommer 2010 war ich wieder in Damaskus. Mein Mann und ich verbrachten zwei Wochen dort, besuchten alte Freunde, assen in den neuen schicken Dachrestaurants und waren verblüfft ob des einseitigen, irgendwie ungemütlichen Booms der Stadt. Und Morgen für Morgen nagte die Frage an mir, ob ich Abu Musa besuchen solle. Ich spielte mit dem Gedanken, ihm ein Geschenk zu kaufen, doch nichts erschien mir passend. Auch hatte ich die Telefonnummer des Ladens gegenüber seiner Wohnung verloren. Erst am Tag vor meinem Rückflug rang ich mich durch, wieder meinen alten Spaziergang durch die Stadt zu machen.
Als ich seinen Block erreichte, blieb ich auf der anderen Seite der Strasse stehen. Einen Augenblick lang überlegte ich, anzuklopfen. Mein Arabisch war rostig, meine Oud noch rostiger. Ich würde ihm gestehen müssen, dass ich gar nicht mehr übte. Würde er mich überhaupt erkennen? Es waren immerhin acht Jahre. Würden wir wissen, was wir einander sagen sollten? Ich sah uns in seinem Wohnzimmer sitzen, wir plagten uns durch gestelzte Konversation, bevor wir uns abermals voneinander verabschiedeten. Oder ich träfe ihn krank und erschöpft an. Oder ich erführe, dass er vor Jahren gestorben sei. Ich wollte es nicht wissen. Ich wollte, dass alles so blieb, wie es gewesen war: ich war nach wie vor Oud-Spielerin und Abu Musa war Abu Musa, und wir beide hätten nach wie vor ein Plätzchen in des anderen Leben. Ich kehrte um und flog zurück in die Staaten.
Kaum dass ich zu Hause gelandet war, erfüllte mich Reue. Ich nahm mir vor, abermals Geld zu sparen, um in einem Jahr oder zwei nach Damaskus zurückzukehren. Mit Geschenk. Ohne Furcht. Doch neun Monate darauf brachen in Syrien die Aufstände aus; im Sommer 2011 fuhren Assads Panzer durch Städte und Dörfer – der Rest ist Geschichte.
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Mittlerweile gehört es zu meiner Routine, Tag und Nacht sämtliche Nachrichten aus Syrien zu verfolgen. Und ich warte auf Worte von Freunden, die noch immer im Land sind, flüchtige Zeilen, in seltene E-Mails verpackt: «Ich lebe noch», oder: «Ich bin froh, dass du es nicht so sehen musst.» Manchmal entsteht eine Stille, die ich nicht deuten kann. Ich höre Berichte von neuen Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Rebellen in Abu Musas Viertel. Dann frage ich mich, wo er sein mag. Ich denke an meine früheren Studenten, an die Ladenbesitzer in meiner Strasse, an alle diese So-gut-wie-Fremden, die ich in Bussen oder Läden getroffen hatte, von denen ich nie erwartet hatte, sie jemals wiederzusehen, deren kurze Gespräche und kleine Aufmerksamkeiten mein Leben augenblicksweise verändert hatten. Man trifft solche Leute, man sammelt sie in sich, und doch, man kann sie nicht alle halten. Aber wenigstens für eine Weile glaubt man, dass sie bleiben. Wie naiv das auch klingen mag: der Gedanke, dass sie ihr Leben leben, in genau diesem Augenblick, hält uns verbunden.
*
Ich denke oft zurück an jene Frühlingsnacht 2002, als Abu Musa mich zu einem Oud-Konzert an der Universität von Damaskus mitnahm. Muhammad, einer seiner früheren Schüler, trat auf. Er war nur ein paar Jahre älter als ich. Seine selbst komponierten Lieder waren düster und erregend, voll klagender Bassläufe und springender Crescendi, die das Publikum auf die Füsse stellten.
«Du kannst sein wie er», sagte mir Abu Musa, als wir später dem schlammigen Fluss Barada entlang zur Busstation gingen. Autos und Taxis röhrten vorbei, der Gestank verrottenden Wassers trübte die warme Nachtluft. «Du musst nur jeden Tag üben.»
Ich lachte. Nicht in tausend Jahren würde ich wie Muhammad spielen.
Abu Musa drehte sich zu mir um. «Es ist mir ernst.»
Busse flitzten an der Brücke vorbei. Abu Musa zündete sich eine Zigarette an. Er schaute mich an. «Jeden Tag!», wiederholte er. «Okay?» Er lächelte, stupste mich an. «Jeden einzelnen Tag.»
Tricia Laila Khleif
unterrichtet kreatives Schreiben und englische Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität von Michigan. Unter dem Namen T.L. Khleif tritt sie auch literarisch in Erscheinung. Sie arbeitet derzeit an einem Roman, der im Damaskus der frühen 2000er Jahre spielt. Der vorliegende Text erschien auf thecommononline.org und erscheint hier erstmals auf Deutsch.