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Nach dem Coronaschock

Welche Wege zur Resilienz gegenüber künftigen Krisen führen

Inhalt

Mark Honigsbaum, zvg.

Alles bleibt anders

Pandemien verändern Gesellschaften oft grundlegend. Das wird diesmal nicht anders sein. Das Coronavirus wird jedoch eher indirekte als direkte Folgen haben.

Die Covid-19-Pandemie und die durch sie verschärfte soziopolitische Krise haben neues Interesse an der Perspektive der Geschichtswissenschaften geweckt. Welche Lehren, fragt man mich oft, halten vergangene Pandemien für die gegenwärtige Situation bereit? Wie beeinflussten die Pest des 14. Jahrhunderts, die Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts und die Spanische Grippe 1918/19 Gesellschaft und Wirtschaft? Brachten sie grosse politische Umwälzungen und psychologische Verschiebungen? Oder machte sich ihre Wirkung bloss kulturell und am Rande der Gesellschaft bemerkbar? Solche Fragen gründen oft in der Annahme, vergangene Pandemien müssten dieselben tiefgreifenden gesellschaftlichen, psychologischen und wirtschaftlichen Verwerfungen zur Folge ­gehabt haben wie Covid-19.

Geschichtlich gesehen beeinflussten Pandemien Gesellschaften hauptsächlich durch ihre demografische Wirkung. So versetzte etwa die Pest den Gesellschaften des Mittelalters einen gewaltigen exogenen Schock. Wir werden nie genau wissen, wie viele Menschen während der Ausbrüche von 1348/49, 1360–1362, 1367–1369 und 1373–1375 starben. Schätzungen reichen von 30 bis 60 Prozent der damaligen Bevölkerung Europas. Der höhere Wert würde einer Zahl von rund 50 Millionen Toten entsprechen.

Ursache oder Folge?

Sicher ist, dass die Bevölkerungsentwicklung in Europa noch fast 150 Jahre lang rückläufig blieb oder stagnierte. Weniger Menschen bedeuteten weniger Nachfrage nach Getreide und anderen Agrarprodukten, was den Preis von Grundnahrungsmitteln nach unten drückte. Zugleich führte der Bevölkerungsrückgang zu einem verschärften Kampf um Arbeitskräfte, was die Löhne nach oben drückte und das System der Leibeigenschaft bedrängte, auf dem die damalige Feudalherrschaft beruhte. Die Folge waren Aufstände überall in Europa – unter anderem die Jacquerie in Frankreich (1358) und die Ciompi-Revolte in Florenz (1378–1382) –, die zum sogenannten «Great Leveling» beitrugen. Während aber Steuerunterlagen aus Italien belegen, dass die Pest zu einer Einebnung wirtschaftlicher Ungleichheit führte, zeichnen die Daten aus anderen Teilen Europas ein gemischtes Bild. So schrieb ein eng­lisches Arbeitsmarktgesetz von 1351, das sogenannte «Statute of Labourers», zwei Jahre nach der Pest eine Lohnobergrenze fest und begrenzte so die Verhandlungsmacht der Landarbeiter und Handwerker.

Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts gab es eine Reihe von Choleraepidemien. Diese Jahre waren ausserdem von Krieg ­geprägt, von Revolutionen und politischen Wirren. Es ist eine Sache, den Zusammenfall von Choleraepidemien mit dem «Zeitalter der Revolutionen» zu bemerken, etwas ganz anderes aber, eine ursächliche Beziehung nachzuweisen. Dem Argument, der damalige Reformdruck sei unter anderem eine Folge der Cholera gewesen, steht entgegen, dass die Cholera – anders als seinerzeit die Pest – nicht zu einem dramatischen Bevölkerungsrückgang führte. Auch gibt es laut dem Historiker Richard Evans keine Belege für die Theorie, dass die Cholera nachhaltigen politischen Wandel oder nennenswerte gesellschaftliche Dyna­miken hervorgerufen habe. «[Cholera-]Epidemien», schliesst Evans, «waren weniger Ursachen als vielmehr Folgen revolutionärer Umbrüche und der Art und Weise, wie die Regierungen auf diese reagierten.» So wurde der Choleraausbruch von 1830/31 durch die Niederschlagung eines Aufstands polnischer Nationalisten durch Russland bedeutend verschlimmert: Tausende polnischer Flüchtlinge strömten über die Grenze nach Preussen.

«Die Weltbank schätzt, dass ­Covid-19 die globale Wirtschaft

12 Billionen Dollar kosten könnte. Das war 1918 anders,

als Staaten weit weniger miteinander verflochten waren,

als sie es heute sind.»

Zahlenmässig war die Spanische Grippe von 1918/19 die schlimmste Pandemie der Geschichte. Sie fiel mit dem Ende des Ersten Weltkrieges zusammen und forderte geschätzt zwischen 50 und 100 Millionen Menschenleben weltweit. Während aber 1919 das erste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen war, in dem die Sterberate in den USA über der Geburtenrate lag, erfreuten sich die Überlebenden längerer Lebensspannen bei besserer Gesundheit und profitierten in vielen Fällen sogar von höheren Löhnen. Allerdings ist es nicht ganz einfach, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie von denen der Kriegsökonomie zu trennen. Und während die Zahl der Todesopfer weltweit gesehen riesig war, bewegte sich die Sterberate in fortschrittlichen Industriestaaten um 2 Prozent. Die Spanische Grippe hatte also die meisten Menschen gar nicht betroffen. Tatsächlich scheint die Spanische Grippe kaum Spuren in der allgemeinen Erinnerung hinterlassen zu haben, weswegen die Geschichtsschreibung sie auch als «vergessene Pandemie» bezeichnet.

Im Fall von Covid zeigt sich ein anderes Bild. Vor allem, weil das Virus die Ökonomien der reichsten und mächtigsten Staaten ­erschüttert hat und die Welt in die schlimmste Depression seit den 1930er Jahren stürzen könnte. Die Weltbank schätzt, dass ­Covid-19 die globale Wirtschaft 12 Billionen Dollar kosten könnte. Das war 1918 anders, als Staaten weit weniger miteinander verflochten waren, als sie es heute sind. Ein weiterer Unterschied ist, dass wir die Pandemie und die von ihr angerichteten Verwüstungen in Echtzeit verfolgen können. Social Media und tägliche Todeszahlmeldungen machen es möglich. Entscheidend ist aber wohl, dass die der Bevölkerung auferlegten Massnahmen wie Lockdown und Social Distancing ohne historisches Vorbild sind.

Frühzeitiges Handeln ist entscheidend

Natürlich hatten auch während der Pest etliche europäische Staaten Gesundheitschecks an Grenzen und in Häfen verordnet. Und während der Beulenpestausbrüche in Italien 1629–1631 und 1656/57 wurden Personen unter Infektionsverdacht in Lazaretten isoliert (das Wort «Quarantäne» stammt vom venetischen «quarantena», zu Deutsch «40 Tage»). Ähnliche Quarantäne- und Isolationsmassnahmen wurden in New York während verschiedener Ausbrüche von Cholera und Typhus im 19. Jahrhundert getroffen. Auch verboten 1918 mehrere US-amerikanische Städte grosse öffentliche Versammlungen und erliessen Verordnungen, die das Tragen von Masken verpflichtend machten.

Als aber China im Januar 2019 ankündigte, Wuhan isolieren zu wollen – eine Stadt mit 11 Millionen Einwohnern –, waren die meisten Fachleute skeptisch. Niemals in der Geschichte der Medizin waren Lockdowns dieser Grössenordnung verhängt worden. Die Skepsis der Experten wuchs noch, als die Beschränkungen auf Dutzende weitere Städte ausgeweitet wurden und sich somit 50 Millionen Menschen in Quarantäne befanden.

Dieser Skepsis zum Trotz verhängte Italien im Februar, infolge des Ausbruchs in der Lombardei, schnell eine landesweite Quarantäne. Und bis Mitte März hatten auch Spanien und Frankreich ähnliche Massnahmen angeordnet. Selbst Länder wie Grossbritannien oder die USA, die zunächst gezögert hatten, die Frei­zügigkeit ihrer Bürger einzuschränken, fügten sich schliesslich der Notwendigkeit, Social Distancing und gezielte Isolierungen einzuführen. Jene Länder, die frühzeitig Beschränkungen erlassen und diese mit strengen Test- und Nachverfolgungsansätzen kombiniert hatten, etwa Neuseeland oder Deutschland, konnten die Ausbreitung des Coronavirus am erfolgreichsten eindämmen und die Sterblichkeit senken.

Auch Hongkong, Südkorea, Singapur und andere südostasiatische Länder haben sich relativ erfolgreich geschlagen – wohl nicht zuletzt, weil Politik und Bürger mit Blick auf die Sars-Epidemie 2002/03, die ebenfalls von einem Coronavirus verursacht worden war, schneller bereit waren, den Empfehlungen von Gesundheitsexperten zu folgen. In Ländern hingegen, deren Regierungen ­solche Empfehlungen ignorierten oder beiseiteschoben, nahm die Pandemie einen katastrophalen Verlauf. In den USA sind zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels offiziell über 190 000 Menschen mit Covid-19 gestorben. Das ist ein Viertel aller Coronatoten weltweit – und das, obwohl die USA nur 2 Prozent der Weltbevölkerung stellen.

Diese Pandemie wird nicht vergessen werden

Ähnlich wie im 19. Jahrhundert die Choleraausbrüche in Europa und den USA hat auch das Coronavirus Ungerechtigkeiten aufgedeckt: bei der medizinischen Versorgung und der Rolle von Einkommen, Beruf und Ethnie hinsichtlich Gesundheitsschäden. Gemäss dem APM Research Lab in den USA hatten Afroamerikaner um ein Dreifaches höhere Sterberaten zu verzeichnen als weisse Amerikaner. In den höheren Sterberaten bei Schwarzen und ethnischen Minderheiten könnte sich die grössere Häufigkeit von Vorerkrankungen wie Diabetes oder Herzleiden bei diesen Bevölkerungsgruppen widerspiegeln. Zweifellos spielen jedoch auch soziale Bedingungen und rassistische Diskriminierung eine Rolle: Angehörige ethnischer Minderheiten wohnen meist in engeren Verhältnissen und suchen aufgrund schlechter Erfahrungen mit geringerer Wahrscheinlichkeit einen Arzt auf als Weisse.

In dieser Hinsicht funktioniert Covid-19 als «Framing Device» im Sinne des Wissenschaftshistorikers Charles Rosenberg: Die Pandemie verschafft Historikern «Zugang zu bestimmten Konfigurationen demografischer und wirtschaftlicher Bedingungen». Laut dem nigerianischen Schriftsteller und Lyriker Ben Okri ­haben zudem die Wochen des Lockdowns den «Gerechtigkeitssinn der Menschen aufgefrischt» – und so in den USA die landesweiten «Black Lives Matter»-Proteste befeuert, die nach dem gewaltsamen Tod des unbewaffneten Afroamerikaners George Floyd durch Polizeigewalt aufgeflammt waren. Solche Proteste lassen sich als Symptom tieferer gesellschaftlicher Probleme deuten, die durch die Pandemie wie durch das Versagen der Politik bei ihrer Eindämmung an die Oberfläche gekommen sind.

Ob «Black Lives Matter» und andere von der Pandemie inspirierte Protestbewegungen zu nennenswerten politischen Reformen und einem deutlichen «Bruch mit der Vergangenheit» führen, wird sich zeigen müssen. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass Covid-19 jemals in Vergessenheit gerät. Im Gegenteil: Wissenschafter, Journalisten und Intellektuelle sind Teil einer weitreichenden öffentlichen Debatte darüber, wie wir auf die Pandemie reagiert haben und mit welchen Folgen. Verlage bringen eilig ­Bücher heraus, die darüber spekulieren, wie Covid-19 die Arbeitswelt und das Bildungswesen verändern wird. Nichts dergleichen geschah 1918.

Ivan Krastev, fotografiert von Klaus Ranger / IWM.

Plötzlich Weltbürger

Das Coronavirus hat die Bedeutung von Grenzen verändert. Während die Menschen Zuflucht im Nationalstaat suchen, treten zugleich dessen Schwächen zutage.

Es gibt Momente, in denen sich unsere Gewissheiten auflösen und sich unsere kollektive Vorstellung von dem, was möglich ist, dramatisch ändert. Ein Virus war nötig, um die Welt auf den Kopf zu stellen: Während die Pandemie wütete, war die EU zeitweise eingestellt, und die Bürger suchten Zuflucht in der ­Sicherheit des Nationalstaats; die Demokratie machte Pause. Die Parlamentarier wurden nach Hause geschickt, Demonstrationen verboten und Wahlen verschoben. Auch der Kapitalismus war nicht mehr wiederzuerkennen. Die Arbeitslosenzahl ist auf ­ungeahnte Höhen gestiegen, und die Krise der Weltwirtschaft ist verheerender als die Finanzkrise von 2008/09. Die «Einmischung» der Regierungen in die Märkte ist grösser als jemals nach 1989, und «zeitweilige Verstaatlichungen» sind die neue Normalität.

Heute können wir uns alles vorstellen, weil wir von etwas bedrängt werden, das als unvorstellbar galt. Plötzlich ist es nicht mehr schwer, sich vorzustellen, dass die Vereinigten Staaten eine flächendeckende Krankenversicherung einführen können, dass China in den nächsten Jahren die USA als wichtigste Weltmacht ablösen kann, dass der russische Präsident Wladimir Putin die Macht verlieren kann oder dass die Europäische Union in sich zusammenbrechen oder sich zu einer Art «Vereinigte Staaten von Europa» entwickeln kann. Und während die Flugzeuge am Boden bleiben, beginnen Klimaaktivisten zu glauben, dass ihre Träume von einer CO2-armen Welt Wirklichkeit werden.

Touristen verschwinden, Migranten kommen

Anfang April bemerkte die italienische Sozialwissenschafterin Chiara Pagano trocken: «Italien ist jetzt abgeschotteter, als Matteo Salvini sich das je erträumt hat.» Damit hatte sie nicht ganz unrecht. Im Laufe einer einzigen Woche wurden wegen Covid-19 mehr europäische Grenzen geschlossen als in der Flüchtlingskrise 2015. Im März sank die Zahl der Flugreisen in Europa um atemberaubende 97 Prozent im Vergleich zum Vormonat. Viele Liberale sehen in diesem Rückgang des Reisens eine Tragödie mit gewal­tigen Folgen; das Coronavirus hatte den Kontinent mit einem ­unheilbaren Nationalismus infiziert, der jetzt das Überleben der Europäischen Union bedrohte.

Die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 hatte die Fundamente des europäischen Projekts ins Wanken gebracht, indem sie die Spaltung verstärkte zwischen jenen, die Bewegungsfreiheit befürworteten, und jenen, die darauf drängten, die Staatsgrenzen zu schliessen. Im Laufe der Krise verlor eine Mehrheit der Europäer das Vertrauen in den angeblichen Wert der Globalisierung. Der Tourist und der Geflüchtete wurden zu Symbolen für das Janus­gesicht der globalisierten Welt.

Der Tourist steht beispielhaft für das Positive der Globalisierung. Als wohlmeinender Fremder kommt er, gibt sein Geld aus, bewundert die Schönheiten des Landes und geht wieder. So gibt er uns das Gefühl, mit einer grösseren Welt verbunden zu sein, ohne uns seine Probleme aufzuladen. Der Geflüchtete dagegen repräsentiert das Bedrohliche der Globalisierung. Er kommt, nieder­gedrückt vom Elend der weiten Welt. Er erhebt Ansprüche auf ­unsere Ressourcen und zwingt uns, uns mit den Grenzen unserer Solidarität auseinanderzusetzen. Touristen anziehen und Migranten abweisen – das ist grob verkürzt die Weltordnung, die Europa sich wünscht. Doch in der Coronapandemie versammeln sich noch immer Geflüchtete an den Toren Europas, während die Touristen verschwunden sind. Und wahrscheinlich wird die Krise langfristig dafür sorgen, dass der Druck auf die Grenzen Europas durch die Rezession weiterwächst.

«Touristen anziehen und Migranten abweisen – das ist die Weltordnung, die Europa sich wünscht. Doch in der Pandemie versammeln sich noch immer Geflüchtete an den Toren Europas,

während die Touristen verschwunden sind.»

Der globale Süden wird wohl das grösste Opfer der Konjunkturflaute sein. Der Wert der Auslandsüberweisungen wird wohl um etwa 20 Prozent zurückgehen, verglichen mit 5 Prozent in der ­globalen Finanzkrise 2008. Der Abzug ausländischer Investitionen wird dazu führen, dass die Menschen Chancen ausserhalb ihrer Heimatländer suchen. Die Europäer werden mehr Migranten an ­ihren Grenzen antreffen – zu einer Zeit, in der die Grenzschliessungen kein Ausdruck mangelnder Solidarität sind, sondern vielmehr eine geopolitische Version des Social Distancing. Das wird mög­licherweise zum Sieg des ethnischen Nationalismus und des fremdenfeindlichen Populismus in der europäischen Politik führen.

Die Europäische Union ist aus der brutalen Feuerprobe des europäischen Nationalismus hervorgegangen, was erklärt, warum so viele Proeuropäer eine starke Abneigung gegen jede Idee haben, der auch nur der leichteste Hauch von Nationalismus anhaftet. Die Angst der Liberalen, dass die Coronapandemie zu einem Ausbruch des Nationalismus führen wird, ist nur allzu verständlich, vor allem wenn wir uns vor Augen halten, dass Epidemien historisch gesehen oft mit Fremdenfeindlichkeit einhergingen. Und wie nicht anders zu erwarten, sind solche Ausbrüche auch in der gegenwärtigen Pandemie keine Seltenheit. In Italien gab man den eingewanderten Chinesen die Schuld am sogenannten «Wuhan-Virus». In historischer Perspektive allerdings wird man sich mit Blick auf die frühen Phasen dieser Pandemie weniger an den Anstieg der Fremdenfeindlichkeit erinnern als vielmehr daran, dass der ethnische Hass politisch nicht Fuss fassen konnte.

Der «Bleiben-Sie-zu-Hause-Nationalismus»

Wie wir schon gesehen haben, ist die durch die Coronakrise ausgelöste «nationale Abschottung» der Situation in der Flüchtlingskrise von 2015 nicht unähnlich. Verschiedene Themen rund um die Migrationsdebatte sind wieder in den Vordergrund gerückt, doch der «Bleiben-Sie-zu-Hause-Nationalismus» ist seinem Wesen nach etwas ganz anderes als der ethnische Nationalismus.

Die meisten von uns haben selbst nie einen Krieg, einen Militärputsch oder eine Ausgangssperre miterlebt, doch wir alle wissen instinktiv, dass in einem Moment grösster Gefahr der Impuls da ist, die Schliessung der Staatsgrenzen zu akzeptieren. Indem sie die Grenzen schliessen, erklären Politiker ihre Bereitschaft, Verantwortung dafür zu übernehmen, was in ihrem Staat geschieht.

Die Grenzen zu schliessen ist nicht einfach ein uralter In­stinkt; es ist auch der traditionellste Weg, eine Epidemie zu bekämpfen. Im Jahr 1710 beschloss Joseph I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, eine Epidemie zu blockieren, die sich vom Balkan her ausbreitete, indem er einen «Cordon sanitaire», ein Isolationsgebiet, entlang der Südgrenze des Habsburgerreichs mit dem Osmanischen Reich anlegte. Damit war er im grossen und ganzen erfolgreich. Es rettete ihm selbst aber nicht das Leben; er starb 1711 an den Pocken. Die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im Reich blieben jedoch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bestehen.

In seinem Buch «Once within Borders» versteht der amerikanische Historiker Charles S. Maier Territorium als eine soziopolitische Erfindung, die es den Menschen erlaubt, regiert zu werden, und ihnen eine Identität gibt, die über die ihrer Herkunft hinausgeht. Er schreibt: «Territorium ist damit ein Entscheidungsraum. Es begründete die Reichweite von Gesetzgebung und kollektiven Entscheidungen. Gleichzeitig legte es den Geltungsbereich starker kollektiver Loyalitäten fest … Im Zeitalter der Globalisierung hat das Territorium seine Bedeutung als ‹Entscheidungsraum› zum Teil verloren.» Viele von uns arbeiten und leben heute nicht im Heimatland, das allerdings seine Anziehungskraft als «Identitätsraum» behalten hat. Durch den von Covid-19 ausgelösten «Bleiben-Sie-zu-Hause-Nationalismus» ist das Territorium auch wieder zum Entscheidungsraum geworden.

Der Aufschwung eines pandemiegetriebenen Nationalismus hat entscheidend zur wiederauflebenden Bedeutung des Nationalstaats beigetragen. Covid-19 hat die Menschen dazu gebracht, die Rolle des Staates in ihrem Leben neu zu bewerten. Als eine Folge der Coronapandemie verlassen sie sich darauf, dass ihre ­Regierung das öffentliche Gesundheitswesen organisiert, und sind davon abhängig, dass der Staat die im freien Fall befindliche Wirtschaft rettet. Die Effektivität von Regierungen wird heute an ihrer Fähigkeit gemessen, das Alltagsverhalten der Menschen zu verändern; im Kontext dieser Krise ist Untätigkeit das sichtbarste Zeichen emsiger Aktivität. Die Menschen haben eine Bereitschaft bekundet, signifikante Einschränkungen ihrer Rechte hinzunehmen, aber sie nehmen es nicht hin, wenn Regierungen nicht bereit sind, Massnahmen zu ergreifen.

Wir erleben alle dasselbe

Wenn wir davon ausgehen, dass die Coronakrise Ähnlichkeiten mit der europäischen Flüchtlingskrise aufweist, sind zwei Aspekte unter den Tisch gefallen. Zum einen gibt die Politik des ­Social Distancing den nationalen Regierungen zwar ausser­gewöhnliche Vollmachten. Sie stärkt aber auch die Präsenz der Kommunalverwaltungen und der regionalen Identitäten. Zum zweiten kann die Abschottung der Nationalstaaten die Grenzen des Nationalismus aufzeigen. In einer Zeit, in der die Sorge um die Wirtschaft die öffentliche Debatte beherrscht, erkennen die Euro­päer vielleicht, dass – anders als im 19. Jahrhundert – der Nationalismus wirtschaftlich nicht tragbar ist. Die Vereinigten Staaten und China können die Illusion der Autarkie ihrer Wirtschaft aufrechterhalten, und auch die Europäische Union könnte von einer vorsichtigen «Deglobalisierung» profitieren, doch kleine euro­päische Nationalstaaten hätten keine Chance. Die Europäer werden bald merken, dass der einzige Schutz, den sie haben, jene Form von Protektionismus ist, die ihr Zusammenschluss mit dem Rest des Kontinents bietet.

Das grosse Paradoxon bei Covid-19 ist, dass die Schliessung der Grenzen in Europa und die Isolation der Menschen in ihren Wohnungen uns kosmopolitischer denn je gemacht haben. Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte reden die Menschen überall auf der Welt über dasselbe und teilen dieselben Ängste. In zahllosen Stunden vor Computer- und Fernsehschirmen vergleichen die Menschen zu Hause das, was sich bei ihnen abspielt, mit dem, was anderen anderswo passiert. Es mag vielleicht nur für die Dauer dieses einen seltsamen Moments in unserer Geschichte sein, aber wir können nicht leugnen, dass wir gegenwärtig erleben, wie es sich anfühlt, eine gemeinsame Welt zu bevölkern.

Raynald Droz, fotografiert von Samy Ebneter / Fabio Cianciola.

«Die Pandemie hat gezeigt, dass Länder nicht immer zur
Kollaboration bereit sind»

Brigadier Droz leitete den ausserordentlichen Einsatz der Schweizer Armee. Mit uns spricht er über die Herausforderung, in unsicheren Lagen Sicherheit zu vermitteln, und darüber, wie wir uns für künftige Krisen wappnen.

 

Raynald Droz weiss um das Bild, das die Öffentlichkeit von ihm hat. Bei unserem Besuch in Bern zeigt er sogleich das Feldbett in seinem Büro, in dem er nach langen Arbeitstagen manchmal schläft. Es ist in der Coronakrise zum Sinnbild für die Arbeits­moral des Brigadiers geworden und fehlte in keinem Medien­bericht über ihn. Der 54-Jährige war verantwortlich für den ­Armeeeinsatz in der Pandemie und wurde so etwas wie der heimliche Star der Krise. Das Bild des Berufsmilitärs, der um vier Uhr morgens aufsteht, um zu trainieren, und danach an der Medienkon­ferenz souverän in drei Sprachen spricht, prägte sich in der ­Öffentlichkeit ein. In unserem Gespräch, das an einem Stehtisch stattfindet, wirkt Droz gewohnt ruhig und zugleich engagiert. Man merkt: Dieser Mann lebt für seinen Job.

Sie waren kürzlich in den Ferien. Wie haben Sie sich erholt?

Meine Frau und ich sind in der Schweiz geblieben, bien entendu, und wie viele Romands haben wir die andere Seite des Rösti­grabens besucht. Es waren ruhige Ferien: viel Sport, für meine Frau wahrscheinlich zu viel, für mich aber ist das Erholung.

Sie hatten Zeit, die intensiven vergangenen Monate zu verarbeiten. Wie fällt Ihre Bilanz des Armeeeinsatzes während der Pandemie aus?

Es war definitiv ein guter Einsatz. Wir haben, unter Druck vom In- und Ausland, die Leistung erbracht, die gefragt war. Der Auftrag lautete, maximal 8000 Angehörige der Armee zur Verfügung zu stellen, was fast die einzige Richtlinie war, die wir zu Beginn hatten. Hinzu kam, dass mit der Weiterentwicklung der Armee vor knapp zweieinhalb Jahren gewisse Dinge, wie beispielsweise das Bereitschaftssystem, die Miliz mit erhöhter Bereitschaft, aber auch das Kommando Operationen, neu eingeführt worden sind. Trotz dieser Neuerungen haben wir gezeigt, dass die Mobilisierung funktioniert. Wir haben bewiesen, dass das System einen lange andauernden Einsatz trägt.

Was war für Sie die schwierigste Situation?

Die schwierigste Situation war der Moment, als die Armee entschied, die Variante «All in Plus» der Chefin VBS zu empfehlen. Damals war die Lage so ernst, dass wir entschieden, alles einzusetzen, was wir im Sanitätsbereich hatten. Wir fragten uns: Und jetzt? Wie viele Soldaten rücken auch ein? Wir wussten ja nicht, wie viele der Aufgebotenen vielleicht selber vom Virus betroffen waren oder welche Auswirkungen dies für die Wirtschaft bedeutete, wenn alle diese Leute auf einmal eingezogen wurden. Als wir sahen, dass innerhalb weniger Stunden 80 Prozent der Aufgebotenen den entsprechenden Alarm bestätigten, war mindestens das erste Problem gelöst. Der zweite schwierige Moment folgte nach etwa drei Wochen.

«Während wir die Zusammenarbeit mit Polizei und Zollverwaltung schon trainiert hatten, war die Zusammenarbeit mit dem Gesundheitssystem neu und musste sich zuerst einspielen.»

 

Da war der Einsatz schon in vollem Gang.

Wir sahen, dass wir die etwa 5000 Aufgebotenen nicht alle einsetzen konnten, da in der Zwischenzeit auch die verschiedenen zivilen Gesundheitsorganisationen ihre Leistungen auf die Bewältigung der Covidlage fokussiert hatten. Wir haben 300 Begehren für Einsätze in Spitälern erhalten, merkten aber bald, dass wir für diese Aufträge zu viele Leute hatten. Da mussten wir uns fragen: Halten wir diese in Bereitschaft – im Wissen um die Schwierigkeiten hinsichtlich der Motivation? Es ist schwierig für einen Kommandanten, Leute zu führen, die nicht eingesetzt werden. Es ging hierbei nur um die Unterstützung von Spitälern. Beim Grenzschutz, wo wir ebenfalls im Einsatz standen, hatten wir nie zu viele Leute. Während wir die Zusammenarbeit mit Polizei und Zollverwaltung schon trainiert hatten, war die Zusammenarbeit mit dem Gesundheitssystem neu und musste sich zuerst ein­spielen. – Niemals zuvor hatten wir eine Übung im Gesundheits­bereich dieser Grössenordnung durchgeführt, weshalb wir auch keine Angaben über mögliche Bedürfnisse hatten.

Was hat Sie am meisten beeindruckt?

Beeindruckt hat mich die Energie, die Solidarität. Das ist vielleicht etwas typisch Schweizerisches, denn diese Solidarität existiert auch in vielen anderen Bereichen. Es gibt in der Schweiz die Kultur, ein Teil der Lösung zur Verbesserung der Lage zu sein. Die Kritik, die wir von den Soldaten hörten, war: «Ich habe mich vorbereitet, ich wurde aufgeboten – und dann nicht eingesetzt.» Diese Kritik haben wir ernst genommen und sehr rasch unsere Dispositive angepasst und verkleinert.

Waren die Spitäler zu vorsichtig?

Nein, die Spitäler können nichts dafür. Die Herausforderung begann mit der Schliessung der Grenze mit Italien und dann später mit Deutschland und Frankreich. In der Nacht erhielten wir Anrufe von höchsten Stellen, die besorgt waren: Wir wussten zu diesem Zeitpunkt nämlich nicht, ob alle Mitarbeiter der Spitäler in Genf, Basel und im Tessin – von denen viele Grenzgänger sind – zur Arbeit gehen konnten. Wenn diese Leute plötzlich nicht mehr in die Schweiz kommen können, muss bis zu einem Drittel des Personals ersetzt werden. Das war die Lage! Als letztes Mittel des Bundes bereiten wir uns immer auf den schlimmsten Fall vor. In diesem Moment haben wir gesagt: Wir wissen nicht, wie viele Kräfte wir tatsächlich brauchen, weshalb wir die Variante «All in Plus» empfohlen haben. Wenn wir zu wenig Leute haben und die Spitäler mit Patienten überfüllt sind, ist die Lage nicht mehr zu retten.

Zur Kritik, dass die Soldaten in den Spitälern nur herumgestanden seien, sagen Sie also: Besser so!

Das ist etwas anderes. Wenn ein Spital 20 Angehörige der Armee zur Unterstützung anfordert und dann nur 2 einsetzt, so ist das nicht fair für die anderen 18. Aber auch die Spitäler wussten nicht, was sie erwartete, ob ihre Intensivstationen innert Tagen gefüllt sein würden. Viele haben dann die Gelegenheit genutzt und alle Kräfte genommen, die sie bekommen konnten. Sie haben Reserven geschaffen. Niemand will den Moment erleben, in dem weniger Personal vorhanden ist, als es braucht. Ein Damm gegen Hochwasser muss auch gebaut werden, bevor die Flut kommt. Wenn die Flut da ist, ist es zu spät, den Damm zu erhöhen. C’est fini. In der Krise braucht es Mut und Antizipation. Und wenn ein Entscheid in einer totalen Unsicherheit zu treffen ist, dann müssen auch Risiken getragen werden.

Wurden die Soldaten vor dem Einsatz getestet?

Nein.

Warum nicht?

Gemäss Schutzkonzept durften Soldaten mit Symptomen erst gar nicht einrücken und mussten zu Hause bleiben. Ausserdem gab es in dieser Phase zu wenig Tests, ebenso wie zu wenig Masken. Die Vorgabe des BAG war, dass nur bestimmte Personen der Risikogruppe getestet wurden. Eine Schwierigkeit war, dass die meisten Jungen, die Covid-19 hatten, keine Symptome aufwiesen. Inzwischen werden Rekruten und Soldaten getestet, die in einen Dienst einrücken.

Wir haben jetzt vor allem über den Spitaleinsatz gesprochen. Der ­Einsatz an der Grenze dagegen war in der Öffentlichkeit kaum präsent. Wie erklären Sie sich das?

Vielleicht ist es normal, dass der Mensch auf das fokussiert, was für alle gefährlich und sichtbar ist. In der Pandemie war das die Krankheit, und daraus ergab sich der Fokus auf die Spitäler, à la bonne heure! Der Grenzeinsatz war aber ebenso wichtig: Ohne uns wäre es schwierig gewesen, die Situation an der Grenze unter Kontrolle zu behalten. Der Bundesrat wollte vermeiden, dass die Pandemie vermehrt über die Grenze ins Land kam. Dieser Einsatz war wenig sichtbar, aber eine sehr gute Sache und sehr interessant für uns. Der Einsatz der Armee war und ist nie eine PR-Aktion, gleich wie der Einsatz der Polizei oder der Feuerwehr. Wir sind im Einsatz, weil wir gebraucht werden. Auch wenn man uns meistens kaum wahrnimmt. Doch plötzlich, mitten in der Nacht zum Beispiel, hört man Sirenen. Unser Gefühl von Sicherheit ergibt sich aus dem Vertrauen darauf, dass Instanzen im Notfall bereit und einsatzfähig sind.

Man hörte Kritik von Soldaten, die über lange Einsätze und kurze ­Erholungszeiten klagten. Was sagen Sie ihnen?

Das ist ein Feedback, das ich ebenfalls gehört habe. Es betraf einzelne Leute, die zwölf Stunden ohne Unterbruch im Einsatz ­waren. Im Zivilen ist das sicher nicht die Norm. Im Einsatz für die Sicherheit auch nicht in der normalen Lage. Es kann aber durchaus passieren, dass dies in der ausserordentlichen Lage nötig ist. Geschehen ist das vor allem bei Wachtaufträgen in der Nacht – wir haben das abgeklärt und wo immer möglich rasch behoben. Es gab auch Kritik daran, dass einige Spitäler von Armee, Zivildienst und Zivilschutz profitierten und ihr eigenes Personal nach Hause schickten. Wir müssen das verstehen: Die Spitäler haben sichergestellt, dass das eigene Personal bereit ist, im Katastrophenfall stundenlang zu arbeiten. Sie haben Arbeitsstunden kompensiert, als dies noch möglich war. Das ist auch Planung und Antizipation. Die Frage ist: Soll man künstlich das System unter Druck setzen, stundenlang arbeiten lassen und dann, wenn die Welle wirklich kommt, feststellen, dass man sie in die Ferien schicken muss?

«Wenn die Flut da ist, ist es zu spät, den Damm zu erhöhen. C’est fini.»

 

Waren die Soldaten ausreichend auf ihren Einsatz vorbereitet?

Jeder Soldat muss am Ende eines Wiederholungskurses eine gewisse Bereitschaft erreichen, was auch überprüft wird. Bei der Mobilisierung haben wir gezielt eine abgekürzte Sanitätsausbildung zur einsatzbezogenen Vorbereitung durchgeführt, denn wir mussten sicherstellen, dass die Truppe rasch zum Einsatz kam. Kräfte, die nicht zum Einsatz gekommen sind, haben wir weiter ausgebildet. Wir waren bereit, wir können stolz sein auf unsere Milizarmee!

Wo gab es Probleme?

Dass die Einsätze so lange dauerten, war nicht immer einfach für die Soldaten. Je mehr sie vor der Krise mit den Leuten trainieren, desto besser sind sie für ihren Einsatz bereit, bien entendu. Im Gesundheitssystem war das nur teilweise der Fall: Die Spitalbataillone haben zwar jedes Jahr einen Wiederholungskurs in einem Spital. Am Ende dieses WKs können die Soldaten zwar definieren, was dieses bestimmte Spital in einem Einsatz braucht. Aber das bezieht sich nur auf einen Kanton, ein Spital! In der Schweiz gibt es gegen 300 Spitäler.

Was würden Sie im Rückblick anders machen?

Alors, wenn eine zweite Welle kommt, kennen wir dieses Mal die meisten Dispositive bereits. Wir werden nicht mehr «All in Plus» benötigen und werden nicht mehr wie eine Feuerwehr handeln müssen. Das ist nicht mehr nötig, weil die Erfahrung vorhanden ist und wir die Leistungen viel besser antizipieren können. Vielleicht würden wir sogar ein wenig mehr Risiko eingehen: Zum Beispiel bieten wir dann nur 1500 Leute auf und setzen 500 weitere in Bereitschaft, mit der Möglichkeit, innerhalb von zwei Wochen auf 2000 aufzustocken. Wichtig ist zu wissen, dass die Schweizer ­Armee dann in den Einsatz kommt, wenn sie benötigt wird.

Die Angehörigen der Armee sollen also stufenweise aufgeboten werden?

Richtig, in Wellen! Beim Schutzauftrag an der Grenze hat das bereits beim ersten Mal gut funktioniert: Zwei Drittel im Einsatz, ein Drittel in der Reserve und für den Betrieb im rückwertigen Bereich. Aber nicht 50:50.

In der Krise vermittelten Sie den Eindruck von Entschlossenheit und ­Sicherheit. War das eine bewusste Strategie oder liegt das in Ihrem ­Naturell?

Wenn das eine bewusste Strategie war, dann habe ich sie ziemlich gut umgesetzt! (lacht) Nein, nein, mein Stab ist sehr gut organisiert und meine Offiziere und die Zivilangestellten sind sehr professionell. Wir haben während sechs, sieben Wochen sieben Tage pro Woche mit Freude gearbeitet. Zusammen mit langjähriger Erfahrung und offener Kommunikation gibt das der Öffentlichkeit Sicherheit. C’est tout!

Ist Führungsstärke in der Krise etwas, das man trainieren kann?

Ja, das trainieren Sie ab dem ersten Tag, an dem Sie in der Armee eine Kaderfunktion haben. In unserer Organisation gibt es auch die Möglichkeit, Fehler zu machen. Das ist die Kultur: «Machä!» Mutig sein, nach vorne schauen. Teilweise nur in kleinen Schritten, aber immer in die richtige Richtung!

Zeigt die Coronakrise, dass die Armee sich auf andere Bedrohungen einstellen muss als auf einen bewaffneten Angriff?

Ja und nein. Ja, weil die Analyse der Risiken und Bedrohungen ständiger Auftrag ist; nein, weil die Schweizer Armee ein Gesamtsystem ist. Die Kohärenz darin besteht aus der Summe ihrer Fähigkeiten. Tatsächlich besteht die Bedrohung aus einer Summe von verschiedenen Risiken und Gefahren, die sich ständig ändern: Vor der Pandemie hat man richtigerweise viel von Cyberrisiken gesprochen, dann von der Terrorgefahr. Jetzt ist es neu die Pandemie. Alle anderen Risiken sind aber auch jetzt immer latent vorhanden und damit präsent. Wir sehen, dass alle Länder nun ihre eigene Sicherheit ins Zentrum stellen. Die Pandemie hat zudem gezeigt, dass Länder nicht immer zur Kollaboration bereit sind und sehr schnell zurück in den Isolationsmodus gehen.

Haben Sie Beispiele?

Die USA beispielsweise haben Entscheide im Interesse des eigenen Landes getroffen, ohne Rücksicht auf die Interessen anderer zu nehmen. Die Schweizer Armee muss sicherstellen, dass sie für alle möglichen Bedrohungen bereit ist, welche durch das Leistungsprofil vorgesehen sind. Ob es mehr Sanitätstruppe, mehr ­Cyberabwehr, Kampfjets oder Panzer braucht, darüber könnten wir stundenlang sprechen. Es geht darum, das Maximum aus dem Gesamtsystem herauszuholen und, noch wichtiger, unseren Verfassungsauftrag zu erfüllen. Die Bedrohung verändert sich. Mit der Pandemie wird sich das vermutlich in den nächsten 10 Jahren noch beschleunigen.

«Die Macht der Kantone ist genial – aber es gibt ab und zu gemeinsame Herausforderungen, für die wir vielleicht nicht immer genügend klar zentralisierte Entscheide haben.»

In welche Richtung?

Der Klimawandel ist sicher auch ein Punkt. Oder schauen Sie auf das Bevölkerungswachstum in manchen Ländern. In Afrika liegt das Durchschnittsalter in den meisten Ländern unter 20 Jahren. Mit dem Klimawandel wächst die Sahara und stösst die Leute nach Süden oder Norden. Das setzt eine ganze Kette in Gang. Und das ist nur ein Teil der Konsequenzen! Dieser Planet hat wahrscheinlich auch eine Grenze für seine Ressourcen. Dafür haben wir heute leider keine direkte und schnelle Lösung. Okay, on fait quoi? Ist die Lösung die Schliessung der Grenzen, wenn die Jungen, die sowieso nichts haben, nach Europa kommen? Bauen wir einfach Mauern? Das sind doch keine nachhaltigen Lösungen! Meine Generation wird vielleicht nur noch einen Teil dieser Entwicklung erleben und noch einen Beitrag leisten können. Das ist unsere Verantwortung. Doch die nächste Generation, wie unsere Kinder, wird damit leben und nachhaltige Lösungen finden müssen.

Welche Rolle soll die Armee dabei spielen?

Die Armee ist nicht die Lösung für all diese Probleme. Doch wir müssen bereit sein, unsere Neutralität, unsere Werte, unsere Gesellschaft, unsere Bevölkerung zu schützen. Sicherheit ist in allen Ländern, in allen Demokratien, ein wesentliches Element. Die Armee ist kein Selbstzweck, sie hat einen Auftrag. Sie können ja auch nicht der Feuerwehr den Auftrag geben, ein Feuer zu ­löschen, und ihr gleichzeitig kein Löschfahrzeug zur Verfügung stellen. Dann wird der Feuerwehrmann mit Ihnen neben dem Haus stehen und sagen: C’est un bon feu, ça brûle bien! Bei der ­Armee ist es das Gleiche: Wenn wir einen Auftrag erhalten haben, dann müssen wir diesen auch erfüllen können, mit allen notwendigen Mitteln.

Cyber, Migration, Demografie, Klimawandel, Gefahr überall! Wie schafft man es, eine Gesellschaft für solche Bedrohungen zu ­sensibilisieren, ohne dass sie vor Angst gelähmt wird?

Wenn der Diskurs von allen Verantwortlichen nicht als Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen missbraucht wird, dann kommt es gut. Das Problem: Es gibt Momente, die von Akteuren benutzt werden, um eigene Interessen voranzutreiben. Es ist wichtig, das Gesamtinteresse und das Gesamtsystem im Auge zu behalten. Wenn ein Problem oder eine Krise kommt, gibt es meistens zwei Möglichkeiten: Bist du Teil des Problems, oder bist du Teil der Lösung? Ich hoffe sehr, dass die meisten, zumindest die Jungen, Teil der Lösung sein wollen. Jeder ist Teil des Puzzles, auch die Armee. In der Pandemie haben wir das gezeigt. Wenn die Armee und die anderen Mittel unseres Sicherheitsverbundes nicht bereit wären, dann hätten wir wirklich ein Problem. Aber die Armee ist das letzte Mittel, noch mehr in einem neutralen Staat: Wenn in der Schweiz alle mit Tränen, Blut und ohne Lösungen sind, dann gibt es meistens nur noch die Armee.

Sie haben die fehlenden Testkapazitäten angesprochen. Der Armee fehlten auch Schutzmasken. War die Schweiz schlecht vorbereitet auf die Pandemie?

In der Schweiz sind die Verantwortungen nun mal unterschiedlich verteilt: Das BAG ist verantwortlich für dieses, die Kantone machen jenes. Es gibt zwar Kontrollorgane, doch alles ist schwer zu koordinieren. Die Macht der Kantone ist genial – aber es gibt ab und zu gemeinsame Herausforderungen, für die wir vielleicht nicht immer genügend klar zentralisierte Entscheide haben. Dennoch haben wir es in der Krise geschafft, alle Akteure an einen Tisch zu holen und rasch Lösungen zu finden. In der Krise zählen rasche und pragmatische Lösungen, auch wenn sie nicht immer und nur von der verantwortlichen Person kommen. Aber nachher ist es wichtig, Bilanz zu ziehen und Erkenntnisse zu gewinnen. Ich hoffe sehr, dass wir die klare Aufteilung von Verantwortung als Lehre aus der Krise ziehen werden.

Gibt es noch etwas, das wir tun sollten, um künftig besser für Krisen gewappnet zu sein?

Wenn ein neuer Einsatz kommt für einen Pandemiefall, werden wir eine viel bessere Startkonfiguration haben, weil wir aus der Erfahrung bereits gelernt haben. Beim Militär geht es darum, Flexibilität zu gewinnen. Wir haben sehr starke hierarchische Strukturen und das bremst die Flexibilität. Vor allem aber müssen wir: Üben, üben, üben. Fehler machen – und daraus lernen, bescheiden bleiben und stolz sein auf unser System und seine Truppen.

Sie wollten dieses Jahr eigentlich einen Ironman machen. Trainieren Sie jetzt wieder dafür?

Ja, ich trainiere weiter für einen Ironman, der 2020 nicht mehr stattfindet. Aber ich mache mir eigene Wettkämpfe. Ich brauche regelmässige Herausforderungen, die mich ausserhalb meiner Komfortzone bringen, um meine Resilienz zu verbessern. Letztes Wochenende habe ich mit meinem Velo die Tour du Mont-Blanc gemacht: 380 Kilometer, 8700 Höhenmeter, einmal um den gesamten Mont-Blanc.

An einem Wochenende?

In einem Tag.

Verlassen wir uns nicht nur auf den Staat

Um uns auf künftige Schocks vorzubereiten, müssen wir die kollektive durch individuelle Resilienz stärken. Nicht an Infrastruktur, sondern an klarem Management und Verantwortung mangelte es in der Coronakrise.

 

Wie gut haben die Schweiz und andere Länder die Covid-19-Pandemie in den Griff bekommen? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn wir können nicht mit Sicherheit sagen, wie es uns unter anderen Szenarien ergangen wäre. Und doch kann uns eine umfassende Analyse Anhaltspunkte geben, wie wir uns besser auf zukünftige Krisen vorbereiten und mit Herausforderungen umgehen können, die sich hinter der vermeintlichen «Normalität» verbergen, in der wir uns derzeit befinden.

Das jeweilige Versagen oder der Erfolg staatlicher Pandemiebekämpfungsmassnahmen soll dabei anhand von zwei Messgrössen beurteilt werden: der Zahl der Toten (im Verhältnis zur Bevölkerung) einerseits und der wirtschaftlichen und sozialen Kosten andererseits. Was diese Kriterien betrifft, zeichnen sich in ausgewählten europäischen Staaten sowie den USA und Südkorea zwei Trends ab, und die untersuchten Länder lassen sich darauf aufbauend in drei Gruppen unterteilen: gut, okay und schlecht (Abbildung).

Die in die letztere Gruppe fallenden vier grossen europäischen Volkswirtschaften müssen dringend analysieren, was sie falsch gemacht haben.

Die Schweiz fällt zwischen die Gruppen okay und gut, da sie bis anhin eine gute Wirtschaftsleistung beibehalten konnte, in den pandemiebezogenen Todesfällen pro Million Einwohner aber weniger gut abschneidet. Ein Grund dafür könnte die Nähe zu ­Italien und Frankreich sein, in denen die grossen Ausbrüche in Europa ihren Ursprung hatten. Die Grenzen hätten (wie in Österreich geschehen) früher geschlossen werden können.

Eine der grössten Fragen ist die nach der Rolle des Lockdowns für diesen Erfolg. Ausgangsbeschränkungen sind eine mittelalterliche Massnahme und verantwortlich für die hohen wirtschaft­lichen und sozialen Kosten, die viele Länder erst noch zu spüren bekommen werden. Es gibt Belege dafür, dass die Infektionsraten (R0) bereits vor der Verhängung der Ausgangssperre signifikant gefallen waren, in einigen Schweizer Regionen sogar unter 1, weil die Menschen Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernommen hatten und andere Massnahmen Wirkung zeigten. Unsere Untersuchungen zeigen, dass Variationen bei der Strenge der Ausgangsbeschränkungen viel geringere Auswirkungen auf die vorläufige Bilanz hatten als bislang angenommen. Eine Verschärfung der Beschränkungen vom Niveau Schwedens auf das von Frankreich rettet demnach etwa 50 bis 100 Menschenleben pro Million Einwohner. Daher sind Behauptungen, der Lockdown habe hunderttausende Menschenleben gerettet, möglicherweise unzutreffend. In der Gruppe mit schlechter Bilanz hat der lange Lockdown dagegen mit Sicherheit grosse ökonomische und so­ziale Kosten verursacht, die von den hunderten Millionen ihrer Einwohner noch viele Jahre lang getragen werden müssen. Arbeitslosigkeit und Immobilienpfändungen im Zuge von Kreditausfällen werden diese Länder unweigerlich hart treffen. So befanden sich zum Beispiel in Grossbritannien Mitte August noch 9,5 Millionen Beschäftigte im staatlich bezuschussten Zwangsurlaub, und eine Umkehr des Trends ist nicht in Sicht. Wird diese Situation nicht bald korrigiert und eine schnelle Rückkehr zur Vollproduktion eingeleitet, könnten Millionen dieser Arbeitsplätze für immer verschwinden.

Es gibt drei Schlüsselelemente, mit denen westliche Länder die Epidemie ohne Ausgangssperre in Schach gehalten haben:
1) eine gesunde und normalgewichtige Bevölkerung – starke Immunsysteme und niedrige Adipositasraten sind ein grosser Vorteil –, 2) gutes Sozialverhalten und Gesetzestreue sowie 3) effektiver Schutz von Risikogruppen, insbesondere sehr betagten Menschen. Der zivilisierte Hintergrund der Schweizer Gesellschaft und Bevölkerung war bei der Bekämpfung des Virus von grosser Bedeutung und sorgte dafür, dass die Menschen sich ihm gegenüber widerstandsfähiger zeigten und seine Ausbreitung einzudämmen vermochten. Ähnliches liess sich auch in Dänemark und Österreich beobachten.

Falsche Sicherheit

SARS-CoV-2 ist ein sehr ungewöhnliches Virus, das zu einer sehr ungewöhnlichen Krankheit, Covid-19, führt. Auch wenn es gemeinhin als hochinfektiös gilt, gibt es immer mehr medizinische Anhaltspunkte dafür, dass breite Bevölkerungsschichten dank T-Zellen im Blut eine natürliche Immunität gegenüber schwacher Virusexposition aufweisen, die das an unseren Gewebezellen haftende Virus blockiert. Die Stärke dieser Immunität verändert sich im Alter, was erklären könnte, weshalb Kinder im wesentlichen immun gegen die Krankheit sind und sehr alte Menschen die grösste Risikogruppe darstellen.

Dies wirft sehr heikle, aber grundlegende ethische Fragen auf. Zum einen müssen wir uns fragen, wie ethisch es ist, moderne Technologie dazu einzusetzen, menschliches Leben für einzelne weit über die biologischen Grenzen hinaus zu verlängern, insbesondere wenn deren Lebensqualität erheblich eingeschränkt ist. Zum anderen müssen wir uns angesichts der potentiell gigantischen Kosten von Notfallmassnahmen der Zentralbanken und Regierungen, die ein falsches Gefühl der wirtschaftlichen Sicherheit vermitteln und deren volle Auswirkungen wir erst noch spüren werden, fragen, wie gerechtfertigt der Lockdown war. Mit Kosten meinen wir nicht nur solche finanzieller Natur, sondern auch die gesundheitlichen Auswirkungen und Todesfälle durch unbehandelte Krankheiten, die Folgen ausbleibender Ausbildung, die seelischen Traumata und die durch den Unterbruch von Lieferketten gefährdeten Menschenleben.

Eine Analyse der Mortalität in der Schweiz von Januar bis Juni 2020 zeigt überraschenderweise eine nur sehr geringe Übersterblichkeit. Im Januar und Februar lagen die Todesfälle unterhalb des 5-Jahres-Mittels, was auf eine milde Grippesaison zurückzuführen sein könnte. Dasselbe gilt für Mai und Juni. Es scheint so, als hätten sich die planmässigen Sterbefälle im ersten Halbjahr auf die Monate März und April konzentriert, was den Anschein einer Katastrophe erweckt. Natürlich ist es wünschenswert, Covid- und Grippetote zu vermeiden. Kaum jemand aber hat in den vergangenen Jahren so strenge Massnahmen wie einen Lockdown empfohlen, um die Zahl der Grippetoten zu reduzieren.

Während die Schweiz bisher sehr gut durch die Krise gekommen ist, lässt sich das von den grossen europäischen Volkswirtschaften Frankreich, Italien, Spanien und Grossbritannien nicht behaupten. Die grossen Volkswirtschaften dieser Länder konnten nur durch millionenschwere finanzielle Zuwendungen für die Bevölkerung aufgefangen werden. So haben sich riesige Schuldenberge aufgetürmt. Die Praxis aller westlichen Staaten, den «vor­übergehend» Arbeitslosen grosszügige Unterstützungsleistungen zu gewähren, hat dazu geführt, dass in dieser Zeit nach der gesundheitlichen Krise ein Gefühl von Normalität vorherrscht. Am Zürcher Seeufer ist es so voll wie jedes Jahr. Schweizer Touristen haben chinesische und amerikanische abgelöst. Zwar ist die Schweiz besser als andere westeuropäische Staaten, vielleicht sogar europaweit am besten gerüstet, um die derzeitige Rezession zu überstehen. Sie könnte sich aber als Insel in einem Meer von grossen Nationen wiederfinden, die in Bankrotte und Unruhen abzugleiten drohen.

Denn die Liste sozialer Missstände und bürgerrechtlicher Einschränkungen ist lang. Die Gefahr ist gross, dass viele Entwicklungsländer, die ohnehin am Rand des Untergangs standen, nun endgültig im Chaos versinken. Afrika zum Beispiel, chronisch abhängig von Nahrungsmittelimporten aus Europa, könnte Hungersnöte biblischen Ausmasses erleiden, die es – wenn überhaupt – seit Hunderten von Jahren nicht mehr gegeben hat. Die UNO warnt vor einem Massensterben mit hunderttausenden Toten pro Tag. Hier geht es um junge, vitale Menschen, nicht um solche, die in einem westlichen Pflegeheim bereits dem Tod nahe waren. Ist es in moralischer Hinsicht nicht verwerflich, für das Leben einiger Senioren im Westen, deren Ableben bereits absehbar ist, Millionen junger Leben in Afrika zu opfern?

Hier vor unserer Haustür müssen wir uns fragen, ob das Bankensystem sich gegenüber den bereits stark steigenden Schuldenabschreibungen als robust genug erweisen wird. Und wie widerstandsfähig werden sich EU und Euro gegenüber dem drohenden Kollaps grosser Volkswirtschaften wie Spanien und Italien zeigen? Ist Deutschland reich genug, den ganzen Kontinent zu retten?

Heute mag in der Schweiz der Anschein der Normalität herrschen, aber diese Normalität kann trügerisch sein, beruht sie doch auf kostenlosem Geld, das an die vielen Arbeitslosen ausgeschüttet wird, vor allem in den Nachbarländern. Wird der Geldhahn zugedreht, könnte das Chaos ausbrechen. Politiker und Entscheidungsträger täten gut daran, die Schwere ihrer begangenen Fehler einzugestehen.

Keine Überraschung

Beim nächsten Notstand gilt es auf bestehende Pläne zurückzugreifen. Diese Pandemie war keine Überraschung: Das Szenario wurde im WEF jedes Jahr als eines der grössten Risiken eingestuft und stand in den Erwägungen von Wissenschaftern und internationalen Gesundheitsorganisationen ganz oben. Der im Jahr 2018 verabschiedete, detaillierte Pandemieplan der Schweiz gibt klare Richtlinien vor und rät insbesondere von einem Lockdown ab, wie er nun verhängt wurde. Die inkohärenten Reaktionen der verschiedenen Regionen der Schweiz und die durch unausgegorene Modelle sowie sensationslüsterne Medien und soziale Netzwerke verstärkte Angst führten zu suboptimalen Gegenmassnahmen. Wir brauchen keine besseren Pläne, vielmehr müssen Entscheidungs- und Befehlsketten darauf vorbereitet werden, bestehende Pläne richtig umzusetzen. Wir haben das Chaos unzusammenhängender und widersprüchlicher Entscheidungen in westlichen Staaten im Frühling mit eigenen Augen gesehen. Das Haupt­problem war nicht, dass Risiken übersehen oder falsch beurteilt worden wären. Vielmehr wurden die Probleme hervorgerufen durch Political Correctness, rührselige Sentimentalität, schlechte Gesundheit, Abhängigkeitskultur, Diszi­plinlosigkeit, Egoismus, eine Anspruchshaltung, die auf Rechte pocht, ohne die dazugehörigen Pflichten wahrnehmen zu wollen, schwarzmalerische Medien. Das alles führt zu Mängeln bei Regierungsarbeit und Organisationsmanagement.

Viele argumentieren, der Lockdown sei notwendig gewesen, da die meisten Länder nicht über eine ausreichende Infrastruktur verfügten. Wir halten dagegen, dass die Mängel nicht so sehr in der Infrastruktur lagen, sondern in intransparenten, unklaren Anweisungen, wie die bestehenden, höchst angemessenen Pandemiepläne zu befolgen und umzusetzen waren. Schweizer Epidemiologen haben bereits Mitte Februar eindringlich gewarnt, dass eine klare Kommunikationsstrategie und rigoroses Contact-Tracing notwendig seien, um einen landesweiten Lockdown zu vermeiden. Diese und ähnliche Warnungen wurden allerdings in vielen Ländern ignoriert und Menschen wie verantwortungslose Kinder behandelt. Nicht an Infrastruktur, sondern an klarem Management, Verantwortung und Vertrauen mangelte es.

Das können wir besser

Anstatt sich untereinander abzusprechen, setzte jedes Land lieber seinen eigenen Katalog nichtmedizinischer Massnahmen um. Aus unserer Analyse ergibt sich eine grosse Kluft bei der Förderung und Entwicklung individueller Resilienz als Ergänzung zu kollektiven Massnahmen, die sich je nach Traditionen, Kultur, politischer Verfassung sowie Ressourcen in den einzelnen Ländern stark unterschieden. Wir sollten flächendeckende Informationskampagnen entwickeln, wie wir unsere Immunsysteme stärken können. Diese sollten sich nicht auf den laufenden Kampf gegen die Covid-19-Pandemie beschränken, sondern einen systematischen und dauernden Aufklärungsprozess der Öffentlichkeit in Gang setzen, wie jeder von uns sein wichtigstes Kapital, die Gesundheit, schützen kann. Unser Vorschlag lautet, diese Kampa­gnen parallel zur Bekämpfung von Umweltverschmutzung und zum Streben nach Nachhaltigkeit zu entwickeln, die durch unser modernes ökonomisches und gesellschaftliches Entwicklungsmodell gefährdet worden ist. Der künftige Kurs muss ernsthafte Aufklärung zu richtiger Ernährung und körperlicher Betätigung beinhalten und dabei die Eigenverantwortung betonen.

Um die Widerstandskraft des einzelnen zu stärken, muss die Gesellschaft die Verantwortung jedes Individuums stärken und fördern. Genau dies läuft den Trends in westlichen Demokratien und anderen politischen Systemen entgegen, wo Menschen vermehrt vom Staat erwarten, dass er sich um sie kümmert, und ihm die Schuld geben, wenn etwas nicht richtig funktioniert. Die Staaten sollten breitenwirksame Aufklärungs- und Schulungsprogramme ausarbeiten und in diese investieren, um das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die oben erwähnten, wissenschaftlich anerkannten Tatsachen zu wecken und die Menschen aus ihrer Haltung der Gleichgültigkeit oder Trägheit herauszuholen. Nur wenn sie individuelle Verantwortung übernehmen müssen, sind Menschen in der Lage, sich wirklich um ihre langfristige Gesundheit und Sicherheit zu kümmern. Nur dann werden sie zu kritischem Denken und Aufgeschlossenheit gegenüber Fakten sowie anderen Ansichten ermuntert und sind in der Lage, diese in einem kon­struktiven Fact-Checking-Verfahren zu hinterfragen. Dies sind grundlegende Faktoren, um langfristige individuelle Resilienz auszubilden, die wiederum zu einer grösseren Resilienz der Gesamtbevölkerung führt. Mit ihrer Kultur der direkten Demokratie, die informierte Entscheidungen und das eigenverantwortliche Handeln der Bürger fördert, hat die Schweiz dies im Vergleich zu anderen Ländern wohl recht gut gehandhabt. Ein Grund zur Selbstzufriedenheit ist das aber nicht. Wir können es noch besser.

Tobias Straumann, fotografiert von Ruedi Keller.

«Die Depressionsgefahr
ist vorbei»

Die Wirtschaft ist bisher besser durch die Krise gekommen als befürchtet, auch dank den staatlichen Massnahmen. Verschuldung und ultralockere Geldpolitik könnten aber neue Verwerfungen auslösen.

Das Coronavirus hat Risse verursacht im Netz der globalisierten Weltwirtschaft. Gut eingespielte Lieferketten wurden unterbrochen, Lieferungen verzögert. Wie gravierend sind die Einschnitte?

Weniger gravierend, als man noch im Frühling gemeint hat. Es erinnert etwas an die Finanzkrise 2008/09, in der es ebenfalls nicht nur einen Nachfrageschock gab, sondern auch Angebotspro­bleme. Letztere haben sich jedoch, auch dieses Mal, relativ schnell wieder aufgelöst. Global aufgestellte Unternehmen sind an solche komplexen Herausforderungen gewohnt und in der Lage, sie zu meistern. Es kann auch künftig wieder zu Einschränkungen kommen, aber ich glaube nicht, dass sie zu Supply-Chain-Problemen führen werden. Es wird keinen zweiten Lockdown geben, davon bin ich überzeugt.

Wie schätzen Sie die bisherigen Regierungsmassnahmen rückblickend ein?

Die Schweizer Regierung hat wohl etwas zu spät gehandelt, aber das ist ein wohlfeiler Vorwurf. Dass man zum Instrument des Lockdowns gegriffen hat, fand ich richtig. Dass man nicht frühzeitig einen Exitplan geschmiedet hat, war dagegen ein Fehler – deshalb dauerte der Lockdown zu lange und wurde zunächst zu zögerlich gelockert. Die Ladenlokale etwa hätten wir problemlos früher wieder öffnen können.

Im Vergleich zum benachbarten Ausland waren die Massnahmen der Schweiz vergleichsweise zurückhaltend, man setzte schon auch auf ­Eigenverantwortung.

Ich bin sehr froh, dass keine radikalen Lockdown-Massnahmen wie in Italien oder Frankreich eingeführt worden sind. Ich weiss nicht, ob solche Lösungen in Betracht gezogen worden sind, fände das aber bedenklich. Auch seitens der Medien kamen viele radikale, aus meiner Sicht überzogene Forderungen.

Wäre man der Mehrheitsmeinung der Journalisten gefolgt, hätte es einen Lockdown wie in Italien gegeben. Aber ohne Lockdown, mit Lockdown – es gab massive Einschränkungen, die einzelne Unternehmen an den Rand des Ruins trieben. Wie sehr darf eine Regierung eigentlich eingreifen?

Die Maxime muss natürlich «So wenig wie möglich» lauten. Die Regierung musste aber handeln, und sie hat dabei zu einer «halbliberalen» Lösung gefunden. Ich habe nach wie vor Verständnis dafür, dass man gesagt hat, jetzt müsse man ganz zumachen. Auch aus psychologischer Sicht: So haben die Leute den Ernst der Lage realisiert.

Waren die raschen Corona-Gratiskredite aus liberaler Sicht eine gute Idee? Angeschmiert waren doch alle, die Verantwortung für ihre Firma getragen haben und für den Ernstfall privat vorgesorgt hatten. Ihre kerngesunden Firmen zahlen nun weiterhin Zins für aufgenommene Kredite, während nun selbst marode, hoffnungslose Firmen in den Genuss von Krediten ohne Zins gekommen sind.

Jede Massnahme hat ihre Nachteile, aber es ist mir viel lieber, wenn der Staat zinslose Darlehen garantiert als Subventionen ausschüttet. Es gab ja durchaus die Forderung, dass der Staat den von ihm verursachten Schaden voll entschädigen müsse. Ich fand es auch richtig, die Kurzarbeitsanträge grosszügig zu behandeln und die Selbständigen zu unterstützen. Wichtig ist es nun, während des Spiels die Regeln nicht zu ändern – schon gar nicht rückwirkend. Die Kurzarbeit darf nicht an Bedingungen geknüpft ­werden; es ist eine Versicherung, in die man eingezahlt hat und auf die man Anspruch hat. Auch bei den Mieten sollte die Vertragsfreiheit nicht tangiert werden.

«Ja, es wird gut kommen. Die Wirtschaft wird nächstes oder spätestens übernächstes Jahr wieder das Vorkrisenniveau erreicht haben.»

 

Einige der Kredite wurden an Zombiefirmen vergeben. Sie werden niemals zurückbezahlt werden.

Wir erlebten im Frühling eine systembedrohende Krise, und in ­einer solchen muss man rasch, unkompliziert und sehr freigiebig handeln – genau das hat man gemacht. Zur Erinnerung: Es ging nicht darum, Konkurse zu verhindern, sondern darum, dass die Konkurse nicht alle zugleich stattfinden und einen Dominoeffekt auslösen. Dass diese Massnahmen in grossem Stil Strukturverzerrungen verursachen, muss man nicht befürchten. Strenge Auf­lagen verdient haben dagegen die Kredite an Grossfirmen wie etwa die Swiss.

Wir stehen vor einem potentiell heissen Herbst: US-amerikanische Wahlen zwischen zwei alten Männern, deren Gesundheit angezweifelt werden muss. Börsenmärkte, die nur von Ankündigungen von noch tieferen Zinsen und noch billigerem Geld nach oben getrieben werden. Dazu eine Realwirtschaft mit den grössten Einbrüchen seit den 1930er Jahren. Kann das überhaupt irgendwie gut kommen?

Ja, es wird gut kommen. Die Wirtschaft wird nächstes oder spätestens übernächstes Jahr wieder das Vorkrisenniveau erreicht haben. Auf jede Krise folgt eine Erholung. Ich sehe nicht, weshalb dieser Mechanismus diesmal nicht funktionieren soll.

Müssten bei einer Rezession nicht auch die Börsenkurse etwas runterkommen?

Nein. Börsenkurse nehmen die Erwartung des Aufschwungs vorneweg. Die Erwartungen haben bereits im März gedreht, als die Staaten zeigten, dass sie es sehr ernst nehmen mit Fiskalpaketen und Zentralbankgeld. Beunruhigend ist hingegen, dass getroffene Notmassnahmen nicht mehr rückgängig gemacht werden, wenn die akute Phase der Finanzkrise vorbei ist. Nach der letzten Finanzkrise machte lediglich die Fed einen halbherzigen Versuch, die Zinsen anzuheben. Die EZB führte gar Negativzinsen ein. Die Feuerwehr, die man gerufen hat, um den Krisenbrand zu löschen, ist geblieben. Man hat sie nie mehr nach Hause geschickt.

Man will das Negative einfach nicht mehr zulassen – nicht mal eine Rezession soll es geben dürfen. Sind wir zu einer Gesellschaft geworden, die Risiken, zu denen am Ende auch der Tod gehört, einfach nicht mehr aushält?

In der Schweiz hatten wir seit 2003 keine längere Rezession mehr, die im Bewusstsein haften geblieben wäre – der Konjunktureinbruch 2009 hat den Exportsektor zwar stark getroffen, aber gesamtwirtschaftlich nur kurz gedauert. Diese lange Abwesenheit von Wirtschaftskrisen hat dazu geführt, dass manche glauben, Rezessionen gebe es nicht mehr, und wenn es zu Problemen komme, könne man sie einfach mit wirtschaftspolitischen Massnahmen wegzaubern. Wir können aber nicht verhindern, dass es immer wieder schmerzhafte Bereinigungsphasen gibt. Wenn diese Erfahrung verdrängt wird, fehlt auch die Kraft, sich wieder daraus emporzuarbeiten.

Besteht mit der Einrichtung dieser Dauerfeuerwehr nicht die Gefahr, dass es irgendwann zu einem ganz grossen Knall kommt?

Den USA traue ich eine Erneuerung zu, sie haben es nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft, ihre Schulden zu reduzieren. Zudem haben sie nach wie vor den Vorteil der eigenen Währung, des US-Dollars, der zugleich die Leitwährung der Welt ist. Bei den Europäern dagegen bin ich sehr skeptisch. Ihre Währungsunion funktioniert nicht, und sie haben keinen Spielraum mehr, gegenzusteuern. Jeder Versuch, die Zinsen anzuheben, würde in einem Konkurs südeuropäischer Länder enden. Wenn keine Optionen mehr bleiben, ist das japanische Szenario sehr wahrscheinlich.

Wie sieht das japanische Szenario aus?

Die Zentralbank behält den Leitzins immer bei null und versucht auch die langfristigen Zinsen möglichst tief zu halten, indem sie in grossem Stil Staatsanleihen und Unternehmensanleihen kauft. Auf diese Weise kann sie verhindern, dass die steigenden Schulden kurzfristig zum Bankrott führen. Bei einer solchen Finanzrepression wird es eine Bereinigung erst dann geben, wenn die Inflation ansteigt, weil dann die Zentralbanken ihre Nullzinspolitik beenden müssen. Aber es kann lange dauern, bis es so weit ist. Erinnern wir uns: Die Finanzrepression nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte 35 Jahre an.

«Die Feuerwehr, die man gerufen hat, um den Krisenbrand zu löschen,

ist geblieben. Man hat sie nie mehr nach Hause geschickt.»

Hohe Inflationsraten hatten europäische Länder zuletzt in den 1970er Jahren.

Ja, Grossbritannien oder Italien hatten damals Inflationsraten von rund 20 Prozent, die USA über 10 Prozent. Es musste gehandelt werden. Anfangs der 1980er Jahre hat die Fed schliesslich die Zinsen erhöht, was eine heftige Rezession verursachte, aber ohne kurzfristigen Schaden war eine Reduktion der Inflation nicht möglich. Der damalige Zinsschock hat auch die lateinamerikanische und osteuropäische Schuldenkrise ausgelöst.

Wie sehen Sie die Gefahr einer Hyperinflation?

Diese Gefahr sehe ich weniger. Eine Hyperinflation gibt es nur, wenn Staaten Liquiditätsprobleme haben und laufende Ausgaben nicht finanzieren können – wenn also die Regierung die eigene Zentralbank dazu zwingt, direkt für den Staatskonsum Noten zu drucken. In den USA kann ich mir dieses Szenario nicht vorstellen, in Südeuropa dagegen schon: falls zum Beispiel der Austritt aus dem Euro und die Wiedereinführung einer eigenen Währung chaotisch ablaufen. Damit eine Hyperinflation zustande kommt, muss die Lage aber auch politisch dramatisch sein, eine Bürgerkriegssituation etwa oder ungelöste aussenpolitische Situationen wie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. In aller Regel sind es Diktaturen, die sich nur noch am Leben erhalten können, wenn sie dadurch Brot und Spiele finanzieren. Einfach nur Geld drucken erzeugt keine Hyperinflation. EZB und Fed drucken das Geld auch nicht für den Staatskonsum, sondern um das Bankensystem liquid zu halten.

Aber die Massnahmen von EZB und Fed sind schon extrem, etwa das Aufkaufen von Schrottpapieren – gab es das früher bereits?

Neu ist nur das Ausmass. Dass Zentralbanken offen Marktgeschäfte machen, ist eine uralte Tradition. Das meiste Geld davon landet über das Bankensystem wieder bei der Zentralbank. Darum gibt es keine Inflation.

Zu Beginn des Coronaschocks gab es Stimmen, nun zeichne sich das Ende der international stark vernetzten Just-in-Time-Globalisierung, wie sie bis vor kurzem funktioniert hat, ab.

Es gibt viele Personen aus den unterschiedlichsten Lagern, die fordern, man müsse die Globalisierung überdenken – die Auseinandersetzung mit China, der Brexit, auch die Wahl von Trump sind Vorboten eines Wandels. Auch ich glaube, dass es Korrekturen braucht. Jedes Land muss sich immer wieder von neuem überlegen, in welchen Bereichen eine Öffnung Sinn macht, und in welchen nicht. Der Überschwang der 1990er Jahre, als man behauptet hat, Öffnung sei immer und überall gut, ist heute vorbei.

Eine Alternative zum globalen Freihandel, die nicht zu einem Wohlstandseinbruch führt, gibt es ja nicht.

Das würde ich auch sagen. Beim Güterhandel ist ein liberales ­System eindeutig zu bevorzugen, aber selbst hier braucht es ­gewisse Bremsen, wenn man die politische Unterstützung nicht verlieren will. Zunehmend schwierig wird der Handel mit China, denn das Land verletzt systematisch die Regeln, die ein liberales System am Leben erhalten. Ausserdem ist das Klumpenrisiko gross, wenn man sich zu sehr auf China verlässt. Die Frage nach alternativen Standorten muss gestellt werden. Unverzichtbar ist China nicht, aber das Land hat es geschafft, sehr viele Vorteile zu kombinieren: Es ist in Besitz aller Rohstoffe, produziert relativ ­billig, verfügt über gut ausgebildete Leute und eine funktionierende Infrastruktur.

Kleines Planspiel: Was, wenn China sich plötzlich aus allen globalen, freien Märkten zurückzieht und nur noch den Heimmarkt beliefert und/oder Länder, die sich Chinas Vorgaben, etwa bezüglich Überwachung und Kontrolle, fügen? Was macht dann der Westen?

Dann gäbe es eine Abkopplung wie im Kalten Krieg, das hat ja auch funktioniert. Man wird dann neue Kapazitäten an anderen Standorten aufbauen müssen. Würde China einen eigenen Block bilden wollen, wäre er vermutlich nicht sehr gross, denn die meisten Länder dürften den Handel mit dem freien Westen demjenigen mit dem repressiven China vorziehen. Unabhängig davon wird der Westen aufpassen müssen, dass er künftig überhaupt noch eine eigene Industrie hat. Ein gutes Ergebnis der Krise wäre es, wenn die Lieferanten geografisch diversifizierter werden und so das China-Klumpen-Risiko gebannt wird.

Über die Initiative «Belt and Road» kann China Druck ausüben, um Supply-Chains aufrechtzuerhalten, und sagen: «Entweder arbeitet ihr mit uns, oder wir sind weg.»

Aus meiner Sicht wird «Belt and Road» völlig überschätzt, aber ich rede hier als aussenstehender Beobachter. Der Landweg ist ja nicht nur teurer als der Schiffsweg, sondern extrem verwundbar. Wenn Terrorgruppen die Gleise einige Male in die Luft sprengen, ist dieser Weg bald zu Ende. Dass man ein Imperium mit Eisenbahnen baut, ist eine Idee des 19. Jahrhunderts. Der Schiffsverkehr ist entscheidend, und hierfür liegt China geostrategisch ex­trem ungünstig. Deshalb war China auch nie eine Seemacht.

In Ihrem Buch «1931» haben Sie die Auswirkungen des finanziellen Kollapses von Deutschland in den 1930er Jahren untersucht. Kann es auch heute in eine Depression gehen?

Die Depressionsgefahr ist vorbei. Eine Wiederholung von «1931» müssen wir nicht befürchten. Aber das heisst nicht, dass die bereits eingetretene Wirtschaftskrise harmlos ist.

Was sollte die Politik keinesfalls machen?

Solange die Wirtschaftskrise am Laufen ist, sollten die Zentralbanken die Zinsen tief halten und die Staaten hohe Staatsdefizite zulassen. Das Drama von «1931» bestand darin, dass Deutschland mitten in einer schweren Rezession sparen und hohe Zinsen bezahlen musste. Das hat die Krise massiv verschärft und zum Kollaps des Finanz- und Währungssystems geführt – mit all den bekannten verhängnisvollen Folgen für die Politik.

Was geschieht mit dem Franken, wenn er nicht nur in Ansätzen, sondern tatsächlich zu einer weltweiten Fluchtwährung wird?

Dann werden wir möglicherweise Kapitalverkehrskontrollen einführen müssen. Denn wenn alle anfangen, Franken zu kaufen, gibt es eine Aufwertung, die mit Devisenkäufen nicht mehr zu kontrollieren ist. Diese Situation hat es in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte allerdings noch nie gegeben. Der Schweizer Franken war nie die einzige Fluchtwährung in schwierigen Zeiten.

Stehen wir vor einem Epochenwechsel? Geht gerade das Zeitalter des inflationären ­Wachstums zu Ende und ein neues, deflationäres Zeitalter, getrieben durch technologische Innovation, beginnt?

Wir befinden uns seit den 1990er Jahren in einem deflationären Zeitalter, weil China seit dieser Zeit durch den Import von westlicher Technologie in Kombination mit tiefen Löhnen enorme Produktivitätsfortschritte erzielen konnte. Irgendeinmal wird diese Zeit vorbeigehen. Erste Anzeichen für eine Wende sehen wir jetzt schon: China wächst nicht mehr so schnell, und die Löhne sind in letzter Zeit deutlich gestiegen. Ich erwarte also eher die Rückkehr der Inflation als den Beginn einer neuen Deflationsphase.

Das zweitgrösste Risikoszenario ist Realität geworden

Auf dem Papier waren die Schweizer Behörden auf eine Pandemie vorbereitet. Doch die Coronakrise offenbarte Mängel, etwa bei der Vorratshaltung von Schutzmaterial oder bei der Koordination zwischen Bund und Kantonen.

 

Während die Covid-19-Pandemie die Schweiz in Atem hielt, wurde teilweise die Frage laut, wie gut die zuständigen Behörden in der Schweiz eigentlich auf ein derartiges Ereignis vor­bereitet waren. Anlass dazu gaben nicht nur die offensichtlichen Engpässe an Schutzmaterial und Testkapazitäten. Auch die Fragen, welche Massnahmen zur Krisenbewältigung sinnvoll seien, ob der Bund oder die Kantone diese anordnen sollen und wer wie weit gehen darf, standen wiederholt im Raum. Hier zeigten sich die Auswirkungen systemischer Rahmenbedingungen der Krisenbewältigung: In der Schweiz sind das Staatsverständnis, die politische Kultur und damit auch das Gesundheitswesen stark von Föderalismus, Subsidiarität und einer hohen Bedeutung der Eigenverantwortung geprägt. Diese Eigenheiten bringen Zuständigkeitsfragen mit sich, begünstigen Verantwortungsdiffusion, erschweren eine zentrale Führung und die rasche Entscheidungsfindung. Es besteht ein Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach situationsspezifischem, eigenverantwortlichem Handeln und der Erwartung an ein koordiniertes, national einheitliches Vorgehen unter klarer Führung.

Vorbereitung auf hypothetischen Fall

Der Möglichkeit des Auftretens einer Pandemie waren sich die ­Behörden bewusst: Im Risikobericht des Bundesamts für Bevölkerungsschutz von 2015 figurierte eine Pandemie als zweitgrösstes Risikoszenario1 nach einer Strommangellage. Als gesamtschweizerische strategische Grundlage zum Umgang mit einem solchen Ereignis verfügt der Bund seit 2004 über einen Influenza-Pandemieplan, der mehrfach überarbeitet wurde – letztmals 2018. Das BAG verfügt zudem über ein internes Krisenhandbuch zur Re­organisation und Sicherstellung des internen Betriebs. Die Strategien und Massnahmen im Pandemiefall sowie die Zuständig­keiten dafür waren somit grundsätzlich vorbereitet.

Die zuständigen Behörden und Akteure konnten in den letzten rund 20 Jahren mehrfach Erfahrungen mit potenziellen Pandemiesituationen sammeln. Diese wurden jeweils nachträglich aufgearbeitet, unter anderem mit wissenschaftlichen Evaluationsstudien, und führten zu Anpassungen der strategischen und rechtlichen Grundlagen. So revidierte der Bund per 2016 das Epidemiengesetz (EpG), welches die Zuständigkeiten und die Massnahmen zur Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten definiert. Diese Revision beinhaltete unter anderem eine klarere gesetzliche Kompetenz- und Aufgabenzuweisung zwischen Bund und Kantonen bei der Krisenbewältigung. Dazu wurde das neue Konzept der besonderen Lage eingeführt: Normalerweise sind die Kantone dafür zuständig, Massnahmen zur Verhütung und ­Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten anzuordnen. Neu erhielt der Bundesrat die Kompetenz, in einer besonderen Lage ­gewisse dieser Massnahmen nach Anhörung der Kantone selbst anzuordnen. Wie bisher kann der Bundesrat zudem in einer ausserordentlichen Lage gestützt auf Notrecht die notwendigen Massnahmen direkt anordnen. Dies sollte die Führung in besonderen oder ausserordentlichen Lagen erleichtern, ein einheitliches Vorgehen ermöglichen und die Kantone entlasten.

Im Hinblick auf eine allfällige Anwendung der neuen EpG-Bestimmungen liess das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 2018 eine Studie erstellen. Diese untersuchte, welche Herausforderungen Bund und Kantone in einem konkreten Ereignisfall erwarteten und ob das BAG über die nötigen Fähigkeiten und fachliche Expertise verfügt, um die allfälligen neuen Aufgaben im Krisenfall übernehmen zu können. Die zuständigen Behörden auf Bundes- und Kantonsebene bereiteten sich somit auf konzeptioneller Ebene durchaus auf den Umgang mit einer Pandemie vor. Sie versuchten, Lücken und Klärungsbedarf zu identifizieren und gemeinsam ­anzugehen, um im Ereignisfall gerüstet zu sein. Eine Schwierigkeit dabei war allerdings, dass ein solcher Fall noch ziemlich hypothetisch schien und niemand wissen konnte, welche konkreten ­Fragen und Herausforderungen sich stellen würden.

Bewährungsprobe für das neue Krisendispositiv

Wie gut war die Schweiz nun auf Covid-19 vorbereitet? Wie gut haben sich diese Vorbereitungen und das neue Krisendispositiv im Fall von Covid-19 bewährt? Der Katalog der möglichen gesundheitspolitischen Massnahmen (Hygiene- und Abstandsregeln, Testen, Contact Tracing, Veranstaltungsverbote, Schulschliessungen, Maskenpflicht etc.) und die Zuständigkeiten dafür sind im EpG und im Pandemieplan Influenza vordefiniert. Im wesentlichen ging es somit darum, aufgrund der Lagebeurteilung im richtigen Moment die geeigneten Massnahmen anzuordnen und umzusetzen. Eine Schwierigkeit dabei war, dass zum Zeitpunkt des Auftretens noch wenig gesichertes Wissen über das Virus vorhanden war, auf das man die zu treffenden Massnahmen hätte abstützen können. Covid-19 war deshalb ein Beispiel für «Krisenbewältigung im Blindflug». Zusätzlich galt es die Vorbereitung der Bevölkerung auf den Umgang mit einer Pandemie zu beachten. Diese muss die beschlossenen Massnahmen verstehen, mittragen und umsetzen, damit sie überhaupt wirken. Zu früh, ohne eine für die Bevölkerung erkennbare Gefährdung, Massnahmen wie Veranstaltungsverbote, Schulschliessungen oder eine Maskenpflicht anzuordnen, hätte deren Akzeptanz geschwächt.

Bereits Ende Januar setzte das BAG eine regelmässig tagende Taskforce und diverse Arbeitsgruppen ein, die u.a. im Austausch mit den Kantonsärzten Empfehlungen für Massnahmen und zur Kommunikation vorbereiteten. Auch der Bundesstab Bevölkerungsschutz wurde aktiviert. Wie gut diese Organe die Situation erfassten, bevor die ersten Fälle in der Schweiz auftraten, lässt sich von aussen schwer beurteilen. Der Übergang in eine besondere Lage lief jedoch offenbar wie in einer solchen Situation vorgesehen ab. Die Kommunikation des BAG in dieser Phase erweckte den Eindruck einer klaren Strategie gemäss den bestehenden Grundlagen, allerdings mit teilweise fehlendem Wissen über das Virus und dessen Verhalten. Hier schien das BAG nicht optimal vorbereitet. Es war sich bereits aufgrund der vorbereitenden Studie 2018 bewusst, dass ihm der Zugang zu wissenschaftlicher Fachexpertise in gewissen Bereichen fehlte. Es hatte diesen jedoch anscheinend nicht frühzeitig zu verbessern versucht. Eine wissenschaftliche Taskforce setzte der Bund erst Ende März ein.

Eine erwartbare Schwierigkeit war, dass der Bund plötzlich in Themenbereichen verbindliche und für alle Kantone gültige Entscheidungen treffen sollte, in denen er normalerweise keine Zuständigkeiten und somit auch kein Fachwissen hat – beispielsweise über die Schliessung von Schulen oder Kindertagesstätten. Dies ergibt sich aus der föderalistischen Kompetenzordnung und kann nicht als Versäumnis gesehen werden.

Eine Herausforderung der Krisenbewältigung im Föderalismus zeigte sich, als einzelne Kantone weitergehende Massnahmen wie Ausgangsverbote oder die Schliessung von Baustellen anordneten, der Bund dies jedoch zunächst nicht zuliess. Bund und Kantone mussten sich in solchen Fragen finden. Es war unklar, welchen Spielraum das neue rechtliche Dispositiv den Kantonen lässt. Diese wünschten sich weiterhin lokale Entscheidungsbefugnis und die Möglichkeit für situatives Handeln.

Relativ rasch stellte sich heraus, dass das vermeintlich gut etablierte Meldesystem zur Erfassung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten Schwächen aufweist. Die Datenübermittlung von Arztpraxen an das BAG und die Verarbeitung dieser Daten im BAG erwiesen sich als technologisch nicht auf der Höhe der Zeit und fehleranfällig. Kantonale Stellen sprangen deshalb ein und etablierten ein eigenes Monitoringsystem. Dies unterlief zwar die vorgesehenen Zuständigkeiten, zeigte aber zugleich eine Stärke föderalistischer Strukturen.

Aufgrund ihrer vergleichsweise hohen Arzt- und Spitalbettendichten war die Schweiz in bezug auf Versorgungskapazitäten sicherlich besser auf Covid-19 vorbereitet als andere Staaten. Je nach Ausbreitungsdynamik war eine Überlastung dieser Strukturen zunächst nicht völlig auszuschliessen. Die Spitäler zeigten eine grosse Anpassungsfähigkeit und waren teilweise stark gefordert, aber offenbar nie überfordert.

Abseits der gesundheitspolitischen Herausforderungen war die Schweiz grundsätzlich gut vorbereitet, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Lockdowns abzufedern. Bund und Kantone konnten hierfür auf das etablierte Instrument der Kurzarbeit setzen und dieses rasch und pragmatisch anpassen. Auch die vergleichsweise gute finanzielle Situation der öffentlichen Hand und die pragmatische Zusammenarbeit zwischen Behörden und Banken erlaubten rasches Handeln.

Lehren für die Zukunft

Bund und Kantone waren sich nicht immer einig, zeigten aber eine ausgeprägte Dialogbereitschaft und eine steile Lernkurve in der pragmatischen Anwendung der neuen Zuständigkeitsregelungen. Diese haben höchstwahrscheinlich geholfen, die Situation besser zu bewältigen, als dies vor der EpG-Revision möglich gewesen wäre. Eine fundierte Bilanz steht noch aus, aber Covid-19 hat aufgezeigt, dass weiterhin Schwachpunkte, Lücken und unklare Schnittstellen bestehen.

Die Vorratshaltung und Beschaffung von Schutzmaterial muss kritisch hinterfragt und dürfte neu organisiert werden. Das bisherige Regime, dass Gesundheitseinrichtungen und Unternehmen selbst dafür verantwortlich sind, hat sich im Ernstfall offensichtlich nicht bewährt. Auch das Überwachungs- und Meldesystem und die Organisation der Wissensbeschaffung im Austausch mit Fachkreisen dürften Gegenstand von Anpassungen sein.

Die epidemiologischen Herausforderungen im Zusammenhang mit Covid-19 werden noch länger bestehen. Es ist anzunehmen, dass der Lernprozess zwischen Bund und Kantonen weiter andauern wird und sich die Entscheidungsprozesse und Zu­sammenarbeitsformen klären und besser einspielen werden. Es scheint sinnvoll, im Hinblick auf künftige Ereignisse auch die Strukturen und Mechanismen zur Koordination zwischen den beiden Staatsebenen bei der Pandemiebekämpfung anhand der gemachten Erfahrungen weiterzuentwickeln.

Der aktuelle Stand des Irrtums

Wer «die Wissenschaft» unkritisch zur Rechtfertigung politischer Entscheide heranzieht, hat sie nicht ­verstanden. Denn wissenschaftlicher Fortschritt lebt gerade davon, Erkenntnisse in Frage zu stellen.

 

Nongqawuse war fünfzehn Jahre alt, als sie im Mai 1856 an ­einem Teich in Südafrika drei Geister sah. Das Mädchen ­erzählte, die Geister hätten ihr gesagt, dass die Toten auferstehen würden, wenn ihr Volk sein gesamtes Vieh töten würde. Es sei verhext. Auch die gesamte – ebenfalls verhexte – Ernte sollten die Xhosa vernichten. Am Tag nach der Zerstörung würden die toten Xhosa wiederauferstehen, um bei der Vertreibung der Weissen zu helfen. Die Xhosa schlachteten etwa 400 000 Tiere ihres Vieh­bestands. Doch die Toten erschienen nicht und damit auch keine gesunden Tiere. Zehntausende Xhosa verhungerten.

Junge Mädchen, die in unseren Tagen ein Volk oder gar die ganze Welt dazu veranlassen wollten, die Fundamente des Wohlstands von Grund auf zu verändern, könnten sich nicht mehr auf Geister berufen. Aufgeklärte, an der Wissenschaft orientierte moderne Menschen glauben nicht mehr an Geister. Wir glauben an Theorien, Experimente, Beobachtungen und Computermodelle.

Seit etwa 200 Jahren sind es die Wissenschaften, die den politischen Entscheidungsträgern Sprachregelungen und Deutungsanweisungen als Zugang zur «objektiven Wahrheit» bieten und ihnen den Weg in die Zukunft weisen. Wir folgen der Wissenschaft – manchmal so blind, wie die Xhosa den Anweisungen ihrer Geister gefolgt sind.

Terror der «sozialen Physik»

Die Ursprünge der wissenschaftlichen Soziologie gehen auf das 19. Jahrhundert zurück. Denker wie Henri de Saint-Simon, Auguste Comte oder auch Herbert Spencer verstanden die Gesellschaft als einen Organismus, der durch wissenschaftliche Methoden verstanden werden konnte. So wie sich die Bewegungen am Himmel und auf der Erde mit Newtons Mechanik verstehen, beschreiben und auch vorhersagen liessen, so sollten sich auch die Entwicklung und das Verhalten ganzer Gesellschaften mit Hilfe soziologischer Gesetze beschreiben und lenken lassen. Comte sprach von einer «sozialen Physik», die all dies ermöglichen sollte.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren aus diesen Anfängen zwei wissenschaftliche Ideologien entstanden, die ganze Gesellschaften ins Unglück rissen. Beide behaupteten von sich, sie könnten die Zukunft einer Gesellschaft vorhersagen. Beide beriefen sich auf die Wahrheit der Wissenschaft und deterministische Gesetze. Beide fanden viele Anhänger, die bereit waren, für ihre Theorien über Leichen zu gehen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Eugeniker davon überzeugt, dass die Natur durch menschliches Handeln aus dem Gleichgewicht geraten sei. Mit Hilfe der Selektionstheorie Darwins glaubten sie beweisen zu können, dass Gesellschaften degenerieren und am Ende aussterben werden, die es ihren minderwertigen Mitgliedern erlauben, sich fortzupflanzen. Degeneration und Entartung von Gesellschaften konnten zwar nicht empirisch belegt werden, aber das machte nichts, denn sie konnten ja dank der Selektionstheorie sicher prognostiziert werden.

«Die wissenschaftliche Wahrheit» machte es möglich, Vermögen umzuverteilen, Heiratsverbote zu verhängen, Unschuldige auszugrenzen, einzusperren, zu sterilisieren, zu ermorden. Die Tötung von «Erbkranken» wurde nicht von den Nazis erfunden, sie wurde von Wissenschaftern und Politikern propagiert, die um das Wohl der Menschheit besorgt waren, noch bevor es Nazis überhaupt gab. Im freiheitlichen, demokratischen Schweden wurde ein Gesetz, das auf dieser «Wahrheit» basierte, erst im Jahr 1976 offiziell abgeschafft. Bis zu 30 000 Menschen waren zwangssterilisiert worden, um die Zukunft der Schweden zu retten.

Die zweite Ideologie, der Kommunismus, behauptete hin­gegen, die Zukunft werde wunderbar sein. Seine Anhänger erhoben den Anspruch, mit der von Marx entdeckten wissenschaft­lichen Theorie des historischen Materialismus nicht nur die vergangene geschichtliche Entwicklung der gesamten Menschheit erklären, sondern auch die zukünftige sicher vorhersagen zu können. Wie Newton die deterministischen Bewegungsgesetze der Materie enthüllt hatte, so hatte Marx «das ökonomische ­Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft enthüllt». Empirische Befunde, dass die Theorie die Zukunft tatsächlich vorhersagen konnte oder dass es so etwas wie einen paradiesischen Gleichgewichtszustand in der Natur überhaupt geben konnte, gab es zwar nicht, aber das spielte keine Rolle. Auf der Basis der wissenschaftlichen Theorie des historischen Materialismus waren sie sich sicher, das Paradies für alle Werktätigen tatsächlich vorhersagen zu können.

Um den Weg ins naturgesetzlich vorhergesagte Paradies «abzukürzen und zu mildern», war es allerdings nötig, «der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreissen», das private Grundeigentum abzuschaffen, den Arbeitszwang einzuführen und das Eigentum aller Emigranten und Rebellen zu konfiszieren. Solche unvermeidlichen Eingriffe in die Grundrechte führten allein in China zu mehr als 60 Millionen Toten.

Erklärung ist nicht dasselbe wie Vorhersage

Wie steht es aber nach heutiger Erkenntnis um die Prognosefähigkeit wissenschaftlicher Theorien?

Die genaueste und mächtigste wissenschaftliche Theorie, die wir derzeit besitzen, ist die Quantenfeldtheorie. Mit ihr lässt sich das magnetische Moment des Elektrons bis auf über zehn Stellen nach dem Komma genau berechnen. Und dennoch versagt dieselbe Theorie fast vollständig, wenn es darum geht, den Abstand zwischen den Atomen eines Flussspatmoleküls zu berechnen. Ganz zu schweigen davon, dass es völlig utopisch wäre, damit den Brechungsindex oder den Schmelzpunkt eines chemischen Stoffes «vorhersagen» zu wollen. Die Erklärungskraft dieser Theorie ist so gross, dass wir mit ihr praktisch alles im sichtbaren Universum (ausser der Gravitation) beschreiben und verstehen können – und dennoch ist sie nicht fähig, uns die Schmelztemperatur von Eis zu liefern.

Erklärungskraft und Vorhersagefähigkeit einer wissenschaftlichen Theorie sind zwei unterschiedliche Dinge. Die Thermodynamik liefert uns eine sehr gute Erklärung dafür, wie ein Hurrikan entsteht, sie ist aber nur in sehr seltenen und speziellen Fällen in der Lage, uns seine Bahn vorherzusagen – wie das regelmässige Rätselraten darüber zeigt, ob und, wenn ja, wann ein Hurrikan mit welcher Stärke auf Land treffen wird.

«Die Thermodynamik liefert uns eine sehr gute Erklärung dafür, wie ein Hurrikan entsteht, sie ist aber nur in sehr seltenen und speziellen Fällen in der Lage, uns seine Bahn vorherzusagen.»

Es ist nicht die Hauptaufgabe der Wissenschaft, zeitliche Vorhersagen für natürliche (also nicht im Labor von äusseren Einflüssen isolierte) Systeme zu liefern. Sie sind ein sehr seltenes Nebenprodukt des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses.

Unsere besten wissenschaftlichen Modelle zur langfristigen Vorhersage natürlicher Systeme stammen aus der Astronomie. Planeten- und Kometenbahnen lassen sich mit diesen Theorien relativ genau auf Jahrzehnte vorausberechnen. Wir wissen das, weil es empirische Befunde darüber gibt. Weder aus Physik, Chemie, Biologie noch aus Meteorologie, Soziologie oder Ökonomie sind weitere Theorien bekannt, die ein natürliches System auf Jahrzehnte genau vorhersagen können.

Das liegt weniger an den Theorien selbst als an den natürlichen Systemen, mit denen sich deren Modelle beschäftigen. ­Astronomische Systeme sind relativ einfach. Es gibt wenige ­wirkende Kräfte und im Vergleich mit anderen Systemen sehr wenige beteiligte Körper und relevante Parameter. Sobald ein ­System aber auch nur ein wenig komplexer wird, ist eine längerfristige quantitative Prognose praktisch unmöglich.

Astrophysikalische Theorien erklären uns, wie unsere Sonne aufgebaut ist, wie sie ihre Energie gewinnt und wie Sonnenflecken entstehen. Sie können aber nicht vorhersagen, wann genau der nächste Sonnenfleckenzyklus beginnt und ob die Sonne dann ­besonders aktiv sein wird – und das, obwohl die Photosphäre der Sonne praktisch nur aus zwei heissen Gasen (92,1 Prozent Wasserstoff, 7,8 Prozent Helium) besteht.

Noch etwas sollte man auf keinen Fall vergessen, wenn man sich mit der Prognosefähigkeit wissenschaftlicher Theorien beschäftigt: Ihre Vorhersagegenauigkeit nimmt mit der Zeit ab. Je weiter in die Zukunft die Vorhersage reicht, desto ungenauer wird sie. Das Wetter von morgen lässt sich genauer vorhersagen als das Wetter in zehn Tagen.

Wenn eine Theorie also nach 20 Jahren keine befriedigenden Ergebnisse geliefert haben wird, dann können wir sicher sein, dass ihre Vorhersagen für die nächsten 80 Jahre noch schlechter sein werden. Das liegt einfach daran, dass die Messdaten, mit denen wir die Modelle füttern, niemals vollständig und exakt sein können und dass wir dann mit Hilfe numerischer Methoden, die ­zusätzlich noch anfällig für Rundungsfehler sind, unsere Berechnungen durchführen. Je mehr Rechenschritte wir machen müssen, desto mehr Fehler können sich akkumulieren und umso ungenauer wird das Ergebnis werden. Ausnahmslos alle wissenschaftlichen Modelle und Theorien haben diesen empirischen Befund bisher bestätigt.

An der Realität vorbeifantasiert

Im ersten Sachstandsbericht des Weltklimarats aus dem Jahr 1990 finden sich auf der Basis von Computersimulationen reihenweise alarmierende Prophezeiungen hinsichtlich Extremwetterlagen wie Überschwemmungen, Dürrezeiten, Wirbelstürmen, Kältewellen, Hagelstürmen und Hitzewellen. 23 Jahre später, im Sachstandsbericht AR5 aus dem Jahr 2013, finden wir auf der ­Basis von realen Daten das Eingeständnis, dass so gut wie alle diese Prognosen übertrieben waren. Kesten C. Green und J. Scott Armstrong, Spezialisten für wissenschaftliche Prognoseverfahren, haben die wissenschaftliche Basis der Vorhersagen des Weltklimarats analysiert und fällen ein vernichtendes Urteil: Die im Report des Klimarats verwendeten Methoden verletzten mehr als die Hälfte der für seriöse Prognosen geforderten Prinzipien, viele davon in kritischer Weise. Fazit: «Wir konnten keine wissenschaftlich haltbaren Vorhersagen für eine globale Erwärmung identifizieren. Behauptungen, die Erde werde sich erwärmen, ­haben nicht mehr Glaubwürdigkeit als die Aussage, es werde künftig kälter.»

Dennoch ist im Kontext des Klimawandels kritisches Denken dünn gesät. In den Medien liest man Aussagen wie: «Der Wetterbericht für wenige Tage funktioniert schon sehr zuverlässig. Ebenso die Prognose der sehr langfristigen Klimaentwicklung, die für die Zeit in etwa 100 Jahren schon äusserst genaue Angaben liefert.» Das schreibt ein deutscher Journalist im Jahre 2019 tatsächlich über eine Theorie, die nachweislich nicht einmal in der Lage ist, für einen Zeitraum von 20 Jahren genaue Angaben zu ­liefern.

Seine erste und wichtigste Frage hätte hier doch wohl lauten müssen: Woher weiss man das? Woher weiss man gegen alle bisherige Erfahrung, dass ein Modell, das noch keine 50 Jahre alt ist und in der Vergangenheit äusserst ungenaue Angaben geliefert hat, für die Zeit in 100 Jahren «äusserst genaue Angaben liefert»?

Hier liegt die Schlussfolgerung nahe, dass sich unser heutiger Wissenschaftsglaube nicht allzu sehr vom Geisterglauben der Xhosa unterscheidet.

Überraschenderweise lässt sich das Verhalten natürlicher Systeme «vorhersagen», ohne die konkreten kausalen Abläufe, die das Verhalten des Systems bestimmen, verstanden zu haben. Dieses Verfahren nennt sich Extrapolation. Man beobachtet und untersucht die Entwicklung des Systems über eine längere Zeit und schliesst dann aus dem vergangenen Verhalten auf seine zukünftige Entwicklung. Für träge Systeme, die ihr Verhalten nur langsam ändern, kann das für einige Zeit durchaus gut gehen. Die stetige Bewegung der Kontinentalplatten beträgt wenige Millimeter pro Jahr. Sie lässt sich sehr gut extrapolieren. Bis es dann zu einem unvorhersagbaren Beben kommt, das die Platten innerhalb von Sekunden um mehrere Meter verschiebt.

Ein einfaches Beispiel macht klar, worum es geht. Nehmen wir folgende Messdatenreihe: 1,01 – 1,98 – 3,01 – 3,99 – 5,03 – …

Man muss kein mathematisches Genie sein, um die Vermutung auszusprechen, dass der nächste Wert irgendwo in der Nähe der 6 und der übernächste in der Nähe der 7 liegen wird. Ob es sich bei der Messreihe um Driftlängen, Temperaturdifferenzen, Anstieg des Meeresspiegels oder Infektionsraten handelt, spielt für die mathematische Extrapolation keine Rolle, weil die konkreten kausalen Abläufe des Systems für die Anwendung des mathematischen Algorithmus irrelevant sind.

Möchte man allerdings abschätzen oder vorhersagen, wie ein System auf bestimmte Eingriffe reagieren wird, dann muss man die kausalen Abläufe verstehen, die das System bestimmen. Dann braucht man eine Theorie, die das Verhalten des Systems wirklich erklärt und nicht nur extrapoliert. Ob man das System tatsächlich verstanden hat und die Theorie eine vollständige Erklärung für das Verhalten liefert, zeigt sich dann, wenn es vom erwarteten Verhalten abweicht. Liefert das bisherige Modell keine zufriedenstellende Erklärung für die Abweichung, dann ist das ein Zeichen dafür, dass man die kausalen Abläufe des Systems noch nicht komplett erfasst hat. Sowohl der Klimawandel als auch die Corona­pandemie liefern hierfür gute Beispiele.

Untersuchungen lassen zwischen den in einigen Ländern verhängten Lockdowns und den Covid-19-Todesfällen im Verhältnis zur Bevölkerung kaum einen Zusammenhang erkennen. Welche kausalen Auswirkungen eine Maskenpflicht oder Schulschliessungen auf die Covid-19-Todesrate auch haben mögen, sie lassen sich wissenschaftlich weder eindeutig belegen noch vorhersagen. Moderne Gesellschaften sind derart komplexe Systeme, dass eine Vorhersage über die kausalen Wirkungen bestimmter Massnahmen auf die Ausbreitung eines Virus schlicht nicht möglich ist. Vorhersagen über die Todesfälle durch Covid-19 sind nichts anderes als Extrapolationen ohne Erklärungswert.

Als die globale Durchschnittstemperatur 18 Jahre lang stagnierte (der sogenannte Hiatus), suchten Klimaforscher verzweifelt nach Erklärungen, weil die Modelle die Realität nicht erklären konnten. Jahrelang wurde der Hiatus einfach geleugnet und so getan, als würde er gar keiner Erklärung bedürfen. Erst nach und nach wurde er akzeptiert und dann ganz unterschiedliche Erklärungen dafür angeboten. Ein klares Zeichen dafür, dass die kausalen Abläufe im Klimasystem von den Modellen noch nicht vollständig verstanden sind. Patrick Frank, Professor an der Stanford University, hat 2019 eine Untersuchung vorgestellt, die genau das nahelegt. Er kommt zum Schluss: «Diese Analyse hat gezeigt, dass die Lufttemperaturprojektionen fortgeschrittener Klimamodelle nichts anderes als lineare Extrapolationen sind.»

Wolfgang Stegmüller, einer der bedeutendsten Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts, schrieb: «Alle Gesetzesaussagen, mit denen man in den einzelnen Wissenschaften arbeitet, sind blosse hypothetische Annahmen. Niemals können wir auch nur eine einzige Gesetzesaussage definitiv verifizieren.» Wissenschaft kann uns also keine ewige Wahrheit liefern. Sie kann letztendlich nichts anderes als die Konsistenz von Interpretationen von Beobachtungen und Messergebnissen mit den Grundannahmen von bestehenden Theoriengebäuden feststellen.

Die Grundannahmen wissenschaftlicher Theorien ruhen nicht auf einem festen objektiven Fundament, sondern in zeitbezogenen menschlichen Vorstellungen von der Wirklichkeit. So sind alle wissenschaftlichen «Wahrheiten» Kinder ihrer Zeit.

Dies ist der Hintergrund, vor dem sich eine Mehrheitsmeinung («Konsens») zur Deutung wissenschaftlicher Beobachtungen herausbildet. Die Festlegung auf eine Deutung ist immer auch ein willkür- bzw. subjektivitätsbehafteter Akt. Es gibt immer alternative Möglichkeiten zur Interpretation von Daten, die meisten davon werden von Minderheiten innerhalb der Forschungsgemeinde auch dann vertreten, wenn eine Mehrheit sich hinter eine bestimmte Sichtweise geschart hat. Und wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt, ist es kein seltener Vorgang, dass sich die Sicht einer Minderheit durch neue Erkenntnisse oder einen Paradigmenwechsel zur neuen Mehrheitsmeinung entwickeln kann.

Selber denken macht frei

Welche Rolle sollen wissenschaftliche Experten bei gesellschaftlichen Entscheidungen spielen? Die Frage stellt sich insbesondere dann, wenn mit Hilfe von Wissenschaftern gesellschaftliche Krisen diagnostiziert und dann die dazu nötigen Therapien zur Lösung empfohlen werden.

Wie diagnostiziert man eine gesellschaftliche Krise? Basierten die Krisendiagnosen am Ende des 19. Jahrhunderts auf objektiven, wissenschaftlichen Kriterien oder waren sie vielmehr Ausdruck und Folge einer bestimmten politischen Weltanschauung?

Laut einem Bericht der Vereinten Nationen von 2015 hat sich der Zustand der Menschheit seit der Verabschiedung der Millenniumserklärung im Jahr 2000 wesentlich verbessert. Armut, Kindersterblichkeit und HIV-Infektionen sind zum Teil dramatisch zurückgegangen. Im Bereich Bildung, Impfung und Trinkwasserversorgung hat es grosse Fortschritte gegeben. Das hindert Wissenschafter aber nicht daran, eine Krise der Menschheit zu diagnostizieren und drastische Therapien vorzuschlagen. Die australischen Wissenschafter David Shearman und Joseph Wayne Smith stellen nüchtern fest: «Wir benötigen eine autoritäre Regierungsform, um den Konsens der Wissenschaft zu den Treibhausgasemissionen zu implementieren.» Der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber wünscht sich eine Weltregierung der 100 besten Wissenschafter, die den Klimawandel ohne Rücksicht auf Mitspracherechte der Bürger bekämpfen sollen.

In der Coronakrise zeigt sich ein ähnliches Bild. Obwohl die Gesundheitssysteme der meisten europäischen Länder zu keiner Zeit überlastet waren und die Todesraten sich kaum von denen einer normalen Grippewelle unterscheiden, werden im Namen der Krise die Grundrechte der Bürger seit Monaten drastisch eingeschränkt und massive Eingriffe in den freien Markt vorgenommen. In bezug auf das Klima rät man uns, weniger Fleisch zu essen, damit der Meeresspiegel langsamer ansteigt, in der Coronakrise zwingt man die Menschen dazu, Masken zu tragen, deren Wirkung auf die Ausbreitung des Virus nur durch Propheten beurteilt werden kann.

Wir stehen hier ganz offensichtlich vor einer enormen Kollision der gesellschaftlichen Konzepte von individueller Freiheit und zentralistischer Kontrolle durch den Staat. Wer mit der Staatsgewalt eine wissenschaftliche Theorie durchsetzen und freie Bürger zu einer bestimmten Wahrheit zwingen will, der hat nicht verstanden, auf welcher Grundlage der Erfolg der Wissenschaft und der westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrhunderten letztlich ruht. Es ist die Freiheit zur abweichenden Meinung. Es ist die Möglichkeit zum Streit und der Wille, andere durch Argumente, nicht durch Macht zu überzeugen.

Wer Andersdenkende im Namen die Wissenschaft als «Klimaleugner» oder «Covidioten» beschimpft, der missbraucht die «Wissenschaft», um seine eigene politische Agenda durchzusetzen. In einer solchen Situation sind Wachsamkeit, eigenes Denken und selbstbewusster Widerspruch der Bürger das Gebot der Stunde.

Bjørn Lomborg, fotografiert von Christian Schmid / laif.

Kühlen Kopf bewahren
trotz Erderwärmung

Obwohl wir immer mehr über den Klimawandel wissen, wird die Diskussion darüber immer irrationaler. Wollen wir die Welt besser machen, ist Alarmismus ein schlechter Ratgeber.

 

Die Diskussion über den Klimawandel ist hauptsächlich durch ein Gefühl geprägt: Angst. Dieses Gefühl verwundert nicht, wenn man etwa die Bücher zum Thema studiert, die Titel tragen wie «The Uninhabitable Earth», «Field Notes from a Catastrophe» oder «This Is the Way the World Ends». Die US-amerikanische Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez verkündete vergangenes Jahr: «Die Welt wird in zwölf Jahren untergehen, wenn wir nichts gegen den Klimawandel tun.» Diese Rhetorik bleibt nicht ohne Wirkung: Gemäss einer Umfrage aus dem Jahr 2019 glaubt fast die Hälfte der Weltbevölkerung, dass die Menschheit wegen des Klimawandels wahrscheinlich aussterben werde.

Der Alarmismus steht in keinem Verhältnis zum Ausmass des Problems. Wie ich bereits 2001 in meinem Buch «Apocalypse No!» betont habe, ist die Klimaerwärmung ein reales Problem. Seither haben Wissenschafter mehr und verlässlichere Daten gesammelt. Ihre Projektionen bezüglich Temperaturveränderungen und Anstieg des Meeresspiegels waren über die letzten zwanzig Jahre ­bemerkenswert konsistent. Gleichzeitig ist die öffentliche Diskussion mehr und mehr irrational geworden. Die Rhetorik von Kommentatoren und den Medien ist zunehmend radikal und losgelöst von wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Wenn wir die Erkenntnisse der Klimaforschung nüchtern betrachten, ist klar: Die Klimaerwärmung ist real, aber sie ist nicht das Ende der Welt. Es handelt sich um ein bewältigbares Problem. Die verzerrte öffentliche Wahrnehmung hat zur Folge, dass wir andere Herausforderungen vernachlässigen, von Pandemien über Nahrungsmittelknappheiten bis hin zu politischen Konflikten. Wenn wir ihn nicht stoppen, wird die Welt durch den falschen Alarmismus am Ende schlechter dastehen.

Wie gross ist der Schaden, den die Klimaerwärmung verursacht? Die verlässlichste Forschung dazu lässt erwarten, dass, wenn wir nichts tun, im Jahr 2100 die Kosten etwa 3,6 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts betragen werden. Dieser Wert umfasst sämtliche negativen Einflüsse, von den Schäden durch stärkere Stürme bis zu den zusätzlichen Todesfällen durch Hitzewellen. Gemäss Schätzungen der UN dürfte das Durchschnittseinkommen der Weltbevölkerung am Ende des Jahrhunderts etwa 450 Prozent des heutigen Niveaus erreichen. Kosten von 3,6 Prozent bedeuten, dass, wenn wir nichts gegen den Klimawandel tun, unser Wohlstand Ende des Jahrhunderts «nur» 434 Prozent statt 450 Prozent des heutigen Niveaus beträgt. Das ist offensichtlich ein Problem, aber es ist offensichtlich auch nicht das Ende der Welt.

Die Angstmacherei führt jedoch dazu, dass Regierungen viel Geld für wenig sinnvolle und ineffektive Massnahmen gegen den Klimawandel ausgeben. Schlimmer noch: Die Kosten der Massnahmen treffen die Armen der Welt in überproportionalem Mass, beispielsweise in Form von höheren Energiekosten.

Es ist höchste Zeit, das Bild geradezurücken und uns zu fragen, wie wir den Klimawandel am wirksamsten bekämpfen können, ohne die Menschheit ärmer zu machen.

Eine Steuer gegen Marktversagen

Der erste Schritt, um den Klimawandel zu bekämpfen, ist die Einführung einer Steuer auf CO2-Emissionen. Eine solche Steuer kann zu einer starken Reduktion der Emissionen führen und damit helfen, die schädlichsten Auswirkungen der globalen Erwärmung zu begrenzen, und das zu relativ geringen Kosten. Ohne Steuer geht der Nutzen aus einer Emission an denjenigen, der sie verursacht, während die negativen Auswirkungen die ganze Bevölkerung treffen. Das ist ein klassisches Beispiel von Marktversagen. Der beste Weg, dieses Marktversagen zu beheben, ist es, einen Preis für die Emission festzusetzen. Die Frage ist: Wie hoch soll dieser Preis sein?

Gemäss dem Modell von Wirtschaftsnobelpreisträger William Nordhaus, das alle Kosten der nächsten 500 Jahre einbezieht, dürfte uns der Klimawandel etwa 140 Billionen Dollar kosten, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Je höher wir eine CO2-Steuer ansetzen, desto mehr sinkt dieser Betrag. Allerdings steigen zugleich die Kosten der Steuer in Form von Wohlstandsverlusten. Eine Abwägung zwischen Nutzen und Kosten ergibt, dass eine Steuer von 36 Dollar pro Tonne CO2 die effizienteste Lösung wäre. Im Alltag würde das bedeuten, dass beispielsweise ein Liter Benzin etwa ein Dollar teurer würde. Könnte diese optimale Steuer weltweit koordiniert werden, würden die Emissionen bis 2100 um 80 Prozent und der globale Temperaturanstieg von 4,1° C auf 3,5° gesenkt werden.

Unglücklicherweise ist eine weltweite, uniforme CO2-Steuer nur in einer Märchenwelt möglich. In der Praxis werden die einzelnen Staaten jeweils eigene Steuern einführen oder haben das bereits getan. Manche dieser Steuern sind zu hoch, andere zu tief. In der Realität dürften daher die Kosten dieser Massnahme höher sein. Gleichwohl ist eine CO2-Steuer eine gute Idee, um die Emissionen zu reduzieren. Sie kann aber nur ein kleiner Teil der ­Lösung für den Klimawandel sein. Der wichtigste Teil ist Innovation.

Innovation ist der Schlüssel

Vom 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts versorgte der aus Walen gewonnene Tran die westliche Welt mit Licht. Auf seinem Höhepunkt gab der Walfang allein in den USA 70 000 Personen ein Auskommen und war die fünftgrösste Industrie des Landes. Doch obwohl wir unzählige Wale schlachteten, um eine gute und ­sichere Lichtquelle zu haben, rotteten wir sie nicht aus. Warum? Wir fanden alternative Technologien. Zuerst ersetzte Petroleum den Waltran, bevor es durch Elektrizität ersetzt wurde.

Wir haben in der Geschichte unsere Fähigkeit zur Innovation wiederholt unterschätzt. Indem wir Innovationen schaffen und günstige technologische Lösungen finden, lösen wir grosse Herausforderungen und stiften Nutzen für alle. Diese Erkenntnis müssen wir auf das Problem des Klimawandels anwenden.

«Von 100 Franken ihrer Wirtschaftsleistung geben Industrieländer

weniger als 3 Rappen für die Erforschung von grünen Energien aus.

Stattdessen erhöhen sie die Ausgaben

für ineffiziente Solar- und Windkraft.»

Heute stellen fossile Treibstoffe günstig und verlässlich Energie bereit, während alternative Technologien noch zu unausgereift und kostspielig sind. Wir sollten uns viel stärker darauf ­fokussieren, bessere Alternativen zu finden. Solar- und Windenergie sind bis jetzt keine Antwort. Trotz politischer Unterstützung und Billionen an Subventionen decken sie lediglich etwas mehr als ein Prozent des globalen Energiebedarfs. Um unsere Emissionen von fossilen Energien signifikant zu senken, brauchen wir Innovation. Im Jahr 2009 brachte mein Think Tank Copenhagen Consensus 27 der führenden Umweltökonomen und drei Nobelpreis­träger zusammen, um herauszufinden, welche Massnahmen die Klimaerwärmung am wirksamsten bekämpfen können. Die Experten kamen zum Schluss, dass Investitionen in die Erforschung grüner Technologien mit Abstand der beste Weg seien. Jeder dafür verwendete Franken könnte etwa 11 Franken an Kosten des Klimawandels verhindern. Doch obwohl wir und andere seither um mehr Investitionen in diesem Bereich warben, sind diese kaum gestiegen. Von 100 Franken ihrer Wirtschaftsleistung geben ­Industrieländer weniger als 3 Rappen für die Erforschung von ­grünen Energien aus. Stattdessen erhöhen sie die Ausgaben für ­ineffiziente Solar- und Windkraft.

Zusätzliche Investitionen könnten etwa verwendet werden, um die Speicherung von Energie, Atomkraft oder die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre zu erforschen. Diese Technologien existieren bereits, sind aber noch zu teuer, um unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen entscheidend zu reduzieren. Dies könnte sich ändern, wenn wir mehr Geld für Forschung ausgeben. Andere Technologien könnten noch entwickelt werden. Innovationen zu prognostizieren zu versuchen, ist töricht. Deshalb sollten wir unsere Ressourcen nicht auf wenige vielversprechende Ideen konzentrieren, sondern viele unterschiedliche Ansätze erforschen.

Anpassung an den Klimawandel

Auch mit neuen klimafreundlichen Technologien wird die Temperatur allerdings ansteigen. Dem müssen wir uns anpassen. Glücklicherweise hat die Menschheit einen beeindruckenden Leistungsausweis, was die Anpassung an unterschiedliche klimatische Bedingungen betrifft. In der eisigen Kälte Sibiriens leben ebenso Menschen wie in der brennend heissen Sahelwüste, in der Trockenheit der Atacamawüste genauso wie im regenreichen indischen Gliedstaat Meghalaya. Steigt die Temperatur, passen sich die Menschen an, etwa indem mehr Haushalte eine Klimaanlage verwenden oder ihre Heizung ausschalten. Auch die Wirtschaft passt sich an. Schon seit langem variieren Bauern die Pflanzen, die sie anbauen, je nach Klima.

Allerdings sind nicht alle nötigen Anpassungen ohne Unterstützung durch den Staat möglich. In der Landwirtschaft etwa werden sie erleichtert, wenn die Leute besser gebildet sind, vermögender sind (wenn sie sich etwa einen Traktor leisten können) und wenn sie besseren Zugang zu landwirtschaftlichen Infor­mationen haben.

Eine oft genannte Folge der globalen Erwärmung ist der Anstieg des Meeresspiegels. Dabei betreten wir indes kein Neuland. In den vergangenen 150 Jahren ist der Meeresspiegel bereits um etwa 30 Zentimeter gestiegen. Der Grund, warum dies kaum jemand als bedeutende Veränderung wahrgenommen hat, ist, dass wir uns daran angepasst haben. Solche Massnahmen sind eine lohnende Investition: Eine Studie aus dem Jahr 2019 ergab, dass ein Franken, der in den Bau von Dämmen fliesst, im Schnitt 40 Franken an Schäden einspart, im Fall von Sandvorspülung (d.h. Aufschüttung von Sand) sind es sogar 111 Franken. Ähnliches gilt für den Schutz vor Wirbelstürmen.

Einfache, aber effektive Lösungen gibt es auch für die zunehmenden Hitzewellen. In Städten erreicht die Temperatur im all­gemeinen höhere Werte als in ländlichen Gebieten, vor allem ­wegen der dunklen Baumaterialien für Strassen und Gebäude und wegen der fehlenden Grünflächen. Los Angeles hat die Temperatur auf Trottoirs um fast 6° reduziert, indem man die dunklen ­Asphaltflächen mit einer kühlenden grauen Schicht überzog.

Geo-Engineering als Rückfalloption

Neben der Anpassung gibt es eine weitere effiziente Möglichkeit, die negativen Auswirkungen der Treibhausgasemissionen zu ­begrenzen: Geo-Engineering, also die bewusste Steuerung der globalen Temperatur.

Im Juni 1991 brach auf den Philippinen der Vulkan Pinatubo aus. Die gewaltige Eruption tötete hunderte Menschen und vertrieb hunderttausende. Neben den Verwüstungen beeinflusste der Ausbruch auch das Klima. Er stiess so viel Schwefeldioxid in die Stratosphäre aus, dass vorübergehend 2,5 Prozent weniger Sonnenlicht die Erde erreichte. Dieser Rückgang führte zu einem Absinken der Temperatur rund um den Globus um durchschnittlich rund 0,5° C über die folgenden 18 Monate.

Als die Sorge über globale Erwärmung wuchs, begannen Forscher zu untersuchen, ob sich ein solcher Effekt imitieren liesse, ohne die Verheerungen eines Vulkanausbruchs. Tatsächlich könnte dies erreicht werden, indem man winzige Partikel, etwa Schwefel­dioxid, in die obere Schicht der Atmosphäre sprüht. Diese Partikel würden einen Teil des Sonnenlichts reflektieren.

Eine sehr günstige und effektive Möglichkeit des Geo-Engine­ering ist das sogenannte «marine cloud brightening». Die Idee besteht darin, die Konzentration von Seesalzpartikeln in der Luft über den Ozeanen zu erhöhen, wodurch die Wolken weisser würden und mehr Sonnenlicht reflektieren könnten.

«Wenn Staaten wohlhabender werden, können sie es sich

auch eher leisten, Subventionen für fossile Energieträger abzuschaffen

und Steuern auf Emissionen zu erheben. Sie haben Ressourcen,

um emissionsärmere Technologien zu erforschen und zu unterstützen.»

Viele Leute sehen solche Ideen kritisch, und die meisten Umweltschützer lehnen nur schon den Gedanken daran vehement ab. Die Skepsis ist verständlich. Das Klima ist ein hochkomplexes ­System, von dem wir vieles nach wie vor nicht verstehen – wer sagt uns, dass solche Versuche nicht zu unvorhergesehenen Schäden führen?

Ich rate nicht, Geo-Engineering heute einzusetzen. Doch es lohnt sich, die Ansätze zu erforschen, gerade weil wir vieles über das Klima nicht verstehen. Befürworter von drastischen Reduktionen der Treibhausgasemissionen weisen oft auf die Möglichkeit von «tipping points» hin, bei deren Erreichen eine Katastrophe nicht mehr abwendbar sein könnte. Geo-Engineering ist das einzige bekannte Instrument, die Temperaturen auf der Erde innert kurzer Zeit zu senken. Natürlich gibt es Risiken. Umso mehr ist es geboten, die Technologien jetzt zu erforschen. Sollten wir tatsächlich vor einer Katastrophe stehen, werden wir froh sein um eine Rückfalloption.

Die unterschätzte Klimaschutzmassnahme

CO2-Steuern, Innovationen, Anpassungsmassnahmen und Geo-Engineering sind ein potentes Paket im Kampf gegen den Klimawandel. Es gibt allerdings noch eine weitere Massnahme, die ausserordentlich wirksam ist, in der öffentlichen Diskussion jedoch kaum Beachtung findet: wirtschaftliche Entwicklung.

Die Bedeutung von Wohlstand für die Klimapolitik wird offensichtlich, wenn man zwei Länder betrachtet, die beide tief gelegen sind an einem Flussdelta: die Niederlande und Bangladesch. Die Niederlande erlebten 1953 eine verheerende Flutkatastrophe. Über 1800 Menschen starben, nachdem in mehreren Provinzen Deiche gebrochen waren. Als Reaktion darauf begann das Land mit dem Aufbau eines umfangreichen Schutzsystems aus Dämmen und Sperrwerken. Das System kostete insgesamt 11 Milliarden Dollar. Seit 1953 verzeichneten die Niederlande nur noch ein Todesopfer durch Überschwemmungen. Demgegenüber tritt in Bangladesch das Wasser noch immer regelmässig über die Ufer. 2019 vertrieb eine Überschwemmung 200 000 Menschen aus ihren Häusern und gefährdete die Versorgungssicherheit.

Es ist offensichtlich, dass reiche Staaten mehr Geld für den Schutz vor dem Klimawandel einsetzen können als arme. Doch nicht nur das: Wenn Staaten wohlhabender werden, können sie es sich auch eher leisten, Subventionen für fossile Energieträger abzuschaffen und Steuern auf Emissionen zu erheben. Sie haben Ressourcen, um emissionsärmere Technologien zu erforschen und zu unterstützen.

Das Ziel jeder klimapolitischen Massnahme ist es, die Welt besser zu machen, als sie sonst wäre. Es geht darum, dass es ­sowohl den Menschen als auch der Umwelt besser geht. Deshalb beschliessen wir CO2-Steuern und suchen nach grünen Alterna­tiven zu fossilen Treibstoffen.

Doch es ist unvermeidlich, dass solche Massnahmen Ressourcen kosten, die wir sonst investieren könnten, um das Leben der Menschen gesünder, länger und besser zu machen. Wenn wir ­einen Teil dieser Ressourcen in Entwicklung und Humankapital investieren, können die Leute sich eher grüne Energiequellen leisten und sich Klimaveränderungen anpassen. Ausserdem können es sich reiche Länder auch eher leisten, zur Umwelt Sorge zu tragen. Die Niederlande pflanzen heute Wälder an, während Bangladesch sie noch immer abholzt. Eine Studie aus dem Jahr 2012 kommt zum Schluss, dass die Verwundbarkeit armer Länder durch den Klimawandel viel effektiver reduziert werden kann durch ökonomische Entwicklung als durch klimapolitische Massnahmen.

In der Klimapolitik – und in der Politik im allgemeinen – muss man stets die Kosten und Nutzen abwägen und sich fragen: Wo können wir am meisten helfen? Einer der besten Wege, wie wir die Welt besser machen können, ist, den Wohlstand in den Bangladeschs dieser Welt zu erhöhen.

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