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Liberale Morgenröte

Frische Ideen für die bürgerliche Zusammenarbeit.

Für die Unterstützung dieses Dossiers danken wir der Bonny Stiftung für die Freiheit.

Inhalt

Frische Ideen für die bürgerliche Zusammenarbeit.

Liberale Morgenröte

Frische Ideen für die bürgerliche Zusammenarbeit

 

Die liberale Revolution von 1848 legte den Grundstein des Schweizer Erfolgsmodells. Doch 2020 macht dieses Erfolgsmodell einen angeschlagenen Eindruck. Trotz bürgerlicher Mehrheit sucht das Parlament in entscheidenden Fragen immer wieder das Heil in einem Ausbau des Staates. Es beschliesst neue Regulierungen, baut den Sozialstaat aus und erhöht munter die Aus- und Abgaben. Statt liberale Reformen anzupacken, wurden die in den vergangenen Jahren sprudelnden Steuereinnahmen grosszügig verteilt.

Mit dem erfolgten Linksrutsch bei den Wahlen 2019 sind die Aussichten für eine erfolgreiche bürgerliche Zusammenarbeit nicht besser geworden. Und die Coronakrise hat dem Etatismus auf linker und rechter Seite, kurzfristig zumindest, neuen Auftrieb gegeben. Doch die Krise ist auch eine Gelegenheit, sich Gedanken zur Zukunft zu machen und neue, unkonventionelle Ideen zu entwickeln, mit denen liberale Politik wieder mehrheitsfähig werden kann.

Genau das machen wir in diesem Dossier: Renommierte Autoren und Experten ziehen Lehren aus Fehlern der Vergangenheit, fragen nach dem Erfolgsrezept der Linken und bringen frische Vorschläge für die Gesundheits-, Finanz-, Klima-, Migrations-, Ordnungs-, Vorsorge- und Europapolitik in die Diskussion ein. Sie zeigen Wege auf, wie bürgerliche Politik künftig Mehrheiten finden kann, wie dadurch mehr Freiheiten entstehen, wie Wohlstand nachhaltig gesichert wird.

Wie unser Gespräch mit den Präsidenten der bürgerlichen Jungparteien aufzeigt, steht die junge Generation bereit, gemeinsam zu einer erfolgreichen liberalen Politik zu finden. Vor dem Interview lesen Sie zunächst zwei Analysen und dann sieben frische, mehrheitsfähige Vorschläge.

Wir wünschen gute Lektüre!

Die Redaktion


Für die Unterstützung dieses Dossiers danken wir der Bonny Stiftung für die Freiheit. Redaktionell verantwortlich ist der «Schweizer Monat».

Der Rechtsrutsch, der keiner war

Trotz guten Voraussetzungen haben die bürgerlichen Parteien in der vergangenen Legislatur Weichenstellungen hin zu einer freiheitlicheren Politik verpasst. Sie versprachen am Sonntag Zusammenarbeit und standen sich schon am Montag im Weg.

 

Wer nach dem 18. Oktober 2015 die Medienberichterstattung verfolgte, wähnte sich in einer neuen Ära. Von einem «Rechtsrutsch» war nach den eidgenössischen Wahlen die Rede, bei denen SVP und FDP hinzugewonnen hatten. Während die NZZ mit Befriedigung eine «Rückkehr zur Normalität» feststellte, sah die linke WOZ «vier eiskalte Jahre» auf die Schweiz zukommen.

Doch wie oft in der Schweizer Politik steht der politische Alltag im Kontrast zu den kühnen Prophezeiungen. Das politische System mit regelmässigen Volksabstimmungen wirkt scharfen Kurswechseln entgegen. Von einem «Rechtsrutsch» war in der 50. Legislatur ebenso wenig zu sehen wie vom vielzitierten «bürgerlichen Schulterschluss», den Vertreter von SVP, FDP und CVP beschworen hatten. Gemeinsam gelang den drei Parteien in den vier Jahren wenig. In wichtigen Fragen standen sie sich gegenseitig mehr im Weg, als das die Linke vermocht hätte. Sie konnte dem Dissens unter den Bürgerlichen frohgemut zusehen.

Bei der Reform der Altersvorsorge spannte die CVP mit der Linken zusammen und schnürte ein Paket, das vor allem auf Mehrausgaben setzte. Die Vorlage scheiterte 2017 in der Volksabstimmung. Auch bei der Energiestrategie 2050 waren sich die drei bürgerlichen Parteien uneinig. Während sich die Christdemokraten und eine Mehrheit des Freisinns – unter anderem durch Zückerchen fürs Gewerbe – von der Vorlage überzeugen liessen, zog die SVP allein dagegen ins Feld. Es war eine häufige Konstellation, nicht nur bei den Initiativen der Volkspartei, von denen seit der Masseneinwanderungsinitiative keine mehr Erfolg hatte, sondern etwa auch bei der «No Billag»-Initiative.

Druck von aussen

Und wenn sich die drei bürgerlichen Parteien doch einmal einig waren, agierten sie oft unglücklich. So erlitt das für die Wirtschaft entscheidende Projekt der Unternehmenssteuerreform III im Februar 2017 an der Urne Schiffbruch. Das Paket – gemäss Nachbefragung die komplizierteste Vorlage, seit Umfragen dazu durchgeführt werden – war schwierig zu erklären, zudem fehlte das Vertrauen, nachdem der Bundesrat die Folgen der Unternehmenssteuerreform II falsch eingeschätzt hatte.

Das Parlament reagierte auf die Ablehnung der Steuerreform mit dem Paket zur Altersvorsorge, indem es beide Themen in ein noch grösseres Paket packte – ein Monstrum namens «Steuer­reform und AHV-Finanzierung» (STAF). Die Vorlage war eine Bankrotterklärung: Wenn zwei Projekte für sich allein das Volk nicht überzeugen, so die Logik dahinter, kombinieren wir sie eben zu einem Paket, in dem für jeden etwas dabei ist. Die SP hatte das Maximum herausgeholt im Austausch für ihr Ja zur Steuerreform. Auch das Volk stimmte zu, auch wenn – oder gerade weil – aufgrund der Verknüpfung völlig unterschiedlicher Themen die freie Willensäusserung in krasser Weise verletzt war.

Die vergangene Legislatur war auch vom Aufstieg neuer ­Bewegungen geprägt, die regelmässig oder auch nur punktuell in die öffentliche Debatte eingriffen. So trugen 2016 mit der Operation Libero und dem Zusammenschluss «Dringender Aufruf» zwei relativ junge zivilgesellschaftliche Gruppierungen zum Absturz der SVP-Durchsetzungsinitiative an der Urne bei. Die Klima­demos beeinflussten 2019 die parlamentarische Debatte etwa über das CO2-Gesetz massgeblich. Und die Initiative für einen vierwöchigen Vaterschaftsurlaub brachte National- und Ständerat dazu, zu zwei Wochen «Papizeit» Hand zu bieten. Im direktdemokratischen System der Schweiz sind die Schwellen, um Einfluss auf die Politik zu nehmen, tief. Zudem machten sich die Bewegungen das Internet als Mobilisierungsinstrument zunutze. Digitale Kommunikationsmittel erleichtern es, schnell und mit wenig Aufwand Unterstützung für ein Anliegen zu organisieren. Sie beleben den politischen Prozess, erschweren aber zuweilen die Zusammen­arbeit im Parlament – auch im bürgerlichen Lager.

«Gelingt die bürgerliche Zusammenarbeit nicht,

werden etatistischere Kräfte sich nicht zweimal bitten lassen

und die bisher vergleichsweise schlanke und wendige Helvetia

dick und träge machen.»

Verletzter Stolz

Dass liberalen Projekten kein günstigeres Schicksal beschieden war, hat unterschiedliche Gründe. Die Wunden erbitterter Streitigkeiten zwischen der in den 1990er Jahren zur wählerstärksten Partei aufgestiegenen SVP und ihren traditionellen Partnern im «Bürgerblock» sind noch nicht verheilt. Der Konflikt, befeuert vom aggressiven Politikstil der SVP, die für den Wahlerfolg Konkurrenten gerne als «Wischiwaschiparteien» oder «Weichsinnige» verunglimpfte, gipfelte in der Abwahl von zwei Bundesräten 2003 und 2007 – ein Vorgang, der in der von Konkordanz geprägten Schweiz einer offenen Kriegserklärung gleichkommt.

Doch verletzter Stolz und Neid greifen als Erklärung zu kurz. Die Generation von Politikern, die am damaligen Rosenkrieg beteiligt waren, verschwindet nach und nach von der Bildfläche. Seit Jahren beschwören die Parteipräsidenten den «bürgerlichen Schulterschluss». In der Praxis bleiben die Auswirkungen bescheiden. Die Präsidenten von SVP, FDP und CVP einigten sich 2015 beispielsweise auf ein Paket mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz zu stärken. Von den rund 50 damals anvisierten Massnahmen sind fünf Jahre später weniger als die Hälfte umgesetzt (unter anderem die Korrektur des Finanzdienstleistungsgesetzes oder der Verzicht auf eine Kapitalgewinnsteuer). Andere Ziele wie die Plafonierung des Personalbestandes des Bundes, die Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten oder eine Schuldenbremse für die AHV wurden teilweise meilenweit verfehlt, obwohl die drei Parteien in beiden Parlamentskammern über satte Mehrheiten verfügten. Im parlamentarischen Alltag sind hehre Ziele eben schnell vergessen, wenn Interessen – eigene oder solche wichtiger Lobbies – ins Spiel kommen. Dann schmilzt auch der Sparwille schnell dahin. Vor allem aber standen liberalen Lösungen oft auch Parteiinteressen im Weg.

Profilierung über alles

Seit längerer Zeit verlieren traditionelle Parteibindungen an Bedeutung. Neue Kräfte fordern die etablierten heraus. Zugleich ist der Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit intensiver ­geworden. Das alles hat den Druck auf die Parteien erhöht, sich zu profilieren. Kooperation und Kompromisse bringen keine Schlagzeilen, vermeintlicher Mut und Standfestigkeit (vulgo: Sturheit) hingegen schon. So hat die SVP keinerlei Interesse, ihre Fundamentalpositionen in der Migrationspolitik oder beim Rahmenvertrag aufzugeben. Ebenso wird die CVP nie Hand bieten zur Indi­vidualbesteuerung und lanciert lieber eine weitere Heiratsstrafeinitiative, nachdem sie die erste zurückgezogen hat.

In anderen Bereichen ist die Zusammenarbeit dennoch möglich. Doch sie ist heute weder selbstverständlich noch alternativlos. Zwar bilden SVP, FDP und CVP nach wie vor am häufigsten die Mehrheit bei Abstimmungen im Parlament. Doch alle drei Parteien paktieren mehr oder weniger regelmässig mit Parteien links der Mitte. Gemäss einer Auswertung der Plattform Politik.ch stimmten sie lediglich in 38 Prozent aller Abstimmungen erfolgreich geschlossen (wobei es sich bei 10 Prozent um unumstrittene Geschäfte handelte, in denen sich alle Fraktionen von Grünen bis SVP einig waren). In einem Viertel der Fälle hiess die siegreiche Allianz «alle gegen die SVP», in einem weiteren Viertel spannte die CVP mit der linken Ratsseite gegen SVP und FDP zusammen, wobei sich beide Seiten etwa gleich oft durchsetzten. Das Spek­trum der möglichen Koalitionen im Parlament ist breiter geworden – und entsprechend fragil sind sie.

 Neue Gegensätze

Das hat auch damit zu tun, dass der klassische Links-rechts-Gegensatz komplizierter geworden ist. Bürgerliche und Linke unterschieden sich früher in erster Linie in bezug auf die Frage, wie viel Einfluss der Staat auf die Wirtschaft nehmen soll. Hier haben sich die Positionen nicht fundamental verändert. Hingegen ist in der jüngeren Vergangenheit die kulturelle Dimension wichtiger geworden, also der Gegensatz zwischen einer konservativen und einer liberalen Gesellschaftspolitik oder auch zwischen aussenpolitischer Öffnung und nationaler Eigenständigkeit. Für den letzteren Konflikt war die EWR-Abstimmung 1992 prägend. Im Konflikt über die Position der Schweiz in Europa, der seither – mal mit mehr, mal mit weniger Intensität – ausgefochten wird, gingen Freisinn und Christdemokraten wiederholt mit den linken Parteien zusammen.

Solche Allianzen sind weder verboten noch verwerflich. Geht es jedoch darum, liberale Lösungen zu verteidigen oder ihnen zum Durchbruch zu verhelfen, führt kein Weg an einer Zusammenarbeit im bürgerlichen Lager vorbei. Ob diese gelingt, wird in den kommenden Jahren entscheidend sein für die Reformen und Projekte, die etwa bei der Altersvorsorge, beim Klimaschutz anstehen. Oder in der Finanzpolitik, die wegen dem Coronavirus und der Rezession vor Herausforderungen steht wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Gelingt die bürgerliche Zusammenarbeit nicht, werden etatistischere Kräfte sich nicht zweimal bitten ­lassen und die bisher vergleichsweise schlanke und wendige Helvetia dick und träge machen.

Allerdings hat die 50. Legislatur auch gezeigt, dass Wahlen die Richtung der Politik in der Schweiz nicht unabänderlich bestimmen. Die verschobenen Sitzverhältnisse machen aus liberaler Sicht die Konstellationen im Parlament umso entscheidender. Und der Lackmustest ist und bleibt ohnehin der Abstimmungssonntag, und da spielen die Sitzzahlen keine Rolle.

Was die Linken besser machen

Die Polarisierung fordert die Schweizer Politik mit ihrer traditionellen Konsenskultur heraus. Und fördert Wasser auf die Mühlen neuer Online-Bewegungen und geschickter Parteipräsidenten.

 

Wer beeinflusst den Fluss des Wassers? In der Politik ist die Antwort auf diese Frage nicht einfach. Die Schweiz kennt wie die USA «Checks and Balances»: Alle können alle kontrollieren. Die Macht ist so feingliedrig verteilt, dass kaum ein Akteur allein etwas entscheiden kann. Wer etwas bewegen will, benötigt daher ein hohes Mass an politischer Virtuosität.

Seit zehn Jahren ist die Schweiz zunehmend von einer Entwicklung herausgefordert, die viele Demokratien mit verteilter Macht erfasst: dem «polarisierten Pluralismus». Wenn sich die politischen Pole in entgegengesetzte Richtungen entwickeln, werden in strategischen Themen Kompromisse erschwert. Grosse Würfe sind in dieser Konstellation erst recht nicht mehr möglich. Die Suche nach Lösungen muss der Losung folgen: «Je kleiner, desto feiner.» Unser Land bewegt sich weg von der klassischen Konkordanz und hin zu einer relativen Konkordanz – begleitet von viel Konfliktgeheul.

Doch bei aller auch medial inszenierten Zerstrittenheit ist erstaunlich, wie robust der Schweizer Parlamentsbetrieb immer noch ist, sofern die mediale Aufmerksamkeit nicht riesig ist. Dieser Aspekt geht leicht vergessen. Einige wenige Zahlen belegen diese Stabilität. Während den letzten drei Legislaturen, also in den vergangenen zwölf Jahren, verabschiedete das Parlament 455 neue Bundesgesetze. Im gleichen Zeitraum führten 66 von 80 Einigungskonferenzen tatsächlich zu einer Einigung zwischen den beiden Räten. In einer Zeitspanne von 12 Jahren nur 14 gescheiterte Einigungskonferenzen, und das bei gleichzeitig 455 verabschiedeten Bundesgesetzen. Mehr und mehr gelang es aus dem Ständerat heraus, die entscheidenden Weichen zu stellen.

Verbände verlieren an Einfluss

Klar: Das sind wie das Beispiel der vielgerügten STAF-Lösung im Bereich der Unternehmenssteuern und der AHV meist nicht die grossen Würfe, aber sie sichern die Stabilität des Systems, das sich auch in der Krise oft als sehr anpassungsfähig erweist.

Wer kann in dieser Situation noch am besten etwas bewegen? Wer ist fähig, im Bergbach die richtigen Ritzen aufzubrechen und das Wasser auf die richtigen Mühlen zu leiten?

Eine Antwort sind die digitalen Plattformen, die zu einer Erstarkung der Zivilgesellschaft geführt haben. Da steht dem schweizerischen Politikbetrieb noch einiges ins Haus. Die Bündelung von Interessen, die personalisierte Debatte, der direkte Draht zwischen Menschen, die Sammlung von Unterschriften für Petitionen, Initiativen oder Referenden, die Mobilisierung für grosse Demonstrationen, nicht zuletzt auch die schnelle Kreation von Ikonen wie Greta Thunberg: All dies ist im digitalen Zeitalter schneller und günstiger zu erreichen. In die Defensive geraten damit die Mediatoren, die bisher Interessen bündelten und zwischen verschiedenen Stufen vermittelten. Insbesondere verloren in den letzten Jahren mindestens bis zur Coronakrise die Verbände an Einfluss, welche vielfach entscheidende Schnittstellen zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft waren. Verbände sind fundamental herausgefordert. Mit dem Bild des Wassers ­gesprochen: Die Digitalisierung sorgt für Wetterkapriolen und damit auch für Wildwasser. Die eher zähflüssigen Strukturen der Verbände haben mit der geforderten Anpassungsfähigkeit – im digitalen Slang der «Agilität» – nicht mithalten können.

Vom reduzierten Einfluss von Verbänden profitiert haben die Parteizentralen. Sie waren nie schwerfällig, blieben aber wegen der fehlenden finanziellen Mittel meist im Hintergrund. Sie profitieren heute von der ansehnlichen staatlichen Unterstützung der Fraktionen und verfügen mit Crowdfunding oder finanzstarken privaten Netzwerken auch über ansehnliche Mittel aus privater Hand. Und sie lernen als kleine Strukturen schnell: beispielsweise den Umgang mit den digitalen Möglichkeiten. Die SP und die FDP entwickeln sich zurzeit zu Plattformen für digitale Politik und haben die letzten Wahlkämpfe dafür genutzt. Die CVP und die SVP wollen aufholen.

Die Parteizentralen sind heute der Schlüssel für erfolgreiche Leadership. Sie bilden die eigentlichen Schaltzentralen zwischen ihren Bundesräten, der Fraktion, den Medien und der Partei. Sie wirken auch erfolgreich als «Server» sämtlicher digitaler Errungenschaften, von vernetzten Basiskampagnen bis hin zu elektronischen Unterschriftensammlungen und Abstimmungskämpfen. Auch wenn gleich drei Parteien – SVP, SP und Grüne – momentan noch im präsidialen Wechselmodus sind: Dieser Trend wird ­anhalten. Wegen der Personalisierung der Medien und den Möglichkeiten der Rolle selbst sind Parteipräsidenten innerhalb der erstarkten Parteisekretariate im Zentrum der Macht.

«Die SVP nimmt mehr denn je in Kauf,

dass das Wasser im Parlament an ihr vorbeifliesst.»

Die «chambre de réflexion» wird zur «chambre de coalition»

Aus den Parteizentralen ragt ein Präsident heraus: Christian Levrat. Mit Überzeugungskraft, geschickten Kooperationen und einer gehörigen Portion Unverfrorenheit errang der SP-Präsident immer wieder politische Erfolge. Der sichtbarste Erfolg war das Referendum gegen die Steuerreform: Hier zeigte die SP, dass mit ihr nach den rechten Wahlerfolgen 2015 jederzeit zu rechnen ist. Die nachfolgende unelegante Kompromisslösung bei der Steuer- und AHV-Reform verteidigte er intern vehement und unterstrich damit seine Konkordanzfähigkeit. Allerdings schreckt er vor gezielter politischer Unkorrektheit nie zurück. Wer wagt es schon, einen amtierenden Bundesrat als «Praktikanten» abzukanzeln? Es ging bei Levrat immer um Taktik, um verschlungene Wege über den Ständerat, um kühles Rechnen und nicht zuletzt um die In­strumentalisierung der Medien. Macht lebt auch von der zugeschriebenen Macht und deshalb passt sein Wirken im diskreten Ständerat besonders. Die «chambre de réflexion» ist mit der erstarkten Linken im Ständerat in den letzten zwanzig Jahren immer mehr zu einer «chambre de coalition» geworden. Viele Erfolge sind deshalb gar nicht so sichtbar, aber tragen deutlich die Handschrift der SP-Schwergewichte im Ständerat.

Eines schaffte aber selbst Levrat nicht: dass die Linke in der Schweiz die Mehrheit erlangt. Auch seine Amtszeit überdauert die Regel: «Linke sind erfolglos geschlossen.» Sie sind zur Geschlossenheit verdammt, weil alles andere ihre Chancen auf Erfolge massiv reduzieren würde.

Allerdings war die Geschlossenheit bei den jüngsten Wahlen nicht förderlich, denn da machte die SP unter Führung von Levrat einen groben Schnitzer: Bei der Klimabewegung rief man, im Seitenwagen der Grünen, den Wahlsieg vor dem Resultat aus und verschlief die eigene Profilierung im Wahlkampf. Die Rechnung erhielt Levrat am 20. Oktober 2019: Die SP verlor Stimmen an die Grünen. Mehr und mehr wird in der laufenden Legislatur nun sichtbar, was Insidern lange klar war: Hinter der Fassade der Geschlossenheit der Linken gibt es ebenfalls viel Konfliktpotenzial.

Die SVP in «Splendid Isolation»

Umgekehrt bleibt die Regel gültig: «Rechte sind erfolgreich gespalten.» Die SVP will die Geschlossenheit rechts gar nicht. Sie hat sich mit ihrem selbstgewählten Oppositionskurs weitgehend aus der überparteilichen Konsensfindung verabschiedet. Daten zur Parlamentswirkung, die wir im Auftrag der Bank Julius Bär er­hoben haben, zeigen: Der aggressiv-oppositionelle Kurs der SVP im Parlament begann nicht etwa nach der Abwahl von Christoph Blocher 2007, sondern Anfang 2015 – just bevor im Herbst die ­Partei ihren zweiten Sitz zurückerhielt.

Die SVP nimmt mehr denn je in Kauf, dass das Wasser im Parlament an ihr vorbeifliesst: Hauptsache, alle gegen die SVP. Das war in der vergangenen Legislatur die am drittmeisten beobachtete Koalition im Parlament. Sinnbildlich dafür steht der Wahlvertrag der SVP und der Zwang, nur offizielle SVP-Kandidaturen bei der Bundesratswahl zu unterstützen. Diese Märtyrersituation brachte ihr lange Zeit Stimmen. Der Oppositionskurs wurde allerdings nicht mehr goutiert: Laut dem Credit-Suisse-Sorgenbarometer, das im Sommer vor den Wahlen erhoben wurde, wünscht sich die Bevölkerung wieder mehr Lösungen vom Parlament. Die SVP fuhr im Oktober dann auch die grösste Wahlniederlage aller Zeiten ein. Der Frust der Stimmberechtigten erfasste aber alle Regierungsparteien. Die Wähler setzten ein Zeichen für den Wandel.

Trotzdem hatte die Rechte in der 50. Legislatur Erfolge zu verzeichnen, vor allem als gleichzeitig die bürgerliche Allianz im Bundesrat spielte. Das war aber nur während eines Jahres der Fall – 2018, als die Bundesräte Johann Schneider-Ammann und Ignazio Cassis die freisinnige Vertretung bildeten. Mit Didier Burkhalter und Schneider-Ammann funktionierte sie nicht, mit Karin Keller-Sutter und Cassis ist der Weg noch unklar. Nach der Wahlniederlage ist die FDP noch stark mit sich selber beschäftigt.

Die eidgenössischen Wahlen 2019 brachten sensationelle Gewinne für die Grünen und die Grünliberalen. Aber für eine Mehrheit zusammen mit der SP reichte es nicht. Das wird über kurz oder lang zu grossem Frust in der Wählerschaft führen. Was grün ist und was noch grüner werden soll, bestimmen trotz grosser Geschlossenheit nicht die Grünen und die SP, sondern die CVP sowie ihre kleinen Mitte-Satelliten BDP und EVP. Und wiederum stellt sich die Frage: Wo fliesst das Wasser hin? Bei der SP und der SVP wird das Präsidium neu bestimmt. Das wird den Lauf des Wassers entscheidend beeinflussen, mehr als die Verarbeitung der Corona- und der Wirtschaftskrise. Ein Ende der Polarisierung und damit der Blockade in strategischen Fragen wünscht sich vielleicht die Bevölkerung; die neuen Präsidenten wohl eher nicht. Sie wollen das Spiel um Macht wie Christian Levrat beherrschen.

Monika Bütler, zvg.

Eine Rente für alle Fälle

Ausbildung, Anstellung, Ruhestand: Die klassische Abfolge ist mit neuen Arbeitsformen und demografischem Wandel zur Ausnahme geworden. Zeit, die Verbindung zwischen Arbeit und Rente neu zu denken – mit einer zusätzlichen Sparsäule.

 

Island hat in vielerlei Hinsicht vorbildlich auf die Herausforderungen des Coronavirus reagiert. Dank einer extensiven Test- und Contact-Tracing-Strategie konnte das Land nicht nur einen gesundheitlichen Notstand, sondern auch einen weitgehenden Lockdown vermeiden. Nicht verhindern konnte es eine tiefe Wirtschaftskrise mit stark steigenden Arbeitslosenzahlen. Und reagierte darauf mit einer spannenden Initiative: Es ermöglichte den Bürgerinnen und Bürgern, bis zu 12 Millionen Kronen (rund 88 000 Franken) in 15 monatlichen Tranchen aus der dritten Säule zu beziehen zur Überbrückung der Notlage; dies in einem der Schweiz sehr ähnlichen Alterssicherungssystem.

Mit dem Vorbezug der Ersparnisse der 3. Säule wurde in Island die Altersvorsorge mit einer Absicherung während des aktiven Arbeitslebens verknüpft. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass die verschiedenen Lebensrisiken – Arbeitslosigkeit, Invalidität, Alter – in den vergangenen Jahrzehnten in fast allen Ländern institutionell in unterschiedliche Sozialversicherungszweige auseinanderdividiert wurden. Die Spezialisierung hat gute Gründe, macht aber unter Umständen die gebundene Altersvorsorge weniger attraktiv und erschwert die Flexibilität. Wer weiss schon, wo die grossen Risiken und Chancen der Zukunft liegen?

Andere Länder, beispielsweise Spanien, wählten in der aktuellen Krise mit einer Art Grundeinkommen einen anderen Weg. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist es allerdings nicht: Die Unterstützung wird nur denjenigen ausbezahlt, die nachweislich ein tiefes Einkommen haben. Das System entspricht somit eher der schweizerischen Sozialhilfe – einer weit knapperen allerdings.

Arbeit als Grundlage der Altersvorsorge

Doch was haben diese Krisenlösungen mit der Reform der Altersvorsorge zu tun? Die Frage ist: Sollten Arbeit und Renten weiter entkoppelt werden, oder sollten wir den Zusammenhang zwischen Arbeit und Renten überdenken und auf eine solidere, aber auch flexiblere Grundlage stellen?

Die Alterssicherung war – wie andere Sozialversicherungen – immer eng mit der Arbeitstätigkeit verbunden. Vor der industriellen Revolution war die Arbeit neben der Familie (und allenfalls den kirchlichen Organisationen) die einzige Einkommensquelle im Alter. Sie ist es immer noch in vielen informellen Sektoren auf der ganzen Welt. Starke formale Bindungen zwischen Beschäftigung und Renteneinkommen waren in den letzten Jahrzehnten das Rückgrat der Sozialversicherungssysteme. Bezeichnenderweise wurde die betriebliche Vorsorge in vielen Ländern sogar vor den staatlichen Sozialversicherungssystemen eingeführt. Die Motive, solche Vorsorgepläne zu organisieren, reichen von paternalistischen Gründen (die Patrons wollten etwas für ihre Arbeiter tun) bis zu eher eigennützigen Motiven wie der Bindung guter Arbeitskräfte an die Firma.

Die Finanzkrise 2008, die niedrigeren Realzinsen und der demografische Wandel (der seinerseits kräftig zu den tiefen Realzinsen beiträgt) haben die finanzielle Tragbarkeit der Altersvorsorgesysteme beeinträchtigt und die Verbindung zwischen Beschäftigung und Ruhestandseinkommen geschwächt. Viele Firmen versuchen sich ihrer Pensionspläne zu entledigen, nicht zuletzt aus regulatorischen Gründen, da die Rechnungslegungsvorschriften eine unvorhersehbare Belastung für die Bilanz des Unternehmens bewirken.

Es gibt weitere Gründe, die es Arbeitgebern erschweren, die Altersvorsorge zu organisieren: die kürzere Dauer der Betriebszugehörigkeit, die Inkompatibilität von Pensionsplänen über Grenzen hinweg und nicht zuletzt die «Uberisierung» der Arbeit. Die aktuelle Krise trübt nicht nur das makroökonomische Umfeld, sondern beschleunigt auch die schleichende Auflösung der traditionellen Arbeitsverhältnisse und erhöht den Anteil der Menschen in der (Schein-)Selbständigkeit.

Eine völlige Entkoppelung der Grundsicherung (auch im Alter) vom Arbeitseinkommen durch ein universelles Grundeinkommen ist in den letzten Jahren sehr populär geworden. Die meisten Ökonomen kritisieren die mangelnde Zielgenauigkeit und die hohen Kosten eines bedingungslosen Grundeinkommens, weil es das Problem des unzureichenden Einkommens nicht wirklich angeht und die Anreize zum Arbeiten und Sparen beeinträchtigt. Gerade in Krisenzeiten dürfte die Verwendung knapper Mittel für die wirklich Bedürftigen effizienter sein.

Allerdings verbergen die jüngsten Entwicklungen, dass immer noch starke Verbindungen zwischen Arbeit und Renten bestehen. Der Grossteil des Einkommens einer Durchschnittsperson – und damit die naheliegende Quelle nicht nur von Rentenersparnissen, sondern auch der Finanzierung von Umverteilungsmassnahmen – stammt weiterhin aus der Arbeit.

Vielleicht ist es an der Zeit, die Verbindung zwischen Arbeit und Renten neu zu denken: indem wir die Sicherung des Einkommens in der Beschäftigungsphase und die Altersvorsorge zu einer gemeinsamen Aufgabe einer neuen dritten Säule machen. Das isländische Beispiel zeigt, dass dies mindestens in Krisenzeiten durchaus möglich ist.

«Die neue Säule sollte Anreize zur Selbstvorsorge

setzen für diejenigen, die gut für sich selber sorgen können,

aber auch dafür sorgen, dass Menschen in schwierigen

Situationen abgesichert bleiben.»

Aufteilung zwischen Konten

Dem Staat kommen im viel dezentraleren Arbeitsmarkt der Plattformökonomie zwei zentrale Aufgaben zu. Erstens bleibt er als wichtigster Co-Finanzierer der Sozialversicherungen im Boot. Zweitens ist der Staat der wichtigste Organisator einer umfassenden Vorsorge.

Idealerweise hätten wir ein flexibles, kombiniertes System, das die Anreize zur Vorsorge richtig setzt, ohne den Schutz der Bedürftigen zu gefährden – und umgekehrt. Ein solches System müsste folgende Anforderungen erfüllen:

  • Es bietet eine Grundsicherung und verhindert Armut im Alter.
  • Es stärkt die Anreize zum Arbeiten und Sparen.
  • Es ermöglicht eine Anpassung an ein sich änderndes Umfeld mit mehr Selbständigkeit, zeitweiligen Arbeitspausen und höherer Lebenserwartung.
  • Es erlaubt eine Überbrückung von Krisen, sowohl privaten wie auch kollektiven, und freiwilligen Auszeiten.
  • Es beinhaltet einen Mechanismus, Elternschaft, Pflegearbeit und andere Formen gemeinnütziger Arbeit zu berücksichtigen.
  • Es ist transparent und unkompliziert.

Hier ist eine Idee, wie man vorgehen könnte: Die Versicherung des Einkommens während der aktiven Phase der Erwerbstätigkeit könnte mit einer privaten Sparsäule kombiniert werden, die über die betriebliche Altersversorgung und die dritte Säule hinausgeht und während des gesamten Lebens ein teilweise selbst finanziertes Einkommensersatzsystem bietet. In einem universellen beitragsabhängigen System sollten Beiträge auf alle Einkünfte erhoben werden, ohne Unterscheidung zwischen Selbständigkeit und vertraglicher Beschäftigung. Bei unbezahlter Pflegearbeit – insbesondere für ältere Menschen –, Elternschaft und während Diensten an der Gesellschaft (Armee, Zivildienst) würde der Staat die Einzahlungen leisten.

Die so erhobenen Beiträge könnten zwischen den individuellen Konten der Beitragszahler(innen) und den Sozialversicherungen aufgeteilt werden. Alternativ könnte der kollektive Teil teilweise aus Steuergeldern gespiesen werden. Diejenigen, die kein Arbeitseinkommen haben (entweder wegen Arbeitslosigkeit oder einer freiwilligen Auszeit), beziehen zuerst ihre Ersparnisse aus den individuellen Konten und nach der Erschöpfung dieser Mittel ein Ersatzeinkommen aus einer schlankeren Arbeitslosenversicherung (oder allenfalls einer bedarfsorientierten Sozialhilfe).

Die gleiche Logik würde für spätere Lebensabschnitte gelten. Jedes auf dem Einzelkonto verbleibende Geld kann zur Finanzierung einer Erhöhung des Renteneinkommens verwendet werden (welches aus den ersten beiden Säulen stammt). So bleibt den Individuen eine gewisse Wahlfreiheit, wann sie gerne arbeiten und beitragen wollen. Dass die Leute den Einkommensersatz während Auszeiten (ob freiwillig oder unfreiwillig) teilweise selbst finanzieren, bietet einen Anreiz, mit den angesparten Mitteln haushälterisch umzugehen.

Neben der Selbstfinanzierung bleibt es weiterhin wichtig, dass die Sozialversicherungen – ob nach Risikoart (Alter, Arbeitslosigkeit, Invalidität) getrennt oder nicht – für Personen mit geringeren Einkommen und Pflegeaufgaben ein bedarfsorientiertes Grundeinkommen bieten, vor allem wenn wir weiter Richtung Plattformökonomie gehen. Die vorgeschlagene neue Säule sollte daher Anreize zur Selbstvorsorge setzen für diejenigen, die gut für sich selber sorgen können, gleichzeitig aber auch dafür sorgen, dass Menschen in schwierigen Situationen abgesichert bleiben.

Von anderen lernen

Klingt utopisch? Ja und nein. Ja, weil der Teufel im Detail steckt. Nein, weil es neben dem isländischen Ad-hoc-Programm noch andere Beispiele gibt von Systemen, die bereits heute Teilaspekte des skizzierten Vorschlags abdecken. Singapur finanziert sein umfassendes Vorsorgesystem (unter Einschluss der Krankenversicherung, der Finanzierung von Wohneigentum und der Ausbildung der Kinder) seit Jahrzehnten aus Einzelkonten mit einer nachgelagerten, knappen staatlichen Grundsicherung. In kleinerem Massstab führte Chile im Jahr 2002 für einen Teil der Versicherten ein kombiniertes System zur Überbrückung der Arbeitslosigkeit ein. Wer seine Stelle verliert, bezieht zuerst Einkommensersatz aus dem individuellen Konto, nach dessen Aufzehrung ist er oder sie über einen öffentlichen Solidaritätsfonds versichert. Die Versicherten haben später die Möglichkeit, ihr Renteneinkommen mit den übriggebliebenen Mitteln ihres individuellen Kontos aufzustocken. Studien zeigen, dass Individuen im System mit den individuellen Konten – bei gleichem Einkommen – nach dem Verlust der Stelle eine deutlich kürzere Arbeitslosendauer haben.

Alle drei Systeme haben ihre Nachteile. Der Singapurer Vorschlag ist mit Gesundheits- und Wohnausgaben überlastet und führt oft zu tiefen Renten, der chilenische ist zu knapp für niedrige Einkommen. Auf die Evaluation der Auswirkungen der isländischen Überbrückungslösung sind wir gespannt. Die Beispiele zeigen jedoch, dass es sich lohnt, die Verbindung zwischen Arbeit und Rente neu zu denken und zu gestalten.

Die Coronakrise erfordert eine neue Migrationspolitik

Eine Eintrittsgebühr für Einwanderer würde die Integration erleichtern und dem Geschäft der Schlepper einen Riegel schieben.

 

In Europa und in der Schweiz hat die Coronakrise die Flüchtlingsproblematik fast ganz in den Hintergrund treten lassen. Das Elend der Flüchtlinge hat sich jedoch seither in zweifacher Hinsicht verschlimmert. Auf der einen Seite hat sich mit der Ausbreitung des Coronavirus die Situation in den Flüchtlingslagern verschlechtert. So sitzen im griechischen Camp Moria auf Samos 20 000 Menschen auf engstem Raum fest, der eigentlich für nur 3000 Menschen konzipiert ist. Es gelingt nicht, die Menschen auf Europa zu verteilen. Was vor dem Ausbruch der Pandemie schon nicht zustande kam, ist jetzt fast unmöglich geworden. Die katastrophalen Zustände in den Lagern scheinen vielmehr als Abschreckung gegen neue Flüchtlingsströme benutzt zu werden. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Griechenland gratuliert und gedankt, dass es einen Schild gegen den Flüchtlingsansturm bietet – ungeachtet der Tatsache, dass Griechenland Migranten in die Türkei zurückschickt, ohne ihre Asylanträge zu prüfen. Das Recht der Asylbewerber, gemäss der Genfer Flüchtlingskonvention in Länder gelassen zu werden, in denen sie einen Asylantrag stellen können, wurde leider immer schon gebrochen. Aber im Zeitalter der Coronakrise ist die Abwehr von Flüchtlingen noch einfacher zu legitimieren.

Auf der anderen Seite wird der Lockdown mehr Gründe schaffen, aus denen Menschen bei uns Aufnahme suchen. In Entwicklungsländern dürfte nicht das Virus, sondern der Lockdown die meisten Opfer fordern. So sind etwa in Afrika nur zwei Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre und damit medizinisch besonders vulnerabel. Höchst vulnerabel ist aber die Mehrheit der Bevölkerung vieler armer Länder in ökonomischer Hinsicht: Zum Ersten bricht für viele Menschen die Grundlage ihrer Existenz zusammen. Die Näherinnen in Bangladesch oder Kambodscha stehen auf der Strasse – ohne Kurzarbeitsentschädigung, geschweige denn Arbeitslosenversicherung –, weil die reichen Länder die Textilien nicht mehr kaufen. Für die Beschäftigten in der Tourismusindustrie in Fernost und Afrika löst das Reiseverbot ebenfalls eine Katastrophe aus. Zum Zweiten werden die Rimessen stark reduziert, also die Beträge, welche Mi­granten an ihre Familien im Heimatland senden. Rimessen machen ein Vielfaches der Entwicklungshilfe aus und versickern nicht – wie es bei Hilfsgeldern oft geschieht – in dunklen Kanälen. Weil viele Migranten im informellen Sektor arbeiten, erhalten sie keine Arbeitslosenunterstützung und kein Kurzarbeitsgeld. Deshalb sind sie nicht mehr in der Lage, ihre Familien zu Hause zu unterstützen. Die Rimessen, welche in normalen Zeiten z.B. in Senegal 10 und in Nigeria 6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachen, sind in den letzten zwei Monaten auf die Hälfte gesunken. Zum Dritten führen die geschlossenen Schulen dazu, dass – gemäss Verlautbarungen des Welternährungsprogramms der UNO – mehr als 370 Millionen Kinder keine Schulmahlzeiten mehr bekommen. Zum Vierten besteht die Gefahr, dass aus Angst vor dem Coronavirus viele Gesundheitszentren schliessen oder die Menschen Angst haben, in diese Zentren zu gehen. Dann wird die weltweite Zahl der Malaria- und HIV-Toten, die schon heute viel höher ist als die der Coronatoten, nach oben schnellen. Zum Fünften benutzen zahlreiche autoritäre Regimes die Coronapandemie als Vorwand, sich noch mehr diktatorische Macht anzueignen oder die Opposition einzuschüchtern – z.B. in Ungarn, Serbien, Türkei, Indien und Uganda. Eine andauernde «strongman flu» könnte zu neuen Menschenrechtsverletzungen und damit Asylgesuchen führen.

Humanitäre Gründe und Eigeninteressen

Die Pandemie wird somit die humanitären und wirtschaftlichen Probleme und damit den Migrationsdruck in den armen Ländern enorm verstärken. Gleichzeitig sinken die Chancen zur Migration, weil zum einen die pandemiebedingten Grenzen undurchlässiger werden und gleichzeitig die Akzeptanz der Abschottung in der Bevölkerung steigt. Es scheint also kein guter Zeitpunkt, um für mehr und bessere legale Möglichkeiten für die Migration zu werben. Warum sollte man es trotzdem tun?

Es sind zum einen humanitäre Gründe, die unsere immer noch reichen Länder dazu bewegen sollten, auch für die verarmten Nachbarn Sorge zu tragen. Humanitäre Gründe veranlassen uns, in unseren Ländern die Wirtschaft zu grossen Teilen stillzulegen, um unsere älteren und vulnerablen Mitbürgerinnen und Mitbürger vor einer Infektion zu schützen. Dieselben Gründe sollten gelten, wenn es um den Schutz des Lebens von Menschen in armen Ländern geht. Anderenfalls müsste man zugeben, dass Menschenleben bei uns schützenswerter seien als in armen Ländern. Mit einer solchen Haltung geben wir universelle Menschenrechte auf, welche sich die westlichen Staaten sonst gerne auf die Fahne schreiben.

Zum anderen sind es durchaus eigennützige Motive, welche uns veranlassen sollten, für mehr und bessere legale Einwanderungsmöglichkeiten zu sorgen. Einwanderer waren von jeher eine kreative Ressource für Wirtschaft und Gesellschaft. Dies legen etwa Eric Weiner in «The Geography of Genius» und Joseph Jung in «Das Laboratorium des Fortschritts» ausführlich dar. Nicht nur haben Zuwanderer wie der aus Bamberg stammende Walter Boveri in der Schweiz oder Levi Strauss aus Buttenheim in den USA innovative Neugründungen initiiert. Sie bringen auch neue Perspektiven und machen damit die Einheimischen produktiver und dynamischer.

Selbstverständlich ist nicht zu erwarten, dass Flüchtlinge aus Entwicklungsländern, die nur über geringe Bildung verfügen, sich sofort bei uns positiv einbringen können. Dazu ist Geduld vonnöten. Fortschritt und Genialität beruhen jedoch auf einer Kombination von bereits Bekanntem mit neuen Einflüssen, die zu einem erheblichen Teil von Personen aus anderen Kulturkreisen stammen und sich manchmal erst nach einiger Zeit entfalten können. Dabei muss von unserer Seite deutlich gemacht werden, dass Migranten – sofern nicht asylberechtigt – keinen Anspruch darauf haben, von uns umstandslos aufgenommen zu werden und von unserem Sozialsystem zu profitieren, sondern dass ihre Eigeninitiative und Energie notwendig sind.

«Hohe sozialstaatliche Leistungen bewirken eine negative Selektion:

Der Anteil von Migranten mit schlechten Integrationschancen steigt.»

Ein Beitrag zum Gemeingut

Zur Lösung dieser vielschichtigen Anforderungen kann das Modell der Genossenschaft herangezogen werden, das in der Schweiz eine lange Tradition hat. Wer Genossenschafter werden und an den gemeinschaftlichen Gütern partizipieren will, muss einen Genossenschaftsschein erwerben. Analog müssten Migranten, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen wollen, einen Beitrag erbringen. Dieser ermöglichte ihnen, ohne Gefahr für Leib und Leben zu uns zu kommen. Menschen, die der Armut entkommen wollen, müssen nicht länger Asylgründe vorschieben, um eine Bleibechance zu erhalten. Der Eintritt in den Arbeitsmarkt müsste unmittelbar nach der Ankunft möglich gemacht werden. Bekanntlich erfolgt ein Grossteil der Integration über die Arbeit – und dies steigert gleichzeitig die Akzeptanz durch die einheimische Bevölkerung.

Unser Vorschlag erscheint auf den ersten Blick befremdlich. Warum sollte man von Menschen, die vor Armut und Krieg flüchten, einen Mitgliedsbeitrag erheben? Allerdings muss schon heute jeder Flüchtling im Durchschnitt 9000 Franken für Schlepper und falsche Pässe bezahlen und noch dazu sein Leben riskieren. Darüber hinaus ist es unsicher, ob er im Zielland ankommt. Wenn nicht, ist das Geld für immer verloren. Bei unserem Vorschlag würden anerkannte Asylbewerber das Geld vom aufnehmenden Land zurückerhalten. Alle anderen zahlen es als Beitrag zum Gemeingut der Genossenschaft und für die Bereitstellung der nötigen Infrastruktur für ihre Integration ein. Vorstellbar ist, dass ein Markt für Mikrokredite entsteht. Dies würde die Motivation steigern, im Zielland so schnell wie möglich finanziell unabhängig zu werden. Für Menschen in Not könnten humanitäre Organisationen und Einzelpersonen die Gebühr übernehmen. Die hohe Spendenbereitschaft unserer Bevölkerung könnte dafür aktiviert werden. Überdies zeigt die Migrationsforschung, dass – vorausgesetzt, die Grenzen sind nicht abgeschottet – nach etwa zehn Jahren etwa 50 Prozent der Migranten nach Hause zurückkehren, ausgestattet mit Startkapital für neue Projekte und mit viel Know-how.

Sozialstaat als Integrationsbremse

Dieser Lösungsansatz würde Migranten nicht nur einen schnellen Eintritt in den Arbeitsmarkt ermöglichen, sondern auch eine rasche Integration. Diese wird nämlich keineswegs durch teure sozialstaatliche Hilfen gefördert. Eher ist das Gegenteil der Fall. Der Migrationsforscher Ruud Koopmans hat anhand eines Vergleichs der Niederlande, Schwedens, Deutschlands, Österreichs und der Schweiz gezeigt, dass hohe sozialstaatliche Leistungen für Migranten zu geringerer Beteiligung am Arbeitsmarkt, geringeren Anreizen zum Erlernen unserer Sprache, hoher Segregation auf dem Wohnungsmarkt und höherer Kriminalität der Migranten führen. Solche Leistungen bewirken eine negative Selektion: Der Anteil von Migranten mit schlechten Integrationschancen steigt. Auch ist es unwürdig, Menschen an selbständiger Arbeit zu hindern.

Es könnte eingewendet werden, dass dieses Modell denen nicht viel helfen würde, die am schlimmsten von der Coronakrise betroffen sind. Es sind jedoch schon vor der Krise nicht die Allerärmsten gewesen, welche sich die hohen Schleppergebühren haben leisten können. Die Ärmsten profitieren aber indirekt: Die Migranten verdienen bei uns – dank der besseren Infrastruktur – ein Vielfaches dessen, was sie bei gleicher Tätigkeit und Qualifikation in ihrem Heimatland einnehmen würden. Sie sind deshalb in der Lage – und tun das in einem erstaunlich hohen Ausmass –, Rimessen in ihre Heimat zu überweisen. Ihr Verdienst bricht jedoch in der Coronakrise ein, wenn sie als Illegale im informellen Sektor arbeiten müssen. Von den Rimessen profitieren nicht nur ihre eigenen Familien, sondern es werden im Heimatland Jobs geschaffen. Nach Schätzungen verursacht jeder Dollar, der nach Hause fliesst, im Heimatland fast das Doppelte an ökonomischer Aktivität. Darüber hinaus erzeugt die Möglichkeit zu legaler Migration einen Anreiz, sich zu bilden. Das wirkt der Perspektiv­losigkeit entgegen. Befunde zeigen, dass dies allein schon einen ökonomischen Auftrieb bewirkt, so dass die Emigration weniger attraktiv und dringend wird.

Man kann sich den durch die Coronakrise steigenden Migrationsdruck weder wegwünschen noch ihn hinter der Mediatisierung der Pandemie in unseren reichen Ländern verschwinden lassen. Deswegen brauchen wir konstruktive Vorschläge, die der illegalen Migration entgegenwirken, indem legale Einwanderungsmöglichkeiten geschaffen werden, anstatt höhere Mauern um Europa zu bauen. Unser Vorschlag will dazu einen Beitrag leisten.

Klug gespart ist halb saniert

Die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise verdeutlichen den Nutzen der Schuldenbremse. Nach dem Ausgabenrausch ist es entscheidend, den Kompass wieder auf solides Haushalten auszurichten.

 

Pandemien sind nicht nur enorme medizinische und gesundheitspolitische Herausforderungen. Wie die aktuelle Coronakrise vor Augen führt, ist mit einer Pandemie auch ein massiver volkswirtschaftlicher Schock verbunden: Es droht die grösste wirtschaftliche Rezession seit der Grossen Depression der 1930er Jahre. Gemäss der Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird die Weltwirtschaft um drei Prozent einbrechen. Für die Schweiz rechnet das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) im laufenden Jahr mit einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um fast sieben Prozent und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf rund vier Prozent.

Diese wirtschaftlichen Verwerfungen finden ihren Niederschlag in den Staatshaushalten rund um den Globus. Einerseits werden die Steuereinnahmen durch die tiefere Wirtschaftsleistung zurückgehen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben in schwindelerregende Höhen. Weltweit summieren sich die Kosten der ­Bewältigung der Coronapandemie gemäss IWF bereits auf über acht Billionen Dollar. In der Schweiz hat der Bund innerhalb von wenigen Wochen Massnahmen im Umfang von über 72 Milliarden Franken beschlossen. Die Folgen sind Defizite und Schulden, welche die Niveaus der globalen Finanzkrise von 2009 bei weitem übersteigen werden. Und damit wird einmal mehr die Frage ins Zentrum rücken, ob und wie die Schuldenberge wieder abgebaut werden sollten.

Die Debatte hat historische Wurzeln

Diese Fragen und der damit einhergehende ökonomische Diskurs sind so alt wie zeitgemäss. Einer der frühen und prominentesten Befürworter der Sparsamkeit und des Schuldenabbaus war David Ricardo. Der englische Ökonom argumentierte 1820, die Schulden von heute seien die Steuern von morgen. Der Bürger wisse bei steigenden Staatsausgaben, dass er die dafür vom Staat aufgenommenen Schulden irgendwann zurückzahlen müsse. Daher bilde er Rücklagen, um die künftige Steuerschuld zu begleichen beziehungsweise seinen Konsum zu glätten. Das aber gehe zulasten der aktuellen Konsumausgaben.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten ­einige im Verein für Socialpolitik organisierte Finanzwissenschafter, unter ihnen Carl Dietzel, Lorenz von Stein oder Adolph Wagner, eine völlig andere Perspektive. Besonders Dietzel sah 1855 in dem rasanten Zuwachs britischer Staatsschulden seit der «Glorious Revolution» von 1688, als die absolutistische Herrschaft des Königs gebrochen und durch Budgetrechte des Parlaments abgelöst wurde, eine wesentliche Ursache des Aufstiegs der britischen Wirtschaft zur führenden Weltmacht. Die Finanzwissenschafter sprachen der produktivitätssteigernden Wirkung der staatlichen Dienstleistungen in allen Bereichen das Wort.

Diese beiden Perspektiven sind der Kern des immer wieder aufflammenden fundamentalen Dissens in der Wirtschaftspolitik. Die eine Seite plädiert in postkeynesianischer Manier für schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme der öffentlichen Hand. Die andere hält – ganz im Sinne Ricardos – das Eingreifen des Staates für überflüssig und plädiert für einen ausgeglichenen Haushalt als Basis solider und vertrauenssichernder Finanz- und Wirtschaftspolitik.

Unbestritten ist: Durch Aufnahme längerfristiger Kredite kann der Staat kurz- und mittelfristig seinen finanziellen Spielraum erhöhen. Die Frage, die sich die Finanzwissenschaft heute stellt, ist nicht, ob Staaten Schulden machen sollen, sondern wie viel Schulden sie machen sollten. Die Antwort hängt wesentlich davon ab, ob der Staat dieses Mittel der Finanzierung seiner Ausgaben nutzen kann, ohne seine zukünftige Kreditwürdigkeit und Zahlungsfähigkeit zu beschädigen. Die grundsätzlichen Auswirkungen von Staatsschulden auf die Handlungsfähigkeit des Staates hat bereits Evsey Domar in den 1940er Jahren gezeigt: «The faster income grows, the lighter will be the burden of the debt.» Er kommt zum Schluss, dass die Staatsschuld langfristig nicht schneller wachsen kann als das Sozialprodukt.

Wenn Staatsschulden ungebremst wachsen, wird irgendwann die Toleranzgrenze der Gläubiger erreicht. Dies zeigte sich etwa, als im Zuge der grossen Rezession nach 2010 einige für den Euroraum wichtige Volkswirtschaften in finanzielle Notlage gerieten. Zinsdifferenzen bei den gehandelten Staatsanleihen spreizen sich dann jäh. Der US-Ökonom Kenneth Rogoff spricht vom «Phänomen der Schuldenintoleranz». Die Folge davon ist die eingeschränkte Möglichkeit zur Kreditaufnahme bis hin zur Kreditklemme. Um aus dieser Klemme herauszukommen, bleibt dann im wesentlichen nur die Wahl zwischen Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen oder einer Kombination von beidem. Konkret bedeutet dies Austerität – also Disziplin, Entbehrung und Sparsamkeit.

Austerität ist ein Begriff, der den Vergleich zu den Dreissigerjahren des vorigen Jahrhunderts provoziert. Zu Unrecht, wie wir meinen. Der Vergleich der aktuellen Lage mit der Zwischenkriegszeit hinkt. Im Fall Griechenlands einigten sich EU und IMF auf Stützungsmassnahmen in der Höhe von 110 Milliarden Euro. Darüber hinaus wurde ein Rettungsschirm im Umfang von 750 Milliarden Euro aufgespannt. Die Zentralbanken haben als Reaktion zusätzlich die Zinsen der hochverschuldeten Staaten durch Staatsanleihenkäufe reduziert. Exemplarisch sind in diesem Zusammenhang die Aussagen des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, der versprach, alles Notwendige zu tun, um Griechenland und damit den Euro zu retten: «Whatever it takes.»

Unbestritten ist, dass es Draghi mit seinem Versprechen gelungen ist, die Krise zu beruhigen und den drohenden Zusammenbruch des Euro abzuwenden. Die Geldpolitiker erhofften sich allerdings, dass die betroffenen Staaten die Entlastung nutzen würden, um ihre Schuldenberge auch tatsächlich abzubauen. Davon war in den meisten Ländern wenig zu sehen – im Gegenteil.

Die Weigerung, zu soliden Staatsfinanzen zurückzukehren, bedroht eine nachhaltige und langfristig tragfähige Finanzpolitik und damit die Resilienz, um auf Krisen wie Pandemien adäquat reagieren zu können. Das Konzept der antizyklischen Finanzpolitik sieht vor, die Verschuldung im Aufschwung wieder abzubauen. «The boom, not the slump, is the right time for austerity at the treasury», erklärte sogar Keynes 1937. Was in der Theorie schlüssig ist, scheint in der politischen Realität allerdings nicht leicht zu ­realisieren.

Regelbindung als kluger Mittelweg

Die grundsätzliche Frage lautet deshalb: Welche Rahmenbedingungen sind sinnvoll, um in schlechten Zeiten Ausgaben tätigen zu können, gleichzeitig aber eine persistent steigende Verschuldung in guten Zeiten präventiv zu verhindern? Das Beispiel der Schweiz zeigt: Es gibt durchaus Mittel und Wege, das Schuldenwachstum zu begrenzen und Austerität zu verhindern. Die Rezession der Neunzigerjahre war einschneidend: Die Verschuldung von Bund, Kantonen und Gemeinden schnellte innerhalb eines Jahrzehnts um rund 20 Prozentpunkte auf fast 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hoch. Alleine die Schulden des Bundes stiegen zwischen 1990 und 2002 von 37 auf über 120 Milliarden Franken.

Knapp zwanzig Jahre später steht die Schweiz deutlich besser da als die meisten anderen Industrieländer. Die Divergenz ist spektakulär – und lässt sich an einem Punkt festmachen: dem Jahr 2003. Damals wurde die sogenannte Schuldenbremse in die Bundesverfassung aufgenommen. Der Bundeshaushalt wurde seither auf Resilienz und Nachhaltigkeit getrimmt. Davon profitiert die Schweiz in der aktuellen Krise. Dennoch sollte man nicht vergessen: Seit der Einführung der Schuldenbremse wurden Schulden in der Höhe von 24 Milliarden abgebaut. Fast im gleichen Umfang wurden im Rahmen der Massnahmenpakete nun Ausgaben getätigt – innerhalb von wenigen Wochen. Und die Krise ist noch nicht ausgestanden. Die Schuldenstände werden massiv ansteigen und mittelfristigen Konsolidierungsbedarf nach sich ziehen.

Da Steuererhöhungen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten kontraproduktiv wirken können, werden wohl auch mit einer Rückkehr auf den langfristigen Wachstumspfad Sparmassnahmen unumgänglich. Die Möglichkeiten für Ausgabenkürzungen sind jedoch aufgrund der hohen gebundenen Ausgaben (zwei Drittel der Bundesausgaben) begrenzt. Gerade im grössten Ausgabenbereich, der sozialen Wohlfahrt, sind viele Ausgaben gesetzlich festgelegt. Steht weniger Geld zur Verfügung, werden Kürzungen ­deshalb in der Regel im Bereich Landwirtschaft, Bildung und Forschung, Entwicklungshilfe oder bei der Armee vorgenommen. Um den finanzpolitischen Spielraum nicht über Gebühr einzuschränken, müsste allenfalls über Gesetzesanpassungen das Problem der gebundenen Ausgaben angegangen werden. Zudem wäre für die Mehrausgaben ein längerfristiger Abbaupfad analog den späten 1990er und frühen 2000er Jahren zu entwerfen. Die Abtragungsfrist der Abfederungsmassnahmen müsste womöglich auf 15 Jahre oder mehr erstreckt werden.

Um die Widerstandsfähigkeit der Bundesfinanzen auch für kommende Krisen zu erhalten und um strukturellen Problemen vorzubeugen, sollte die Schuldenbremse in jedem Fall in ihrer heutigen Funktionsweise beibehalten werden. Alles andere wäre kurzsichtig. Der mittelfristige Konsolidierungsbedarf reduziert sich nicht mit dem Aussetzen der Schuldenbremse, wie es nun vielfach gefordert wird. Um eine konjunkturelle Abwärtsspirale zu verhindern, kann der Bund jetzt an zwei Stellen ansetzen: bei der Priorisierung der Ausgaben und bei der Festlegung der Amortisationsfrist.

Gute Regeln sind wichtiger als gute Spieler

Schulden sind per se weder gut noch schlecht. Sie sind die Grundlage für eine moderne Staatsfinanzierung und gerade in Krisenzeiten wie der aktuellen Pandemie unverzichtbar. Doch Staatsschulden bergen Risiken: Wie die Politische Ökonomie uns lehrt, neigt die parlamentarische Demokratie zu exzessiven Staatsausgaben. Das beste Mittel für diese Art von Problem liegt in klugen Rahmenbedingungen. Der Ökonom James Buchanan meinte nicht zu Unrecht: «Good games depend on good rules more than they depend on good players.»

Nach dem Ausgabenrausch sollten wir wieder den Kompass auf die langfristige Tragfähigkeit legen. Finanzpolitische Disziplin braucht Fürsprecher und Selbstverantwortung, denn im tagespolitischen Hickhack werden die ordnungspolitischen Grundsätze soliden Haushaltens nur allzu leichtfertig beiseitegeschoben.

Technologieverbote retten das Klima nicht

Um die Erderwärmung einzudämmen, müssen CO2-Emissionen endlich ein Preisschild bekommen. Staatliche Vorgaben, welche Energieversorgung «richtig» und welche «falsch» ist, verhindern die Lösung des Problems.

 

Es herrscht Ruhe um das Klima. Sie ist trügerisch. Sie wird zu Ende gehen, sobald sich die Aufregung um das Coronavirus gelegt haben wird. Dann wird es wieder Demonstrationen geben und Schulstreiks. Die EU wird ihren «Green Deal» wieder propagieren und die Grünen und Roten den Umbau der Gesellschaft verlangen.

Was ist eigentlich dran an der Bedrohung durch das Klima? Müssen wir wirklich in Panik verfallen? Oder ist es am Ende doch nur ein Trick linker Etatisten, mit dem sie den Kapitalismus «überwinden» wollen? Letztere Meinung ist gerade in liberalen Kreisen weit verbreitet. Das ist verständlich, denn letzten Endes ist das Klimaproblem ein Marktversagen, und das ist schwer zu akzeptieren. Es ist ein Marktversagen, weil die Kosten weit in der Zukunft liegen und unter anderem deshalb im Preis nicht abgebildet sind. Dazu kommt, dass gerade die Anhänger der Marktwirtschaft sich besonders bewusst sind, was wir den fossilen Brennstoffen Kohle, Öl und Gas zu verdanken haben, nämlich so ziemlich alles, was wir heute haben, das unsere Vorfahren vor 250 Jahren nicht hatten: Wohlstand, Gesundheit, langes Leben und jeden erdenklichen Luxus. Und jetzt sollen wir möglichst bald ohne diese Energiequelle auskommen? Ja, es ist schwer, sich mit dieser Tatsache abzufinden.

Der menschengemachte Klimawandel ist seit über hundert Jahren vorausgesagt worden. Wer jemals in einer Wüste übernachtet hat, kennt das: Weil die Luft dort sehr trocken ist, wird es in der Nacht empfindlich kalt. Die Wärme wird weitgehend ungehindert in den Weltraum abgestrahlt. Tropennächte sind warm, weil die Luft feucht ist. Der Wasserdampf in der Luft behindert die Abstrahlung, deshalb ist es wärmer. Genau so wirkt CO2. Folgende drei Fakten sind unbestritten:

  1. Der CO2-Gehalt der Atmosphäre nimmt zu.
  2. Das zusätzliche CO2 (bis heute 32 Prozent Zunahme seit dem ­Beginn der Industrialisierung!) stammt vorwiegend aus der Verbrennung von fossilen Brennstoffen.
  3. Mehr CO2 führt zu einer Erwärmung.

Hier beginnen die Kontroversen. Wie viel wärmer wird es und wie schnell? Was würde zum Beispiel eine Verdoppelung des CO2-Gehalts der Atmosphäre bewirken? Weil wir keine zweite Erde haben, mit der wir vergleichen könnten, sind wir auf Modellrechnungen angewiesen, und Modelle sind immer unvollkommen. Die Resultate von Dutzenden von Berechnungen streuen zwischen 1,5 und 4,5 Grad, allerdings mit einer deutlichen Häufung bei 3 Grad.

Aber ist denn eine Verdoppelung überhaupt möglich? Ja, sie ist nicht nur möglich, sie ist wohl unabwendbar. Vor dem Industriezeitalter enthielt die Luft 280 Millionstel CO2. Der heutige Wert beträgt 415 Millionstel. Jedes Jahr kommen 2,5 bis 3 Millionstel dazu. Von einer Verdoppelung auf 560 Millionstel sind wir also höchstens ein paar Jahrzehnte weg. Aber man hat sich ja an der Klimakonferenz in Paris 2015 versprochen, unter 2 Grad Erwärmung zu bleiben. Es eilt also.

Rückkehr in die Vormoderne?

Allerdings hat niemand gesagt, was denn genau zu tun sei. Das Problem hat prinzipiell zwei mögliche Lösungen: Entweder verzichten wir auf die Nutzung fossiler Brennstoffe und versuchen, ohne diese Energie auszukommen, oder wir ersetzen sie durch eine andere Energiequelle.

Wenn man Klimaaktivisten zuhört, könnte man meinen, die erste Lösung biete überhaupt keine Probleme. Man muss ja nicht fliegen, Fleisch ist ohnehin ungesund und Radfahren produziert kein CO2. Sie haben die Grösse, das beängstigende Ausmass des Problems nicht verstanden. So verursachte der gesamte Luftverkehr vor Corona gerade mal 2,8 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Ein Verzicht auf fossile Brennstoffe heisst nichts anderes als Rückkehr in die Vormoderne. Bloss dass wir mit den Methoden der Vormoderne nicht knapp eine Milliarde Menschen zu ernähren hätten, sondern bald deren acht.

Es ist schon erstaunlich, wie leichthin gestandene Politiker und (besonders) Politikerinnen mit solchen apokalyptischen Gedanken spielen. Man könnte meinen, die Industrie, die Gewerbler und Dienstleister würden Öl und Gas zum Vergnügen verbrennen. Ich habe immer noch die Antwort einer Demonstrantin in den Ohren, die auf die Frage, was denn zu tun sei, sagte: «Einfach aufhören zu emittieren.» Sie meinte das tatsächlich ernst, wohl ohne zu wissen, dass drei Viertel unserer Energieversorgung mit «emittieren» einhergehen. Dass Energie ein Produktionsfaktor ist, ohne den eben nichts produziert werden kann, ist offenbar nicht in ­allen Köpfen angekommen.

Wer etwas besser informiert ist, rät zum «Sparen», wobei nicht immer klar ist, ob damit Verzicht oder Effizienz gemeint ist. Gegen letzteres ist selbstverständlich nichts einzuwenden. Allerdings vergessen die Sparer oft das, was auf Neudeutsch «Rebound-Effekt» heisst. Dabei geht es um die Beobachtung, dass effizientere Prozesse, weil sie wirtschaftlicher sind, häufiger angewendet werden und so eine Einsparung in ihr Gegenteil kippt. Statt einen stromfressenden Fernseher haben wir heute in fast jedem Zimmer einen stromsparenden. So viel zum Thema Sparen.

Abgabe auf allen Emissionen

Wenn wir von den fossilen Energiequellen wegkommen wollen, führt kein Weg daran vorbei, sie zu ersetzen durch eine andere Energiequelle, ebenso ergiebig und ebenso billig. Und hier liegt das Problem: ebenso billig! Das ist fast nicht möglich, weil die zukünftigen Schäden und damit die Kosten der fossilen Energiequellen nicht eingepreist sind und sie dadurch einen unverdienten Marktvorteil geniessen. Die Kosten sind nicht nur externalisiert, sie sind auch futurisiert, also in die Zukunft verschoben. Das muss man ändern, indem man dafür sorgt, dass die Emission von CO2 ­etwas kostet. CO2 muss einen Preis haben. Aber wie hoch soll dieser sein und wie erhoben werden?

Gegenwärtig setzt man auf «Cap and Trade»: Politische Organisationen, zum Beispiel die EU, legen eine Obergrenze für die CO2-Emissionen in ihrem Gebiet fest («Cap»). Diese Emissionsrechte werden auf die grossen Emittenten wie Kraftwerke, Industrie- und Produktionsanlagen verteilt. Wer sie nicht benötigt, kann sie verkaufen («Trade»). Die Emissionsrechte werden jedes Jahr um einen bestimmten Betrag vermindert.

In der EU führt das zum Beispiel dazu, dass der angekündigte deutsche Kohleausstieg nichts bringt, weil die deutschen Emissionsrechte frei werden und verkauft werden können, zum Beispiel an Polen oder Italien. Das System versagt auch deshalb, weil es nur die grossen Emittenten betrifft. Für Ölheizungen und Autos gibt es keinen «Cap».

Wirksamer wäre eine CO2-Abgabe auf allen Emissionen im Sinn einer vorgezogenen Deckung der zu erwartenden Kosten. Wie hoch sind diese? Dazu gibt es verschiedene Schätzungen. Eine der ersten stammt von Nicolas Stern vom November 2006. Die Schätzungen bewegen sich zwischen 1 Prozent und 4 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts, was umgerechnet auf eine Tonne emittiertes CO2 40 bis 160 Dollar ausmacht. Das war 2006. Seit damals haben wir 14 Jahre verloren und es wird entsprechend teurer.

Die Einführung gleich langer Spiesse durch Kostenwahrheit heisst natürlich auch, dass marktverzerrende Subventionen, wie sie heute nicht nur die erneuerbaren Energiequellen, sondern ­vielerorts auch die fossilen Brennstoffe geniessen, verschwinden müssen.

Natürlich gibt es da ein Problem: Wenn bloss einzelne Länder eine solche CO2-Abgabe einführen, nützt das gar nichts. Sie müsste weltweit gelten. Braucht es dafür eine Weltregierung? Für jeden liberal denkenden Menschen ist das eine Horrorvorstellung. Es bräuchte eine Vereinbarung. Das ist nicht einfach, aber ähn­liches ist in der Vergangenheit geglückt, etwa beim GATT (General Agreement on Tarifs and Trade), später der WTO (World Trade Organization). Solches muss auch beim Klimaproblem möglich sein.

Kernkraft hat das grösste Potenzial

Wenn die Spiesse gleich lang sind, dürfte sich die Kernenergie als Ersatz für die fossilen Energiequellen durchsetzen. Vielleicht dort, wo der Standort vorteilhaft ist, auch die eine oder andere neue erneuerbare Quelle, allerdings höchstens als Nischenprodukt. So könnte der Verbrauch fossiler Brennstoffe nach und nach abnehmen, vorausgesetzt, dass sich die Politik zurückhält und nicht versucht festzulegen, welche Art von Energieversorgung die «richtige» und welche die «falsche» ist, wie das in Deutschland und der Schweiz geschehen ist. Das Verbot der Kernenergie und der Wiederaufbereitung abgebrannter Brennstäbe («Atommüll» genannt) geht von falschen Vorstellungen aus. Die Kernkraftwerke der Zukunft werden sich grundlegend von den heutigen unterscheiden. Sie sind klein und inhärent sicher. Das heisst, sie sind nicht deshalb sicher, weil genügend Sicherheitsbarrieren eingebaut wurden, sondern weil sie sich aufgrund physikalischer Gesetze aus jedem unsicheren Zustand in einen sicheren bewegen. Sie können deshalb überall gebaut werden. Jedem Dorf und jedem Quartier sein AKW!

Aber ob sich die Marktvernunft durchsetzt, ist nicht selbstverständlich, wie das Beispiel Deutschland zeigt: Mit den gut 200 Milliarden Euro, welche die deutschen Stromkonsumenten während der letzten 10 Jahre in Wind und Sonne gebuttert haben, hätte man leicht 40 grosse Kernkraftwerke bauen können, oder die entsprechende Anzahl kleine. Diese hätten jedes Jahr über 400 Terawattstunden produziert – zuverlässig Tag und Nacht. Aus Wind und Sonne stammten 2019 in Deutschland 174 Terawattstunden, die oft zu Zeiten angefallen sind, da man sie nicht brauchte, dafür fehlen sie, wenn nachts Windstille herrscht. Diese eklatante Fehlallo­kation von begrenzten finanziellen Ressourcen kam nur deshalb zustande, weil die Regierung glaubte, gescheiter zu sein als der Markt.

Kernenergie ist gegenüber den Erneuerbaren, wie das Beispiel zeigt, schon jetzt konkurrenzfähig und erst recht mit der nächsten Generation von Kraftwerken. Die seit Jahrzehnten vorgebrachten, immer gleichen Argumente gegen die Kernenergie sind längst nicht mehr stichhaltig.

Die Förderung der fossilen Brennstoffe durch Subventionen und Auslagerung ihrer Kosten muss beendet werden. CO2-Emissionen müssen endlich einen angemessenen Preis haben.

Zwei Swisscom-Angestellte schliessen ein Tor zum Sendemast des Landessenders Beromünster ab. Bild: KEYSTONE/Urs Flüeler.

Navigationshilfe aus
dem Regulierungsdschungel

Abgeschottete Märkte, von Staatsunternehmen verdrängte Private: Klientelpolitik verhindert allzu oft liberale Lösungen. Dagegen helfen unabhängige Institutionen – zum Beispiel eine neue Gegenvorschlagskommission.

 

Wenn man die mediale Berichterstattung oder Diskussionen in sozialen Medien verfolgt, könnte man meinen, «liberale» oder «neoliberale» Ideen und Konzepte hätten die Politik fest im Griff. Doch der Schein trügt. Liberale Ideen sind rar, darauf aufbauende Politik noch rarer. Die Märkte sind engmaschig durchreguliert. Viele Preise sind staatlich beeinflusst, reguliert oder administriert, angeblich zum Schutz der Konsumenten. Nominell liberale Parteien betreiben, wie konservative oder linke Parteien, Klientelpolitik mit wenig programmatischem Liberalismus.

Grundlegend liberale Politik beginnt mit dem Schutz von und dem Einsatz für freiheitliche Institutionen. Die wohl bekanntesten und effizientesten Institutionen zur Begrenzung zentralistischer Machtausübung und zur Erhaltung individueller Freiheiten sind Föderalismus und direkte Demokratie. Weniger oft diskutiert, aber ebenso wirkungsvoll sind unabhängige Evaluationsgremien. Allgemeine Steuerzahler- und Konsumenteninteressen sind nur sehr schlecht organisierbar und damit systematisch Opfer politischer Kuhhändel, bei denen sich unterschiedliche Partikularinteressen auf Kosten der Allgemeinheit einigen.

Unsere Forschungsergebnisse zum Einfluss von unabhängigen, vom Volk gewählten Rechnungs- und Geschäftsprüfungskommissionen (RPK) zeigen, dass deren Analysen, Informationen und gegebenenfalls Gegenvorschläge einen grossen Einfluss auf die öffentlichen Finanzen haben.1 Durch die systematische Bereitstellung unabhängiger Information zum Einfluss politischer Vorschläge auf die öffentlichen Finanzen werden die Kosten von Massnahmen zugunsten von Partikularinteressen plötzlich für alle sichtbar. In Gemeinden mit stark ausgebautem Prüf- und Informationsmandat der RPK liegen die Steuer- und Ausgabenbelastung zwischen 15 und 20 Prozent tiefer als in Gemeinden mit schwachem RPK-Mandat.

In Anlehnung an die Funktionsweise der RPK im Bereich der öffentlichen Finanzen kann man einen Schritt weiter gehen und eine unabhängige Gegenvorschlagskommission schaffen. Dieses Gremium könnte alle Politikvorschläge evaluieren und alternative Gegenvorschläge zu Parlament und Regierung entwickeln, ohne aber selbst mitentscheiden zu können. Durch die Wahl der Mitglieder in einem gesamtschweizerischen Wahlkreis im Majorzverfahren mit mehreren Sitzen würde eine zum Parlament unterschiedliche Gruppierung von Politikern gewählt. Die Direktwahl durch die Bürger, die fehlenden Entscheidungsbefugnisse und die unterschiedliche Selektion der Mitglieder gäben Anreize, konstruktiv und in Konkurrenz zu den etablierten Kräften Politikalternativen für die Allgemeinheit statt Spezialinteressen zu entwickeln.

Schlanke Rahmenbedingungen für funktionierende Märkte

Liberale schützen die individuelle Entscheidungsfreiheit, solange diese zum gesellschaftlichen Wohl beiträgt und Dritte nicht negativ betrifft. Ist dies nicht der Fall, sprechen Ökonomen von Marktversagen. Marktversagen beschreibt die Umstände, in welchen individuelle Entscheidungen nicht zu gesellschaftlich wünschbaren Ergebnissen führen. Entweder entstehen Externalitäten, wobei unbeteiligte Dritte durch individuelle Entscheidungen geschädigt oder enteignet werden, oder individuell erwünschte Güter und Dienstleistungen werden nicht, nur ungenügend oder ineffizient erstellt. Die Bedingungen für das Versagen von Märkten lassen sich auch auf andere gesellschaftliche Interaktionen ausserhalb von Märkten übertragen.

Gesellschaftliche Prozesse und Märkte bedürfen zumeist nur eines Rahmens: Definition und Schutz der Eigentumsrechte, freie Preisbildung, freier Marktein- und -austritt. Die meisten Märkte wären kaum von signifikantem Marktversagen betroffen. Viele funktionieren aber schlecht, weil sie von einer hohen Regulierungsdichte und Regulierungsversagen betroffen sind.

Der Regulierungsdschungel, welcher etwa den Binnenmarkt vor ausländischer Konkurrenz schützt, hat nicht mit Marktversagen, sondern mit Klientelpolitik zugunsten des inländischen Gewerbes und auf Kosten der Konsumenten zu tun. Schweizer Fenster oder Küchen etwa haben leicht abweichende Normen, was den Wettbewerb beschränkt und die Preise in die Höhe treibt. Andere Sektoren wie die Landwirtschaft oder der Handel wurden durch die Durchlöcherung des Cassis-de-Dijon-Prinzips2 – mit Hilfe nominell liberaler Parteien – und weitere marktabschottende Massnahmen geschützt.

Neben engmaschiger Regulierung sind auch staatliche oder staatsnahe Unternehmen allgegenwärtig. Sie reichen von der Post über die SBB bis zu Swisscom und SRG. Natürlich kann staatliche Erstellung oder Eigentümerschaft angezeigt sein. Das gilt für die Produktion von öffentlichen Gütern wie Sicherheit (z.B. Armee, Polizei) oder die Erstellung und den Betrieb von Netzwerkinfrastruktur mit hohen Fixkosten und Marktversagen (z.B. Strassen-, Schienen-, Strom- oder Glasfasernetze). Aber in vielen Fällen gibt es kein bedeutsames Marktversagen, welches eine staatliche Eigentümerschaft oder eine staatlich privilegierte Stellung begründen könnte.

Im Falle der Post, der Postfinance oder der SRG gibt es heute kaum mehr Gründe für eine (quasi)staatliche Erstellung oder Eigentümerschaft. Falls beispielsweise aus politischen Gründen Dienstleistungen flächendeckend und zum Einheitspreis erbracht werden sollen, sich diese für private Anbieter aber nur in gewissen Gebieten oder zu differenzierten Preisen lohnen, könnten öffentliche Ausschreibungen und Subventionsversteigerungen für die Leistungserbringung bessere Servicequalität zu tieferen Preisen ermöglichen.

Staatliche Unternehmen drängen zudem immer weiter über ihre Kernaufgaben hinaus in andere Märkte und konkurrieren Private. So geht die Post mit ihrem breiten Güter- und Dienstleistungssortiment weit über ihre logistischen Kernaufgaben hinaus; die Postfinance ist im Kernbereich von privaten Banken tätig; die SBB Cargo verfolgen eine Expansionsstrategie und verdrängen beispielsweise private Anbieter aus dem Terminalmarkt am Basler Rheinknie.

Auch staatliche Beteiligungen an Unternehmen in funktionierenden privaten Märkten, wie im Falle der Swisscom, sind kaum zu rechtfertigen. Die mit den Dividendenausschüttungen verbundenen Staatseinnahmen führen zu Fehlanreizen in der Wettbewerbspolitik und damit zu Marktverzerrungen zuungunsten anderer Unternehmen und der Konsumenten. Das Argument, es handle sich hierbei um sicherheitsrelevante Infrastruktur für den Krisenfall, überzeugt nicht. Denn wichtig ist nicht die Eigentümerschaft, sondern dass die Infrastruktur, das Know-how und die Dienstleistungen auch in einer Krise verfügbar sind. Die Einschränkung von Eigentumsrechten der privaten Betreibergesellschaften im Krisenfall kann regulatorisch vorgesehen werden.

In Märkten ohne signifikantes Marktversagen gilt es konsequent entweder die staatlichen Anteile zu veräussern (z.B. Swisscom), staatliche Unternehmen auf die Kernaufgaben zurückzustutzen (z.B. Post, SBB Cargo) oder zu privatisieren oder zu liquidieren (z.B. Postfinance).

«Staatliche Beteiligungen an Unternehmen

in funktionierenden privaten Märkten, wie im Falle der Swisscom,

sind kaum zu rechtfertigen.»

Effiziente Intervention bei versagenden Märkten

Die Gründe für Marktversagen sind wohlbekannt; einfache und effiziente Korrekturmöglichkeiten liegen häufig auf der Hand. Bei Externalitäten etwa bringt eine Steuer in der Höhe der Externalität Kostenwahrheit und zwingt die Entscheidungsträger, alle Kosten, auch jene auf Dritten, miteinzurechnen. Damit wird das Marktversagen behoben.

Klassische Beispiele sind die Verkehrs-, Umwelt- und Klimapolitik. Der private und öffentliche Verkehr verursachen jährlich mehr als 13 Milliarden Franken an externen Kosten in Form von Umweltschäden, Lärm, Stau- und Unfallkosten.3 Ein umfassendes Mobility Pricing würde Marktversagen korrigieren und brächte Kostenwahrheit über alle Verkehrsmittel hinweg. Damit erübrigten sich weitere Interventionen und ein Grossteil der Subventionen im öffentlichen Verkehr. Mit den zusätzlichen Mitteln aus Mobility Pricing und Subventionseinsparungen liesse sich die verzerrende und regressiv wirkende Mehrwertsteuer abschaffen.4 Damit könnten gleichzeitig ein gewichtiges Marktversagen korrigiert und die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten einer ineffizienten Steuer eingespart werden.

Gleiches gilt im Umwelt- und Klimabereich. Zur effektiven Bekämpfung von Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung müssten die externen Kosten konsequent durch Umwelt- und Klimasteuern oder Zertifikatshandel internalisiert werden. Es braucht keine komplexen Regulierungswerke, sondern eine CO2-Steuer oder einen Zertifikatshandel ohne Ausnahmen. Gemäss Schätzungen von Umweltökonomen beliefen sich effiziente (Steuer-)Preise über viele Szenarien hinweg auf unter 100 Franken pro Tonne CO2.5 Die Kosten der konsequenten Internalisierung sind im Vergleich zu den Kosten der Regulierung – mit ihrer Marktabschottung, Klientelpolitik und der Umweltkontrollindustrie – und im Vergleich zu andern Steuern fast vernachlässigbar. Die Einnahmen durch Umwelt- und Klimasteuern sollten zur Reduktion anderer Steuern, also fiskalisch neutral, verwendet werden. Dies wäre ein grosser Standortvorteil und würde helfen, knappe ökologische und ökonomische Ressourcen für kommende Generationen zu erhalten. Die Liste von möglichen liberalen Reformfeldern könnte fast endlos weitergeführt werden.

Quintessenz liberaler Politik

Liberale Politik sorgt für gute Rahmenbedingungen anstatt Vorteile für organisierte Partikularinteressen. Im Unterschied zu Ad-hoc-Interventionen gelten gute Rahmenbedingungen für alle und sind von vornherein bekannt. Dies führt zu grossen Effizienzgewinnen. Bei all den Vorteilen liberaler Politik fragt man sich erstaunt, wo sie sich denn versteckt. Die Antwort ist so einfach wie schmerzlich: Es gibt sie kaum, weil der Einsatz für liberale Politik ein öffentliches Gut ist. Während der Nutzen allen zugutekommt, bleiben die Kosten der Bereitstellung ohne Gegenleistung bei den einzelnen Politikern hängen. Da ist es interessanter, sich für konkrete und organisierte Spezialinteressen einzusetzen, deren Adressaten sich direkt erkenntlich zeigen können. Institutionelle Vorkehrungen wie unabhängige Evaluationsgremien könnten es Politikern erleichtern, liberale Politik zu betreiben – im Interesse aller.

Paul Widmer, zvg.

Die Schweiz muss Respekt für ihr Staatswesen einfordern

Das vorliegende Rahmenabkommen mit der EU weist grundlegende Mängel auf. Mit zwei chirurgischen Eingriffen lässt es sich retten.

 

Das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union (EU) wird im wesentlichen von einer einzigen Frage beherrscht: Wie kann die Schweiz die Beziehungen gestalten, ohne Souveränität und Wohlstand zu gefährden? Ginge es allein um die Souveränität, wüsste man, was zu tun ist: alle Angebote aus Brüssel ablehnen, die unsere Souveränität zu beschneiden drohen. Und ginge es allein um den Wohlstand, wäre auch klar, was man tun müsste: alle Verpflichtungen eingehen, die unseren Wohlstand mehren. Es ist die Gemengelage von zwei verschiedenen Zwecken, die Probleme schafft. Dieses Dilemma stellt sich freilich nicht nur im Verhältnis zur EU, sondern in der gesamten Aussenpolitik. In den Beziehungen zur EU ist es aber viel akuter, weil nur dort supra­nationale Zwänge mitspielen.

Souveränitäts- und Demokratieverlust

Staaten regeln üblicherweise den Verkehr untereinander mit zwischenstaatlichen Mitteln, vor allem mit Verträgen. Jeder Staat entscheidet selbst, inwieweit er sich zu etwas verpflichten will. Denn er ist souverän. So steht es auch in der UNO-Charta. In der Praxis freilich ist kein Staat absolut souverän. In einer interdependenten Welt hängt jeder irgendwie von anderen ab. Doch in der Theorie wird zumindest der Anschein von Souveränität gewahrt.

Diesem Regime versetzte die Globalisierung einen empfind­lichen Schlag. Selbsternannte Machtgruppen wie die G20 oder multinationale Konzerne fällen jenseits aller Grenzen wichtige Entscheide. Sie kümmern sich kaum um Verträge. Die kleineren Staaten werden nicht um ihre Meinung gefragt. Sie werden geschubst und müssen parieren, ob sie wollen oder nicht. Die Globalisierung bedeutet meistens einen wirtschaftlichen Gewinn auf Kosten der Souveränität.

Noch viel einschneidender sind supranationale Eingriffe. In diesem Fall treten Staaten Kompetenzen an eine überstaatliche Institution ab. Allerdings gibt es kaum solche Einrichtungen – ausser der EU. Und selbst sie ist ein hybrides Gebilde: teils zwischenstaatlich, teils suprastaatlich aufgebaut. In der Aussen- und Sicherheitspolitik herrscht die zwischenstaatliche Zusammenarbeit vor, in der Wirtschaftspolitik oder der Personenfreizügigkeit dagegen suprastaatliche Regelungen. Kommt es bei letzteren zu einem Konflikt zwischen nationaler und supranationaler Rechtsordnung, bricht das supranationale Recht das nationale.

Eine solche Teilentmachtung der Mitgliedsstaaten bedeutet jedoch nicht nur einen Souveränitätsverlust. Sie führt auch zu einem Demokratieverlust. Werden Bereiche der nationalen Selbstbestimmung entzogen, verlieren die Bürger Mitspracherechte. Auf höherer Ebene können sie viel weniger mitreden als im eigenen Staat. Bürgerrechte und Entscheidungsprozesse werden entkoppelt. Das Fazit: Der Nationalstaat ist immer noch der Ort, wo die Demokratie verankert ist. Wird er geschwächt, verliert auch die Demokratie.

Der bilaterale Weg als Verlegenheitslösung

Einen derartigen Souveränitäts- und Demokratieverlust wollte die Schweiz in ihren Beziehungen zur EU nach Möglichkeit vermeiden. Deshalb versuchte und versucht sie die Zusammenarbeit mit der EU vertraglich auf bilateralem Weg zu vertiefen. Grundlegend ist dabei das Freihandelsabkommen von 1972. Es schuf eine Freihandelszone, die zwei Drittel unserer Einfuhren und die Hälfte unserer Ausfuhren erfasst. Eine weitergehende institutionelle Integration lehnten Volk und Stände in der Abstimmung zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 ab. Daher setzte der Bundesrat notgedrungen auf eine Fortsetzung der bilateralen Verhandlungen. Er schloss bisher über hundert Verträge, namentlich die Bilateralen I (1999) und II (2004). Mit den fünf Marktzugangsabkommen (Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, technische Handelshemmnisse und Landwirtschaft) aus den Bilateralen I erhielt die Schweiz einen grosszügigen Zugang zum europäischen Binnenmarkt.

Dieses Vertragsregime funktioniert aus Schweizer Sicht recht gut. Es ergeben sich nur wenige Probleme, am ehesten mit der Personenfreizügigkeit. Denn die Schweiz ist mit ihrem hohen Lohngefüge und dem ausgebauten Sozialwesen für Arbeitskräfte aus dem EU-Raum attraktiv. Sie verzeichnet eine starke Zuwanderung. Daher wären gewisse Schutzklauseln wünschenswert. Brüssel jedoch erachtet die Personenfreizügigkeit als eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes (freier Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen) und ist nicht bereit, irgendwelche Abstriche an den Verpflichtungen zuzulassen.

Weniger zufrieden mit dem bestehenden Regime ist die EU. Dass sie überhaupt Hand bot zu den bilateralen Verhandlungen, hat vor allem einen Grund: Nach dem EWR-Nein glaubte sie, die Schweiz würde über kurz oder lang der EU doch noch beitreten. Die Verträge sollten somit bloss eine Übergangslösung sein. Als die Beitrittsoption jedoch in der Schweiz zunehmend an Unterstützung verlor, änderte die EU ihre Haltung. Seit 2009 fordert sie mehr inhaltliche Übereinstimmung (Homogenität) des Schweizer Rechts mit dem EU-Recht. Sie kündete an, neue Marktzugangsabkommen mit der Schweiz, etwa über den Stromverkehr, nur noch abzuschliessen, wenn die Homogenität mit einem institutionellen Rahmenabkommen (InstA) garantiert wird und dieses auch für die schon bestehenden Marktzugangsabkommen Anwendung findet.

Ein InstA sollte zweierlei sicherstellen: erstens, dass die Schweiz neues EU-Recht laufend oder dynamisch übernimmt; zweitens, dass sich die Schweiz auf ein Verfahren zur Streitbeilegung verpflichtet, in welchem die Rechtsauslegung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), wann immer EU-Recht betroffen ist, verbindlich ist. Nach langen Vorgesprächen begannen 2014 die Verhandlungen, die zum vorliegenden Entwurf für ein Rahmenabkommen führten.

Dass die EU auf Homogenität pocht, ist verständlich. Ansonsten könnten Schlupflöcher entstehen, welche das Nichtmitgliedsland Schweiz wettbewerbspolitisch in eine vorteilhaftere Lage versetzten als die Mitglieder des Binnenmarktes. Aber die Schweiz würde mit den zur Sicherstellung der Homogenität vorgeschlagenen Verfahren in Schwierigkeiten geraten. Würde sie die beiden Hauptforderungen vorbehaltlos akzeptieren, erlitte sie einen irreparablen Souveränitäts- und Demokratieverlust.

Nun mag man einwenden, man solle die Lage nicht dramatisieren. Vergleichbare Länder wie Österreich oder Schweden bewiesen, dass sie ihre Unabhängigkeit auch als EU-Mitglieder wahren könnten. Eine solche Argumentation übersieht etwas Wesentliches. Die Schweiz ist, auch wenn dies viele ins Lächerliche ziehen, in ihrem Staatsaufbau ein Sonderfall. Allein auf weiter Flur ist sie ein Staat mit starken direktdemokratischen Rechten. Das hat grosse Auswirkungen. Die Entscheidungsprozesse führen in der EU von oben nach unten, in der Schweiz vielfach von unten nach oben. Eine feine föderalistische Verästelung und eine starke Gemeindeautonomie ermöglichen dem Bürger, sich intensiv am staatlichen Leben zu beteiligen. Deshalb geniesst er mehr politische Freiheit als die Bürger in anderen Ländern. Österreich und Schweden sind gestandene parlamentarische Demokratien. Die beiden Länder bilden indes nicht wie die Schweiz, um mit dem französischen Intellektuellen Jacques Attali zu sprechen, eine direktdemokratische Alternative zu den parlamentarischen Systemen.

Das helvetische Dilemma ist lösbar

Erinnern wir uns an den ersten Satz dieses Beitrags: Die Schweiz muss ihre Souveränität und ihren Wohlstand schützen. Der Bundesrat sollte daher im Interesse der Souveränität das InstA ablehnen und im Interesse des Wohlstands annehmen. Praktisch heisst das: Er muss auf Neuverhandlungen bestehen und eine bessere Balance zwischen den beiden Zwecken herstellen. Denn ein Rahmenabkommen macht durchaus Sinn – aber nicht ein Vertrag, in dem die umfassende Mitbestimmung der Bürger und die hohe Legitimität unserer Demokratie auf der Strecke bleiben.

Der Bundesrat hat drei Probleme identifiziert, die einer Klärung bedürfen: den Lohnschutz, die Unionsbürgerrichtlinie und die staatlichen Beihilfen. Dass die Regierung diese Mängel erkannt hat, ist erfreulich. Doch eine Lösung nur dieser Streitpunkte käme einer Symptombehandlung gleich. Denn mit der dynamischen Rechtsübernahme im Bereich der Marktzugangsabkommen verpflichtet sich die Schweiz zu einem Systemwechsel. Das bisher geltende Verfahren ist – mit ganz wenigen Ausnahmen – statisch angelegt. Es besteht keine Pflicht zur ständigen Anpassung der Abkommen. Das neue Verfahren dagegen wäre dynamisch. Im vorliegenden Abkommen besteht diese Pflicht. Das bedeutet, dass die Schweiz in einem nicht vorhersehbaren Ausmass neue Rechtsakte übernehmen muss, zum Beispiel wenn die EU eine neue Verordnung zu gentechnisch verändertem Saatgut beschliesst oder die Entsenderichtlinien ein weiteres Mal abändert.

Die Übernahme von neuem EU-Recht dürfte in den allermeisten Fällen problemlos verlaufen. Doch die Knacknuss liegt im Streitfall. Können sich die beiden Parteien nicht einigen, entscheidet ein spezielles Schiedsgericht. Doch dieses muss, wenn EU-Recht tangiert ist, den Fall dem EuGH vorlegen und ist an dessen Auslegung gebunden. Faktisch ist die EU somit Kläger und Richter: Kläger durch die EU-Kommission, Richter durch den EuGH. Das sogenannte Schiedsgericht dagegen kann im Falle einer Vertragsverletzung nur beurteilen, ob die Ausgleichsmassnahmen angemessen sind. Eine derartige Einseitigkeit ist für keinen souveränen Staat, der etwas auf sich hält, akzeptabel.

Der EuGH ist ein angesehenes Gericht. Aber er ist das Gericht einer Partei. Er ist nicht neutral – er kann es gar nicht sein. Als Organ der Europäischen Union ist der Gerichtshof durch den EU-Vertrag gehalten, sich für eine immer engere Union einzusetzen. Und dass er seine Kompetenzen grosszügig, ja mitunter zu grosszügig auslegt, wurde kürzlich in einem historischen Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, in dem es um die milliardenschweren Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank ging, beanstandet.

«In der Praxis freilich ist kein Staat absolut souverän.

In einer interdependenten Welt hängt jeder

irgendwie von anderen ab.»

Keine Anbindung ans EU-Gericht

Meines Erachtens könnte man das Rahmenabkommen mit zwei chirurgischen Eingriffen retten. Der eine müsste bei der dynamischen Rechtsübernahme mit einer sinnvollen Opting-out-Klausel ansetzen, der andere beim Schiedsgericht.

Konkret sähe das so aus: Erstens muss die Schweiz in Ausnahmefällen die Übernahme von EU-Recht ablehnen können. So ist das schon im InstA vorgesehen. Doch für dieses Privileg muss die Schweiz, wie ebenfalls im InstA vorgesehen, einen Preis bezahlen. Das ist recht und billig. Wer Sonderrechte will, soll dafür bezahlen. Das InstA spricht von Ausgleichsmassnahmen. Nichts dagegen. Der wunde Punkt ist die Art der Massnahmen. Diese können materieller Natur sein. Das ist in Ordnung. Oder sie können verfahrensrechtlicher Natur sein. Und das ist nicht in Ordnung.

Wenn die EU zum Ausgleich einen Vertrag oder – in Verbindung mit der unseligen Guillotineklausel aus den Bilateralen I – mehrere Verträge suspendieren kann, verkommt das Opting-out zur Farce. In einer eidgenössischen Volksabstimmung ginge es dann kaum noch um Sachfragen, beispielsweise ob man gentechnisch verändertes Saatgut zulassen wolle, sondern um die Frage, ob die Schweiz die bilateralen Beziehungen mit der EU fortsetzen wolle oder nicht. Der Stimmbürger hätte nur noch eine destruktive Wahl nach dem Motto «Vogel friss oder stirb». Das darf nicht sein. Deshalb müssen wir verlangen, dass die EU auf Vertragssuspendierungen verzichtet. Die Ausgleichsmassnahmen dürfen nur materieller Natur sein, beispielsweise finanzielle Entschädigungen oder vergleichbare Retorsionsmassnahmen. Das ist übrigens auch das Verfahren, das die Welthandelsorganisation (WTO) bei der Streitbeilegung anwendet.

Zweitens muss die Anbindung des Schiedsgerichts an den EuGH gestrichen werden. Streitigkeiten soll man, wie im InstA vorgesehen, zuerst in einem gemeinsamen Ausschuss besprechen. Kann man sie nicht lösen, soll, wie auch im InstA vorgesehen, das gemeinsam eingesetzte Schiedsgericht entscheiden. Damit hat das Verfahren sein Bewenden. Es erfolgt keine Auslegung durch das EU-Gericht. Sicher, ein solches Vorgehen würde dem EU-Wunsch nach möglichst vollständiger Homogenität in der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung nicht ganz gerecht. Aber die EU sollte auch nicht allzu puristische Massstäbe anlegen. Selbst im EWR-Vertrag sind Schutzklauseln für besondere Situationen in den Vertragsstaaten vorgesehen.

Schliesslich gibt es noch eine weitere Schwachstelle im InstA. Der Vertrag enthält im Anhang eine gemeinsame Erklärung zum Freihandelsabkommen. Beide Seiten verpflichten sich, bald Verhandlungen über eine Modernisierung dieses mit Abstand wichtigsten bilateralen Abkommens aufzunehmen. Gewiss, eine Modernisierung ist wünschenswert, eine Unterstellung unter das Rahmenabkommen aber nicht. Eine solche Regelung würde tief in unseren föderalistischen Staatsaufbau eingreifen, namentlich bei den staatlichen Beihilfen. Denn die Kantone unterstützen vieles, von den Kantonalbanken über die Gebäudeversicherung bis zu Vergünstigungen für Unternehmen. Ausserdem dürfte die Schweiz keinen Handelsstreit mit der EU mehr vor die WTO bringen. Alle Fälle müssten nach dem im InstA festgelegten Verfahren geregelt werden.

Substanzielle Nachverhandlungen

Wie soll man substanzielle Nachverhandlungen beginnen? Als erstes sollte der Bundesrat mit Brüssel nochmals über Grundsätzliches reden und mit einer hochrangigen Delegation die Eigentümlichkeit unseres Staatswesens erklären. Das ist bitter nötig. In der Präambel zum vorliegenden Entwurf steht, die Beteiligung der Schweiz am EU-Binnenmarkt solle «unter Wahrung der Grundsätze der direkten Demokratie und des Föderalismus» erfolgen. Genau das ist es, was die Schweiz will – und nicht, wie so oft unterstellt, eine Rosinenpickerei aus kleinkrämerischer Gesinnung.

Vergessen wir auch nicht, was in der Aussenpolitik zählt: Es sind Institutionen, aber auch eine lautere Einstellung. Ohne einen echten Willen zur Zusammenarbeit bleiben jeder Vertrag und jede Institution toter Buchstabe. Die unkomplizierte Hilfe über die Landesgrenzen hinweg für französische Coronaopfer lieferte jüngst ein positives Beispiel, das Hickhack über die Börsenäquivalenz ein negatives. Doch lassen wir uns von Störaktionen nicht beirren. Seien wir grosszügig in unserer Europapolitik, etwa mit der Gewährung der Kohäsionsmilliarde, aber hartnäckig im Schutz unseres Staatswesens.

Wir dürfen die Gesamtsicht nicht aus den Augen verlieren. Und diese zeigt: Die Schweiz hat alles Interesse daran, ihre Beziehungen zur EU zu vertiefen. Zum beidseitigen Vorteil. Aber in seltenen Fällen muss es ihr erlaubt sein, eine Schutzklausel anzurufen und Respekt für ihr eigenes Staatswesen einzufordern. Sie verlangt nur das, was ihr die EU im vorliegenden Entwurf im Grundsatz zugesteht, in den konkreten Bestimmungen jedoch zurücknimmt: die Wahrung von direkter Demokratie und Föderalismus auch unter den Bedingungen eines institutionellen Rahmenabkommens.

Mehr Markt für
unsere Gesundheit

Die Coronakrise zeigt: Planwirtschaftliche Inputsteuerung funktioniert auch im Gesundheitswesen nicht. Statt einzelner Leistungen sollten wir künftig Therapieerfolge vergüten – und endlich für einen Qualitätswettbewerb sorgen.

 

In der aktuellen Krise regiert der Bundesrat mit Notrecht. Die Bevölkerung gehorcht und ist mit Kritik zurückhaltend und dankbar, dass es nicht noch schlimmer ist. Die Linke sieht die Krise als Chance, die Macht des Staates nicht nur im Gesundheitswesen auszubauen. Wer aber die Krisenplanwirtschaft nüchtern betrachtet, sieht schon jetzt, dass Unternehmen mit den richtigen Anreizen rascher und differenzierter Veränderungen antizipieren oder darauf reagieren als staatliche Krisenstäbe.

Das bundesrätliche Krisenmanagement führte dazu, dass sich Spitäler und Praxen der Ärzte und Therapeuten leerten. Die stark ausgebauten Intensivstationen für Coronapatienten waren insgesamt nie ausgelastet, zugleich waren nichtdringende Untersuchungen und Behandlungen lange verboten. Viele Patienten meiden zudem immer noch medizinische Einrichtungen aus Angst, mit dem Coronavirus angesteckt zu werden.

Das Corona-Feldexperiment

Nun kann man einwenden, dass diese Fehlplanung die bessere Alternative sei als die Zustände in Norditalien. Der Bundesrat hat aus Vorsicht etwas übers Ziel hinausgeschossen und ein grosses Feldexperiment in Sachen medizinische Über- beziehungsweise Unterversorgung geschaffen. Es gibt zwei mögliche Ergebnisse:

a) Das Verbot für nicht dringliche Untersuchungen und Operationen und die Ansteckungsangst der Menschen führen zu einem Nachholbedarf und Kostenschub, weil die verschleppten Diagnosen und Behandlungen nachgeholt werden und viel teurer sein werden, als wenn die Menschen rechtzeitig zum Arzt oder ins Spital gegangen wären.

b) Das Verbot zeigt, wie viel unnötige Medizin vor dem Verbot konsumiert wurde. Und die Menschen machen in der Coronakrise gute Erfahrungen, wenn sie nicht mit jedem «Bobo» zum Arzt oder in den Spitalnotfall rennen.

Die Coronakrise zeigt, was durch die Verhaltenswissenschaften schon lange empirisch belegt ist: Komplexe Systeme entwickeln sich durch die richtigen Anreize viel besser entlang der sich verändernden Bedürfnisse und technischen Möglichkeiten als durch zentrale oder dezentrale staatliche Inputsteuerung. Der Markt ist nicht perfekt, funktioniert aber besser als staatliche Planwirtschaft. Kein vernünftiger Mensch verlangt Märkte ohne Spielregeln und ohne Schiedsrichter, die Regelverletzungen sanktionieren. Die immer umfangreicheren Revisionen des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) mit ihren vielen Geboten und Verboten werden die Schäden staatlicher Planwirtschaft nicht beheben. Anreize, die für ein Kräftegleichgewicht zwischen Anbietern und Konsumenten beziehungsweise Patienten sorgen, sowie schlanke Aufsichtsbehörden, die Anbieter aus dem Verkehr ziehen, welche wiederholt Regeln verletzen, sind wichtige Voraussetzungen für einen funktionierenden Gesundheitsmarkt.

Das Planwirtschaftslager besteht aus zwei Fraktionen. Die Fraktion mit dem Kostenröhrenblick will dem System Geld entziehen und glaubt, dass so die Effizienz wie durch ein Wunder besser wird und die Qualität womöglich auch noch. Für die Fraktion der Versorgungssicherheit und Rundumversorgung spielt Geld keine Rolle, weil man es bloss bei den Reichen holen muss. Noch mehr Geld und noch mehr Fachpersonal werden unsere Gesundheitswirtschaft aber nicht fit für die Zukunft machen, weil unsere Personaldichte, Tarife und Preise schon jetzt zur Weltspitze gehören. Die wirtschaftliche Not wird nicht einfach verschwinden, wenn wir das Coronavirus besiegt haben. Und diese Not wird uns erfinderisch machen, weil uns die Mittel fehlen werden, die Herausforderungen mit mehr vom Gleichen zu meistern.

Das Gesetz erlaubt mehr Markt

Bundesrat und Parlament müssen einsehen, dass noch mehr Planwirtschaft bloss die Bürokratie aufbläht und das gut ausgebildete medizinische Fachpersonal immer weniger Zeit für die Patienten hat, immer unzufriedener wird und andere Tätigkeiten sucht. Bundesrat Bersets Sparpakete mit dem Mikromanagement des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) und der kantonalen Gesundheitsdirektionen müssen gestoppt werden. Das Parlament muss vom Gesundheitsminister und vom BAG endlich den Vollzug der KVG-Kernelemente einfordern. Das KVG verlangt seit der Inkraftsetzung 1996 von den Krankenversicherern, dass diese nur wirksame, zweckmässige und wirtschaftliche Medizin (WZW) vergüten und dass die Qualität der Medizin transparenter wird.

Wirksame, zweckmässige und wirtschaftliche und keine überflüssige Medizin (WZW): Eine WZW-Gebrauchsanweisung für die Aufnahme neuer Medikamente und Therapien in den Leistungs­katalog sowie für die Rechnungsprüfung der erbrachten Leistungen liegt immer noch in einer BAG-Schublade. Für die Zulassung neuer Medikamente und Therapien werden Health Technology Assessments durchgeführt. Wie bei der Zulassung durch Swissmedic müssen Schweizer Behörden nicht alles prüfen, was in anderen Ländern mit vergleichbaren Standards schon geprüft worden ist. Die Gebrauchsanweisung von WZW bei der Leistungserbringung könnten die Tarifpartner in den Tarifverträgen schlank und pragmatisch regeln. Die Ärzte würden sich verpflichten, die Patienten in 80 Prozent der Fälle nach den wissenschaftlich fundierten Guidelines ihrer jeweiligen Fachgesellschaft zu untersuchen und zu behandeln. In 20 Prozent der Fälle hätten sie Spielraum für Ausnahmen. Die Krankenversicherer würden Stichproben machen und müssten nicht mehr mit Ärzten kontrahieren, die diese Regeln wiederholt und ohne plausible Gründe verletzten. Auch Ärzte müssten mit Versicherern, die wiederholt und unbegründet Rechnungen beanstandeten, nicht mehr zusammenarbeiten.

Für erreichte Therapieziele bezahlen: Ebenfalls in den Tarifverträgen müssen die Vergütungsanreize richtig gesetzt werden. Die Tarifsysteme Tarmed für ambulante Leistungen der Arztpraxen und Spitäler und etwas weniger das Tarifsystem SwissDRG für stationäre Spitalleistungen belohnen Input statt Output und Outcome beziehungsweise Menge statt Qualität. Gerade teure und innovative Therapien sollten gemäss Therapieerfolg vergütet werden. Auch die individualisierte Medizin verlangt diesen Vergütungswechsel. Ärzte und Therapeuten müssten mit ihren Patienten messbare Behandlungsziele vereinbaren. Die Versicherer vergüteten einen Teil nach Menge und einen Teil nach Therapieerfolg. Den Therapieerfolg zu vergüten, ist anspruchsvoller als die Therapiemenge, da er auch von externen Faktoren beeinflusst werden kann, die weder der Therapeut noch der Patient direkt beeinflussen können. Das ist aber kein Argument gegen die Vergütung des Therapieerfolgs, sondern ein Argument dafür, die Erfolgsfaktoren genau zu definieren, welche Therapeuten und Patienten beeinflussen können. Verbindlich vereinbarte Therapieziele erhöhen das Commitment der medizinischen Leistungserbringer und Patienten.

Transparenz über die Qualität: Ebenfalls seit 1996 verlangt das KVG transparente Qualität, damit die freie Arztwahl der Versicherten kein Blindflug ist. Anstatt diese KVG-Bestimmung auf Verordnungsstufe zu konkretisieren, haben Bundesrat und Parlament mit neuen Paragrafen das Kompetenzdurcheinander zwischen Bund beziehungsweise Krankenversicherern und Kantonen beziehungsweise Kantonsärzten sowie das Durcheinander zwischen Qualitätssicherung und Qualitätstransparenz vergrössert. Die Kantone beziehungsweise Kantonsärzte gewähren den medizinischen Leistungserbringern die Zulassung und sind somit für die Qualitäts­sicherung sowie Patientensicherheit verantwortlich. Die Patientensicherheit gehört nicht ins KVG, weil Patienten sicher vor schädlicher Medizin sein müssen, egal wer die Leistungen bezahlt. Das KVG verlangt von den zugelassenen Leistungserbringern Transparenz über die Qualität, damit die Patienten unter den von den Kantonen zugelassenen und damit sicheren Leistungserbringern auswählen können. Patienten müssen sich also darauf verlassen können, dass Kantonsärzte Ärzte und andere medizinische Leistungserbringer aus dem Verkehr ziehen, die Patienten gefährden. Sie müssen sich auch darauf verlassen können, dass Krankenversicherer mit Leistungserbringern nicht kontrahieren müssen, welche die Qualität ihrer Leistungen nicht für Laien verständlich ausweisen. So entsteht ein Qualitätswettbewerb.

Versorgungssicherheit: Immer wenn die Versorgungssicherheit gefährdet ist, blüht das Geschäft der Protektionisten. Die Land- und Stromwirtschaft macht es vor. Auch die Gesundheitswirtschaft wird die Rechnung für Pflichtlager, mehr im Inland hergestellte Produkte und auch für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung in Randregionen präsentieren. Aber machen wir uns in der globalisierten Welt nichts vor. Wir hatten am Anfang der Pandemie zu wenig Testkapazitäten, weil ein Teil des Testmaterials ausgerechnet aus Norditalien hätte geliefert werden sollen – nicht etwa aus China oder Indien wie viele Wirkstoffe in unseren Medikamenten. Da wir die nächste Krise nicht genau hervorsagen können, wissen wir auch noch nicht genau, welche Vorräte wir jetzt anlegen müssen. Und Vorräte für alle Eventualitäten kann sich auch die reiche Schweiz nicht leisten. Wir können es uns aber leisten, von den zuständigen Leistungserbringern und von der Industrie Garantien zu verlangen, uns auch in Krisenzeiten medizinisch zu versorgen. Wie viel Versorgungssicherheit wir uns leisten wollen und zu welchem Preis, ist eine politische Frage. Damit Versorgungssicherheit nicht zum Geschäftsmodell wird, müssen entsprechende Aufträge ausgeschrieben und an den öffentlichen oder privaten Anbieter mit dem jeweils besten Preis-Leistungs-Verhältnis vergeben werden.

Fehlgeplante Planwirtschaft

Auch wenn es in einer Krise kaum anders geht, zeigt das Coronanotrecht mit den leeren Arztpraxen und Spitälern, wie weit die staatliche Planwirtschaft an den sich rasch ändernden Bedürfnissen der Menschen vorbeiplant. Auch die unzähligen KVG-Revisionen haben die Planwirtschaft ausgebaut. Unser Gesundheitswesen braucht aber mehr Markt und eine Verlagerung der Finanzierung der medizinischen Leistungen von der Menge zum Behandlungserfolg. Wer für den Behandlungserfolg bezahlt wird, hat ein vitales Interesse, mit Patienten Erwartungshaltungen zu klären und Behandlungsziele zu vereinbaren, die auch erreicht werden. Genau das bringt Solidarität und Eigenverantwortung wieder ins Gleichgewicht.

Sarah Bünter, Matthias Müller und David Trachsel, fotografiert von Djamila Grossman.

«Es war ein grosser Fehler, dass wir Bürgerlichen uns gespalten haben»

Die Jungen können Reformen unbelasteter anpacken. Davon sind die Präsidenten von Junger SVP, Jungfreisinnigen und Junger CVP überzeugt. Im Gespräch loten sie das Potenzial für liberale Politik aus.

Wir treffen uns inmitten der Coronakrise, sie hat in der Schweiz einiges auf den Kopf und Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt. Welche Lehren sollen wir aus dieser Krise ziehen?

Sarah Bünter: Wir sollten uns bewusst werden, dass solche Krisen immer eintreten können, das müssen wir auch in die Politik einfliessen lassen. Gerade wenn es beispielsweise um Reformen geht, müssen wir langfristig denken und berücksichtigen, dass auch Situationen eintreten können, mit denen man nicht gleich rechnet. Reformen, die man vor der Krise extrem lange hinausgezögert hatte, werden nun noch viel schwieriger und bringen drastischere Konsequenzen mit sich, gerade bei den Sozialversicherungen.
Matthias Müller: Ich sehe zwei Dinge. Erstens: Wie vergänglich Freiheiten sind. Wesentliche Grundrechte wurden deutlich eingeschränkt: die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit, die Wirtschaftsfreiheit, faktisch auch die Eigentumsgarantie. Wir haben diese Grundrechte für selbstverständlich erachtet – und in der Krisenzeit werden sie per Notdekret einfach so eingeschränkt. Zweitens: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Es ist uns eindrücklich vor Augen geführt worden, wie wichtig eine bürgerliche Haushaltspolitik ist.
David Trachsel: Es ist eine Freude, einen FDPler so reden zu hören, da hat man als SVPler kaum noch etwas hinzuzufügen! Aus meiner Sicht ist antizyklische Politik in bezug auf den Staatshaushalt wichtig, aber auch in bezug auf die Notenbanken. Die antizyklische Geldpolitik muss unbedingt wieder gewährleistet werden. Der Schweizer Franken mit seiner Stabilität ist doch eine der absoluten Stärken der Schweiz. Dazu müssen wir Sorge tragen, man war da in den vergangenen Jahren sehr fahrlässig.

Die Bilanz der vergangenen Legislatur fällt aus bürgerlicher Sicht ernüchternd aus. Wichtige Reformen sind nicht zustande gekommen oder, im Falle der STAF, gerade noch so durchgedrückt worden. Warum ist es Ihren Parteien nicht gelungen, den Schwung aus den Wahlen 2015 zu nutzen?

Trachsel: Natürlich lief nicht alles optimal. Man muss aber auch sehen, welche Fehler und unnötigen Gesetze nicht gemacht wurden. So paradox es klingt: Politiker sollten schauen, dass möglichst wenig politisiert wird, dass möglichst viel den Leuten und den Unternehmen überlassen wird. In diesem Sinne ist in dieser Legislaturperiode auch einiges gut verlaufen. Schade ist, dass es bei der Rentenreform nicht schneller vorwärtsgeht. Hier sehe ich die Schuld aber auch bei den Linken, nicht nur den Bürgerlichen.
Müller: Vieles ist in der vergangenen Legislatur ja auch dank dem bürgerlichen Block zustande gekommen. Es ist aber richtig, darauf hinzuweisen, dass entscheidende Reformen aufgrund der mangelnden Einigkeit unter den Bürgerlichen nicht durchgebracht werden konnten. Aus freisinniger Sicht orte ich das Problem darin, dass unser rechter Partner zum Teil sehr wirtschaftsfeindlich ist und sich zum Teil auf die Position der Fundamentalopposition zurückzieht.
Trachsel: Wie bitte?!
Müller: Zum Beispiel bei der Bekämpfung der Bilateralen, Stichwort Begrenzungsinitiative. Oder bei den Revisionen des Datenschutzgesetzes und des CO2-Gesetzes. Die SVP lehnt in diesen Geschäften aus Prinzip alles ab. Will sie eine Lösung erzielen, wird die FDP dadurch gezwungen, sich nach links zu wenden: Sie muss den Kompromiss mit der CVP und der Linken suchen. Bei der CVP sehe ich das Problem, dass sie teilweise völlig orientierungslos wirkt. Bei der Altersvorsorge 2020 zum Beispiel ist sie in den Seitenwagen der Gewerkschaften gestiegen. Auch in der Coronakrise politisiert die CVP plötzlich völlig antibürgerlich, vor allem im Nationalrat.

Frau Bünter, sind Sie «antibürgerlich»?

Bünter: Die Altersvorsorge 2020 beinhaltete Dinge, die auch bei uns Zähneknirschen auslösten. Man muss aber immer abwägen, was die Alternative dazu ist und ob es eine Möglichkeit gibt, eine bessere Reform auf den Tisch zu bringen. Nach der Ablehnung der Reform mussten wir wieder bei null anfangen, der ganze Prozess hat sich verzögert. Die AV 2020 wäre wenigstens ein Reformschritt gewesen und hätte neues Terrain eröffnet, um weiterzugehen. Das Versprechen der Gegner, schnell eine bessere Lösung zu bringen, wurde bis heute nicht eingelöst. Was die Coronakrise betrifft: Da war ich auch nicht immer einverstanden mit der CVP.

Bei was zum Beispiel?

Bünter: Bei gewissen Geldern, die zusätzlich gesprochen wurden. Ein gesundes Geschäftsmodell sollte diese Krise mit Kurzarbeit und den Überbrückungskrediten durchstehen. Natürlich gibt es Branchenunterschiede und «junge» Unternehmen. Die Gefahr besteht, dass nun Geschäftsmodelle unterstützt werden, die langfristig auch ohne Krise nicht funktioniert hätten. Die Krise zeigt uns, wie wichtig Innovationsfähigkeit und ein nachhaltiger Finanzhaushalt sind, sowohl beim Staat als auch in der Wirtschaft.

Aber es ist doch erstaunlich: Vor den Wahlen 2015 forderte CVP-Präsident Gerhard Pfister im «Schweizer Monat» eine Trendwende hin zu einem bürgerlichen Schulterschluss. War das letztlich nur ein PR-Stunt?

Trachsel: Für mich war es vor allem schade zu sehen, wie angenommene Volksinitiativen, zum Beispiel die Masseneinwanderungsinitiative, von den bürgerlichen Parteien einfach nicht umgesetzt wurden. Und das, obwohl doch gegen 50 Prozent eurer Wähler dafür gestimmt hatten! Das zerstört das Vertrauen der Bürger in die Politik.
Bünter: Ich sehe den bürgerlichen Schulterschluss nicht als PR-Stunt. Wir haben aber gemerkt, dass die Positionen in gewissen Bereichen doch zu unterschiedlich waren. Auf Seiten der SVP war auch sehr wenig Konsensfähigkeit zu spüren. «Nur so und nicht anders!» – so funktioniert das in der Politik einfach nicht.

Ist der klassische Gegensatz zwischen Bürgerblock und Linken vielleicht auch einfach überholt? Allianzen werden heute bekanntlich über alle möglichen Parteigrenzen hinaus geschmiedet, es gibt neue Dimensionen in der Politik, auch neue Parteien. Müssen wir uns vom alten Konzept verabschieden?

Müller: Ja. Klassische Parteiallianzen haben ausgedient. Was wir suchen sollen, sind thematische Allianzen.

Wo sehen Sie ein Potenzial für solche Allianzen zwischen Ihren drei Parteien?

Müller: Jede Partei formuliert zunächst für sich selber eine Vision. Liberale Politik bedeutet für mich, dass Leute aus eigener Initiative etwas auf die Beine stellen können, Gesetze möglichst schlank und die Steuern möglichst tief sind. Diesbezüglich gibt es sicher eine grosse Überschneidung mit der SVP. Auch bei der CVP finden wir bestimmt da und dort einen Konsens. Wenn sich die Linken fundamental in die Opposition verabschieden, dann muss man den Kompromiss mit CVP und SVP finden. Wenn hingegen die SVP völlig auf stur schaltet, müssen wir nach anderen thematischen Kompromissen suchen. Wir sind etwa interessiert an einer freiheitlichen Klimapolitik. Wenn die SVP dazu nicht Hand bietet, dann müssen wir halt mit der CVP oder der GLP zusammenarbeiten.
Trachsel: Gerade in der Klimapolitik entfernt sich der Kompromiss vom liberalen Ansatz einer bürgerlichen Politik. Die SVP will nur bürgerliche Politik! Man kann das als stur bezeichnen, ich bezeichne es als konsequent. Weder Flugticketabgaben noch Verbote werden unser Klima nachhaltig verändern. Innovationen werden die Lösung bringen! Nur so werden wir eine allfällige Klimakatastrophe verhindern können, aber sicher nicht mit Symbolpolitik.

Aus liberaler Sicht war der Bürgerblock lange erfolgreich: In den 1970er und 1980er Jahren haben CVP, FDP und SVP gemeinsam die Steuern und Abgaben einigermassen tief gehalten. Der darauffolgende Aufstieg der SVP, die der CVP und der FDP zahlreiche Wähler abluchste, hat das Spiel grundlegend verändert. Bei der älteren Generation von Politikern und Wählern gibt es viele verletzte Gefühle. Ist da eine jüngere Generation vielleicht weniger vorbelastet? Kann sie besser zusammenarbeiten?

Bünter: Im Austausch mit den Mutterparteien ist das schon ein bisschen festzustellen, ja. Bei der Altersvorsorge beispielsweise konnten wir uns unter den Jungparteien – von der Jungen SVP bis zur Jungen EVP – auf eine Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung einigen. Ich bin überzeugt, es war bei früheren Reformen ein grosser Fehler, dass wir Bürgerlichen uns gespalten haben, obwohl wir relativ viele Übereinstimmungen haben.
Trachsel: Einverstanden. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass auch bei euch Jungen noch ein Anti-SVP-Reflex zu spüren ist. Man versucht immer wieder, die SVP als unbürgerlich darzustellen – tatsächlich vertritt sie aber eine solide bürgerliche Position. Staatsabbau, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Neutralität: Die SVP steht heute für das, was lange die Essenz der bürgerlichen Politik war. Weil unsere Partei so gross geworden ist, mussten die anderen bürgerlichen Parteien fast zwangsläufig etwas nach links rutschen.
Müller: Wir Jungpolitiker haben weniger Animositäten, weniger Ressentiments. Uns jungen Liberalen ist niemand auf den Fuss gestanden, wie vor zwanzig Jahren Herr Blocher den Goldküstenliberalen. Wir gehen offen in die Debatten und können gewisse Entwicklungen vorwegnehmen, zum Beispiel bei der Altersvorsorge. Ich würde mir wünschen, wir könnten zu den guten, alten Werten einer bürgerlichen Politik zurückkehren: möglichst wenig Bundesstaat, Subsidiarität, Föderalismus. Eine wesentliche Erkenntnis, die wir Bürgerliche teilen sollten: Unserem Land geht es so gut, weil die Linken in der Minderheit sind. Daran müssen wir weiterhin arbeiten.

Was bedeutet für Sie Liberalismus? Wie würden Sie ihn für die Zukunft neuerfinden?

Trachsel: Ich wünsche mir mehr Mut, Selbstverantwortung zu übernehmen. Freiheit ohne Verantwortung funktioniert nicht. Auch wenn sie anstrengend sein kann, braucht es die Eigenverantwortung.
Bünter: Wichtig für den Begriff Verantwortung ist das Handeln. Ich sehe beispielsweise keinen Widerspruch in einer liberalen Klimapolitik: Entscheidend ist die Kostenwahrheit. Es geht nicht um Verbote, sondern darum, dass die externen Kosten berücksichtigt werden. Wenn ein Produkt für einen Konsumenten teurer wird, weil die externen Effekte einbezogen werden, steht das aus meiner Sicht nicht im Widerspruch zu einer liberalen Wirtschaftspolitik. Dadurch werden nachhaltigere Produkte aber auch marktfähig.
Müller: Wir stehen an einem Wendepunkt: Viele Entwicklungen heute, sei es durch die Pandemie oder die Globalisierung, schüren Ängste, und die Reaktion darauf ist oft, dass wir das Problem verdrängen oder aber Schutz suchen. Besser wäre es, grosse Megatrends wie Robotisierung und Migration positiv zu nutzen.

Was heisst das zum Beispiel für die Klimapolitik? Herr Trachsel meinte vorher, dass Flugzeugticketabgaben und neue Steuern das Klima nicht retten würden.

Müller: Richtig. Bei der Flugzeugticketabgabe bin ich auch sehr skeptisch. Hierbei ist die Rückerstattung wichtig: Wenn das Geld in einen Innovationsfonds fliessen würde, aus dem sinnvolle Projekte entstehen könnten, kann man mit mir darüber reden. Alles andere ist tatsächlich Symbolpolitik. Mit dem Pariser Klimaabkommen haben wir uns zu einer Senkung der Klimaemissionen verpflichtet. Die Frage ist nun, wie wir die Ziele erreichen. Die FDP hat im Ständerat entscheidend mitgewirkt, dass wir einen klaren Zielpfad definieren konnten. Dieser ist bindend für die Wirtschaft, zum Beispiel bei der Sanierung von Gebäuden. Zur Erinnerung an die SVP: Die Wirtschaftsverbände wollen ein CO2-Gesetz. Viele Unternehmen sehen darin auch Chancen für neue Geschäftsmodelle.
Bünter: Ja, durch die Entwicklung neuer Innovationen kann die Schweiz einen wirtschaftlichen Vorsprung erlangen. Allgemein sehe ich in der Klimapolitik viel Abwehr und wenig Lösungen, gerade seitens der SVP. Ich finde das problematisch: Es wäre wichtig, dass wir uns hier gemeinsam engagieren, damit es einen Weg mit und nicht gegen die Wirtschaft gibt.

Simon Aegerter bringt als Beitrag für den Klimaschutz neue ­Atomkraftwerke ins Spiel. Die Kernenergie sei der sinnvollste Weg, das Klima zu schützen. Wie sehen Sie das?

Trachsel: Was er richtig sieht: Neben «grün» gibt es auch noch die Stichworte «versorgungssicher» und «bezahlbar». Nur auf Atomstrom zu setzen, wäre falsch. Wir brauchen ergebnisoffene Innovation ohne Technologieverbote, und da darf es eigentlich auch keine Subventionen geben, und wenn, dann nur sehr transparent. Mit weniger Subventionen und Steuern sehen wir besser, wo sich eine Investition auszahlt und wo nicht. Ich bin auch dagegen, dass der Staat mit einem grossen Fonds investiert: Das Wissen, das der Markt mit sich bringt, hat der Staat nicht. Ob Benzin nun ein bisschen teurer wird oder nicht, hat kaum Auswirkungen auf das Klima. Unser Ziel sollte es sein, dass Autos ganz ohne Benzin auskommen und beispielsweise mit Wasserstoff betrieben werden können, oder indem man CO2 aus der Luft filtert und wiederverwertet. Mit dem Aufstellen von Verboten und mehr Steuern erreichen wir das nicht.
Müller: Wir führen diese Diskussion ja nur, weil wir mit der Energiestrategie 2050 einen regulatorischen Irrläufer beschlossen haben. Wir Jungfreisinnigen haben die Vorlage vehement bekämpft und daraufhin in einem Positionspapier die Aufhebung eines Kernkraftverbots schwarz auf weiss festgehalten. Wir wissen, dass Kernenergie niedrige CO2-Emissionen aufweist, ähnlich wie Wasserkraft. Als Heilsbringer sollte man Kernkraft nicht darstellen, doch hinsichtlich der Versorgungssicherheit ist sie als Back-up unumgänglich.
Bünter: Wir sollten die Kostenwahrheit auch bei der Kernkraft nicht vergessen: Sie ist zwar CO2-neutral, man muss aber auch das Risikospektrum anschauen. Wegen den möglichen gesundheitlichen Schäden und den Kosten für Zwischen- und Endlagerung sind Kernkraftwerke, auch bei tiefer Eintrittswahrscheinlichkeit, eine extrem teure Angelegenheit. In einer Welt ohne Subventionen brauchen wir volle Kostentransparenz, und dann werden Benzin, Kerosin und damit beispielsweise auch der Flugverkehr teurer. Ich habe lieber Kostentransparenz als Subventionen, dann liegt die Entscheidung in der Verantwortung der Bürger.

Ein weiteres Thema, das unter den Bürgerlichen viel zu reden gibt, ist die Migration. Margit Osterloh und Bruno S. Frey schlagen eine Eintrittsgebühr für legale Migration vor. Das würde die Integration erleichtern und gleichzeitig das Schlepperwesen bekämpfen. Wie sehen Sie das?

Müller: Ich finde den Ansatz sehr interessant. Er geht von der Prämisse aus, dass Migration insgesamt eine Quelle des Wohlstands und der Innovation ist. Aber wer vom Nutzen spricht, darf nicht über die Kosten schweigen, und Migration bringt auch Kosten mit sich. Wenn eine Million Personen einwandern, dann entsteht ein Druck auf Löhne und Infrastruktur, das ist ein Fakt. Auf der anderen Seite haben wir in der Schweiz einen Fachkräftemangel. Hier prallen zwei Freiheitsrechte aufeinander: Man kann schon sagen, dass Emigration ein Recht sei. Ein Recht auf Immigration aber kann man a priori nicht voraussetzen: Das aufnehmende Land muss entscheiden. In der gegenwärtigen Praxis entscheiden vor allem bei den Drittstaatenkontingenten irgendwelche Kommissare und Verwaltungsstellen, wer reingelassen wird und wer nicht. Eine Lenkung über Preise wäre viel fairer.
Trachsel: Wir sind für eine gewählte, gemässigte Immigration. Es gibt verschiedene Ansätze für eine restriktive Einwanderungspolitik, zum Beispiel Punktesysteme, Kontingente oder Höchstzahlen. Was alle Systeme gemeinsam haben: Sie sind alle besser als einseitige Masseneinwanderung aus der EU und sehr strenge Drittstaatenkontingente gegenüber dem Rest der Welt. Masseneinwanderung und Fachkräfte haben wahrscheinlich nichts miteinander zu tun. Was wir brauchen, ist ein intelligentes Kontingentierungssystem, das es der Wirtschaft ermöglicht, möglichst einfach und weltoffen von überall die Leute zu holen, die sie benötigt. Das Problem am Vorschlag von Frau Osterloh und Herrn Frey ist die Höhe des Eintrittspreises. Teilweise werden auch Leute im Niedriglohnsegment gebraucht. Das Vermögen, um eine Eintrittsgebühr zu bezahlen, haben solche Personen nicht.

Der Arbeitgeber könnte den Eintrittspreis ja bezahlen.

Trachsel: Im Niedriglohnsegment ist die Wertschöpfung tief. Der Anreiz, für den Eintrittspreis zu bezahlen, ist für den Arbeitgeber womöglich gering. Ein Eintrittspreis ist sicher besser als die Masseneinwanderung, aber nicht ideal.
Müller: Das ist doch der entscheidende Punkt: Wo Preise spielen, bildet sich ein Markt, und so wird der effiziente Preis ermittelt. Arbeitgeber können den Eintrittspreis bezahlen, womöglich aber auch NGOs und Hilfsorganisationen. Zum guten Glück sind wir ein sehr spendenfreudiges Land, das würde Migration ermöglichen.
Bünter: Das Problem bei solchen Ansätzen ist, dass sie nicht beim Ursprung der Migration ansetzen. Die Migration, über die wir heute reden, ist häufig die Folge von Konflikten und mangelnder Perspektiven in den Ursprungsländern. Historisch hat uns die Migration extrem viel gebracht, wir haben auch eine humanitäre Verantwortung. Wir sollen sie wahrnehmen und uns fragen, wie wir es schaffen, Migrationsströme dieses Ausmasses gar nicht erst entstehen zu lassen. Ich habe Mühe damit, Eintrittspreise als nachhaltige Lösung für das Migrationsproblem zu sehen. Spannend dagegen fände ich, mit einer Investitionsrisikoversicherung Investitionen in Entwicklungsländern zu fördern. Das wäre auch eine Chance für unsere Wirtschaft.

Und wer würde diese Versicherung zur Verfügung stellen?

Bünter: So wie bei der Exportrisikoversicherung deckt der Markt den grössten Teil ab, und da, wo das Risiko für die Versicherer zu hoch ist, würde der Staat eine Garantie leisten. So können sich Länder entwickeln.
Müller: Ich glaube, man muss zwei Dinge auseinanderhalten. Einerseits haben wir politische Flüchtlinge, die müssen wir aufnehmen, und das ist gut so. Aber zu einem grossen Teil reden wir ja von Wirtschaftsmigration. Diese Leute werden nicht verfolgt, sondern suchen einfach eine bessere Zukunft. Wenn sie in ein Land kommen und ihre Qualifikationen unter Beweis stellen wollen, dann sollten wir das ermöglichen, aber in gelenkten Bahnen. Ich habe gelesen, dass man Schleppern knapp 9000 Franken bezahlen muss. Es sind also nicht die Ärmsten der Armen, die sich auf die Reise hierhin begeben. Anstatt 9000 Franken für einen Schlepper zu bezahlen, könnte man auch Geld für den Eintrittspreis sammeln.

Mit dem Coronavirus ist ein Thema völlig aus den Medien ver­schwunden: das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU. Unter welchen Umständen würden Sie einem Rahmenvertrag zustimmen?

Müller: Die Stossrichtung des Rahmenvertrags finde ich eigentlich gut: Wir brauchen stabile und sichere Beziehungen zu unserem wichtigsten Wirtschaftspartner. Das Abkommen kann man unterstützen, wenn die Unionsbürgerrichtlinie explizit draussen bleibt und wenn Klärungen bei der staatlichen Beihilfe erreicht werden. In unserem Land können die Kantone selber über ihre Beteiligungen entscheiden. Diese dürfen nie unter den Begriff fallen, wie die EU ihn verwendet. Vor allem aber ist der Begriff der staatlichen Beihilfe auch eine Hintertür, um unsere Steuerpolitik anzugreifen, indem man tiefe Steuern als eine Form von staatlicher Beihilfe bezeichnet. Das muss geklärt werden. Ebenfalls geklärt werden müsste die Frage der Jurisdiktion. Gemäss dem vorliegenden Vertrag ist de facto der Europäische Gerichtshof (EuGH) die letzte Instanz. Überall dort, wo Unionsrecht impliziert ist, hätte der Schiedsgerichtshof die Verpflichtung, den EuGH anzurufen. Da müssen wir den bewährten Weg des Bilateralismus fortfahren: Aktuell haben wir diplomatische Vertretungen, die Streitfragen zusammen klären. Aus unserer Sicht hat das eigentlich gut funktioniert.
Bünter: Ich kann dem weitgehend zustimmen. An erster Stelle steht für mich aber die Streitbeilegung. Aufgrund dieses Aspekts sind die anderen Punkte überhaupt erst kritisch: Es geht darum, wie die Zusammenarbeit seitens der EU weiterentwickelt wird. Das grosse Problem des aktuellen Entwurfs ist, dass völkerrechtliche Mechanismen durch EU-interne Regelungen abgebaut worden sind. Der EuGH nimmt im Streitschlichtungsmechanismus, wie er im Abkommen steht, eine zentrale Rolle ein. Stattdessen sollten Probleme auf völkerrechtlichem Weg geregelt werden, bei dem beide Seiten bis zu einem gewissen Grad gleichberechtigt sind. Es gibt dann beispielsweise keine Gefahr, dass die EU uns gegen unseren Willen die Unionsbürgerrichtlinie auferlegt.
Trachsel: Der Vertrag, wie er heute vorliegt, ist nicht zu retten. Die institutionelle Lösung ist so ausgestaltet, dass man nicht von einem Vertrag zwischen Partnern auf Augenhöhe reden kann, und das ist der Schweiz als souveränem Staat unwürdig. Ob es nun die Unionsbürgerrichtlinie, der Tierschutz oder die Migration ist, die einem nicht passt, spielt eigentlich keine Rolle. Das Grundproblem ist das fremde Recht. Der Mechanismus an und für sich ist falsch. Da muss man sich eine gleichberechtigtere Lösung überlegen.

Was ist aus Ihrer Sicht in der aktuellen Legislatur das zentrale Thema? Wo sehen Sie den Konsens mit den anderen bürgerlichen Parteien?

Trachsel: Die Rentenreform mit der ersten und der zweiten Säule, aber auch das Gesundheitswesen und die Europapolitik. Bei uns Jungparteien ist die Zusammenarbeit in diesen Themen ein wenig einfacher, wir müssen weniger Rücksichten nehmen. Als Jungparteien können wir eher noch das Ideal formulieren und müssen nicht daran denken, es allen recht zu machen. Diese Mentalität muss vermehrt in die Mutterpartei einfliessen: Wir müssen die Ideale aufzeigen.
Müller: Die Rentenreform ist matchentscheidend, wir müssen den Umverteilungswahnsinn in der ersten und zweiten Säule beenden. Unsere Renteninitiative will in der ersten Säule eine moderate Erhöhung des Rentenalters auf 66 Jahre. In der zweiten Säule wollen wir tiefere Mindestumwandlungssätze und eine Glättung der Beitragssätze. Auch für die Kohäsion des Landes, für die Generationengerechtigkeit ist die Rentenreform das wichtigste Geschäft der Legislatur.

Was ist für Sie das wichtigste Geschäft, Frau Bünter?

Trachsel: Du sagst jetzt aber nicht nochmals das Gleiche? (lacht)
Bünter (lacht): Doch! Für die junge Generation ist es tatsächlich die Altersvorsorge. Die Vorlagen, die jetzt diskutiert werden, sehe ich skeptisch. Vor allem den Vorschlag für die zweite Säule finde ich aus der Perspektive der jungen Generation sehr problematisch, weil so eine weitere Umverteilung ins System eingeführt wird. Das geht in die Richtung der linken Seite, die anstatt einer zweiten Säule lieber eine Einheitskasse hätte. Ich bin überzeugt, das Dreisäulenprinzip ist gut, wir müssen es aber an die demografische Entwicklung anpassen. Wir Jungparteien nehmen bei diesem Thema die langfristige Sicht ein, was gerade in der gegenwärtigen Krise eine sehr wichtige Perspektive ist. Wir müssen für die Zukunft gewappnet sein.

Das verdrängte Problem
der Pflegefinanzierung

Wegen des demografischen Wandels steigen die Pflegekosten stark an – und überfordern Kantone und Gemeinden. Es braucht einen Systemwechsel: die Einführung einer Pflegeversicherung.

 

Die Kosten der Langzeitpflege belaufen sich heute auf rund 12 Milliarden Franken pro Jahr6 und wachsen jährlich um rund 4 Prozent. Für die Pflegekosten im engeren Sinn, welche in Pflegeheimen (rund 4,3 Milliarden) und zu Hause (rund 2 Milliarden) anfallen, wurde die Finanzierung 2011 neu geregelt. War bis anhin die obligatorische Krankenversicherung (OKP) der Hauptkostenträger, beschränkt sich ihr Beitrag heute auf fix festgelegte, nach oben plafonierte Beiträge je Patient. Die Patienten tragen weiterhin Selbstbehalt und Franchise und beteiligen sich seit 2011 mit bis zu 20 Prozent des Krankenkassenbeitrags an den Pflegekosten. Neu hinzugekommen sind die Kantone und/oder Gemeinden, welche die verbleibenden Kosten übernehmen. Nicht Teil dieses Kostenteilers sind die mit Pflegeleistungen zusammenhängenden Kosten, insbesondere die Betreuungs- und Hotelleriekosten in Pflegeheimen. Diese belaufen sich auf rund 5,8 Mrd. Franken und sind durch die Patienten zu finanzieren.

Die Einführung der neuen Pflegefinanzierung 2011 war für die Krankenkassen weitgehend kostenneutral. In der Zwischenzeit ist ihr Finanzierungsanteil laufend gesunken. Allein zwischen 2011 und 2015 hat der Anteil der OKP von 56 auf 51 Prozent bei den stationären Pflegekosten und von 72 auf 70 Prozent bei der Pflege zu Hause abgenommen.7 Im gleichen Zeitraum kletterte der Anteil der stationären Restfinanzierung von Kantonen beziehungsweise Gemeinden von 27 auf 33 Prozent. Die Kostenverschiebung ist durch die einseitige Übertragung der Kostendynamik auf die öffentliche Hand entstanden und hat in den Kantons- beziehungsweise Gemeinderechnungen deutliche Spuren hinterlassen. Im Kanton St. Gallen etwa, wo die Restfinanzierung der Pflegekosten vollständig bei den Gemeinden liegt, belief sich der neu zu übernehmende Kostenblock 2011 auf rund 50 Millionen Franken. Bis 2019 ist dieser um durchschnittlich 7,8 Prozent pro Jahr auf über 90 Millionen angewachsen (siehe Grafik). Heute ist die öffentliche Hand nicht mehr Restfinanzierer, sondern Hauptfinanzierer der direkten Pflegekosten.

Die Beteiligung der öffentlichen Hand an den Kosten der Langzeitpflege ist derweil nicht auf die Pflegefinanzierung beschränkt. Können die Patienten ihren Anteil an den Pflegekosten nicht selber tragen oder übersteigen die Pensions- und Betreuungskosten ihre finanziellen Möglichkeiten, springt der Staat zusätzlich mit AHV-Ergänzungsleistungen (EL) ein. Auch hier ist die Zunahme erheblich: Nach Angaben des Heimverbands Curaviva sind heute rund 60 Prozent der Personen in Pflegeheimen auf EL angewiesen, bei Einführung der Pflegefinanzierung lag dieser Anteil noch bei rund 50 Prozent. Wiederum tragen die Kantone beziehungsweise die Gemeinden die Hauptlast, da sie auch bei den EL zur AHV mit einem Anteil von rund 75 Prozent die Hauptfinanzierer sind (den Rest trägt der Bund).

Die Folgen sind klar: Sowohl die Pflegefinanzierung als auch die Ergänzungsleistungen führen dazu, dass die Langzeitpflege zusehends über kantonale und kommunale Steuergelder finanziert wird. Dabei steht die eigentliche Kostenexplosion erst bevor – die zahlreichen Babyboomer, die nun in Rente gehen, sind in rund 20 Jahren jene, die pflegebedürftig sind. Der Bundesrat schätzte 2016, dass die Kantone und Gemeinden bis 2045 ihre Steuern um 12 Prozent anheben müssten, damit sie im heutigen System die Kosten der Langzeitpflege tragen könnten.8

Während auf Bundesebene aufgrund der geringen Betroffenheit derzeit wenig Bereitschaft erkennbar ist, die Probleme der Pflegefinanzierung anzugehen, können sich Kantone und Gemeinden ein weiteres Zuwarten kaum leisten. Gelingt es nicht, die Finanzierungslasten der Pflege breiter abzustützen, droht eine massive Verdrängung anderer Aufgaben. Rasches Handeln ist aber auch deshalb geboten, weil die Herausforderungen der Pflegefinanzierung kaum durch eine einfache Nachjustierung des bestehenden Systems – etwa eine höhere Beteiligung der Krankenkassen – gelöst werden können. Die Dynamik verlangt vielmehr einen grundlegenden Systemwechsel, der aufgrund der Komplexität und der vielen Beteiligten eine lange Vorlaufzeit erfordert.

Wie könnte ein Systemwechsel aussehen? Eine nachhaltige Lösung könnte eine obligatorische Pflegeversicherung zusätzlich zur Kranken- und Unfallversicherung bringen. Die Pflegebedürftigkeit im Alter ist ein klassisches «Schadensereignis», das nicht alle treffen wird, aber jeden – unabhängig vom Gesundheitszustand und Lebenswandel – treffen kann. Die Schadenssumme aus Kosten von Pflege und damit verbundenem Heimaufenthalt ist derart hoch, dass ein Grossteil der Bevölkerung bis hin zum oberen Mittelstand nicht in der Lage ist, diese selbst zu tragen. Die gängige Lösung in einer solchen Konstellation ist eine Versicherung, in der das Kollektiv den individuellen Schaden trägt.

Ein Ansatz in diese Richtung ist das von Avenir Suisse vor einigen Jahren vorgeschlagene kapitalgedeckte Pflegeversicherungssystem. Darin bauen Haushalte ab 55 Jahren obligatorisch ein individuelles Pflegekapital auf, das im Fall von nachgewiesener Pflegebedürftigkeit für Pflege und Betreuung, stationär oder ambulant, bezogen werden kann. Der Sparpfad ist so ausgestaltet, dass die durchschnittlichen Pflege- und Betreuungskosten (nicht aber Hotelleriekosten) in einem Heim gedeckt werden können. Wird das Pflegekapital zu Lebzeiten nicht aufgebraucht, wird es vererbt. Reichen umgekehrt die Mittel nicht aus, springt der Staat weiterhin mit Ergänzungsleistungen ein.

Eine Alternative wäre eine Sozialversicherung im Umlageverfahren, bei der die eingezahlten Beiträge laufend an die Leistungsbezüger ausbezahlt werden. Grundsätzlich drängt sich ein Umlageverfahren umso mehr auf, je stärker das kapitalgedeckte System durch Solidaritätselemente ergänzt wird. So führt ein Umlageverfahren für Pflege- und Betreuungskosten im Vergleich zum vorgeschlagenen Pflegekapital tendenziell zu tieferen Versicherten- und Staatsbeiträgen, da individuelle Fehlbeträge und Überschüsse in der Versicherung verbleiben – dies im Gegensatz zum vererbbaren Pflegekapital, bei dem der Staat zwar über die EL für Fehlbeträge aufkommen muss, wenn die individuellen Ersparnisse nicht ausreichen, aber umgekehrt überschüssiges Pflegekapital als Erbmasse stehen lässt. Könnten die Pflegekosten mit tieferen Beiträgen abgesichert werden, liesse dies insbesondere Raum, auch die Hotelleriekosten in den Leistungsumfang der Pflegeversicherung einzubeziehen, welche mit dem Heimeintritt automatisch anfallen und seitens der Patienten kaum steuerbar sind. Umgekehrt wäre bei einer Umlagefinanzierung darauf zu achten, dass eine anfänglich zahlenmässig starke Generation von Beitragszahlern nicht nur für die zahlenmässig schwache Bezügergeneration aufkommt, sondern – via Reservenbildung – auch die eigenen erwarteten Kosten trägt.

Neben der Frage, ob ein kapital- oder umlagefinanziertes Verfahren mit den je eigenen Vor- und Nachteilen gewählt werden soll, ist insbesondere zu klären, wie für die grosse Mehrheit der Haushalte die Finanzierbarkeit der Versicherungsbeiträge sichergestellt werden kann und nicht verbreitet Ausgleichsmechanismen über individuelle Prämienverbilligungen oder Ergänzungsleistungen notwendig werden. Zweifelsohne ist es zweckmässig, die Versicherungspflicht für eine Pflegeversicherung erst im fortgeschrittenen Alter festzuschreiben. Damit wird vermieden, dass die jüngeren Generationen, die aufgrund von Familienpflichten, aber auch der demografischen Alterung bereits stark unter Druck sind, zusätzlich belastet werden.

Trotzdem dürften weitere Finanzierungsquellen notwendig sein. Zwei Möglichkeiten sind in Betracht zu ziehen:

  • Obligatorische Mindesteinlage aus dem beruflichen Vorsorgekapital in die Pflegeversicherung:
    Zum Zeitpunkt der Pensionierung wird ein Teil des Pensionskassenkapitals in individuelles Pflegekapital umgewandelt (bei einer kapitalgedeckten Pflegeversicherung) beziehungsweise an die Pflegeversicherung zur Reduktion der künftigen Beiträge an die Pflegeversicherung überwiesen (beim Umlageverfahren). Der Rückgriff auf die Pensionskassengelder führt zu einer umfassenderen Auslegung der obligatorischen Altersvorsorge, welche die Möglichkeit einer Pflegebedürftigkeit neu miteinschliesst. Damit wird vermieden, dass das über einen langen Zeitraum aufgebaute Alterskapital – gewollt oder ungewollt – im jüngeren Pensionsalter zu stark aufgebraucht wird.
  • Mitfinanzierung der Pflegeversicherung durch Erträge einer nationalen Erbschaftssteuer:
    Im Zuge des kantonalen Steuerwettbewerbs ist die Erbschaftssteuer in den letzten Jahren stark zurückgefahren worden (ohne dass dies durch eine höhere Vermögenssteuer kompensiert worden wäre). Marius Brülhart von der Universität Lausanne hat jüngst errechnet, dass mit einer Erhöhung des Steuersatzes von heute durchschnittlich 1,4 Prozent auf 4,1 Prozent, dem Niveau von 1990, heute rund 2,5 Milliarden Franken Steuereinnahmen generiert werden könnten – ohne wesentliche Verschiebungen des Steuersubstrats auszulösen.9 Wenn die Pflegeversicherung über Steuermittel mitfinanziert werden muss, hat die Erbschaftssteuer das Potenzial, substanziell Mittel zu generieren, ohne starke ökonomische Verzerrungen hervorzurufen.

Sowohl die Beschränkung des Kapitalbezugs in der zweiten Säule wie auch die nationale Erbschaftssteuer hatten in der Vergangenheit politisch einen schweren Stand. Im Rahmen einer Pflegeversicherung haben sie allerdings das Potenzial, der nachhaltigen Lösung des Pflegekostensystems (einschliesslich Entlastung der Krankenkassenprämien) zum Durchbruch zu verhelfen. Daran haben wir alle ein Interesse. Es lohnt sich, die Diskussion und Arbeiten zur erneuten Neuordnung der Pflegefinanzierung ohne Tabus wieder aufzunehmen.

Befreiungsschlag für den Handel

Mit Corona hat der Protektionismus noch mehr Aufwind bekommen. Dabei bräuchte es gerade jetzt mehr Freihandel, um nicht nur Wohlstand, sondern auch Sicherheit zu schaffen.

 

Am 14. August 1941 legten US-Präsident Roosevelt und der britische Premierminister Churchill in der Atlantic Charter eine Roadmap für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fest. Handelshemmnisse sollten abgebaut und alle Staaten Zugang zu Rohmaterial und Handelsrouten haben. Protektionismus hatte den Welthandel zwischen 1930 und 1933 um zwei Drittel einbrechen lassen, die Weltwirtschaftskrise verstärkt und den Weltkrieg mitverursacht. Das sollte sich nicht wiederholen.

Internationale Beziehungen sollten auf Handel, Kooperation und Völkerrecht basieren, mit den USA als globaler Ordnungsmacht. In der Folge wurden IMF, Weltbank, Gatt und Nato gegründet. Die USA reduzierten unilateral Zölle und finanzierten den Marshallplan, weil nur in die internationale Gemeinschaft eingebundene, wirtschaftlich starke Länder friedlich sind.

Die Pax Americana war und ist ein einmaliger Erfolg: Wohlstand pro Kopf, Lebenserwartung und Alphabetisierungsrate waren nie höher, die Armutsquote nie tiefer und selten gab es weniger Kriege. Die letzten 75 Jahre waren ein Triumph für die Theorie von Montesquieu, wonach Handel zu Wohlstand und gegenseitiger Abhängigkeit führt und Friede daher die natürliche Folge von Handel ist.

Von dieser Ordnung haben dank ihrer Exportindustrie und deren hoher Wertschöpfung insbesondere Kleinstaaten wie die Schweiz profitiert. Unsere Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM) ist ein Beispiel dafür: Sie macht heute 7 Prozent des Schweizer Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus, beschäftigt 325 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, darunter 20 000 Lernende, und exportiert 80 Prozent ihrer Güter. 98 Prozent der Firmen sind KMU und als globale Marktführer oft für technologische Lösungen für Herausforderungen wie die Bewältigung des Klimawandels verantwortlich.

Trotz dieser Erfolge bröckelt die Unterstützung für den Welthandel bis weit in bürgerliche Kreise. Seit 2017 dominieren Kampfrhetorik und Strafzölle von US-Präsident Trump. Mindestens so gefährlich sind die neue Abschottungs- und Industriepolitik der EU sowie die Reformblockade der Schwellenländer.

Nun hat Covid-19 die globalen Abhängigkeiten unseres Wohlstands gezeigt und die Welt in eine tiefe Rezession gestürzt. Was ist die Reaktion? Viele Industriestaaten wollen mit Subventionen die Produktion nach Hause holen. Sie verschweigen, dass globale Produktionsketten seit 20 Jahren Konsumgüter billiger und Konsumenten reicher gemacht haben. Nach Jahren der Blockade könnte das Welthandelssystem plötzlich am «Make it or break it»-Punkt stehen. Auf dem Spiel steht viel. Um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, braucht es richtige Kommunikation, multilaterale Initiativen und nationale Reformen.

Die Verlierer nicht vergessen

Zentral ist ein uneingeschränktes Einstehen für den Freihandel in Politik und Wirtschaft. Zu stark verschleierten in den vergangenen Jahren wohlklingende Anliegen wie Ökologie, Arbeitsnormen und Drittweltanliegen protektionistische Ziele. Künftig braucht es nicht Debatten über negative Folgen von Handel, sondern das Hervorheben von dessen Erfolgen.

Allerdings: Handel bringt Wandel und dieser schafft auch Verlierer. Verlierer brauchen jedoch nicht Protektionismus, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. Das ist dank der Wohlstandsgewinne durch Handel möglich. Nicht durch Ausbau des überlasteten Sozialstaats, sondern durch bessere Ausbildung im Bereich der Digitalisierung und eine Weiterbildungsoffensive kann man Verlierern neue Perspektiven geben. So will die MEM-Industrie den Fachkräftemangel durch das Überwinden individueller Ausbildungsdefizite  lindern.

Die WTO reformieren

Multilaterale Lösungen sind besser als bilaterale. Nach einer Phase des Protektionismus unter US-Präsident Reagan brachten Bush senior und Clinton die Uruguay-Runde zum Abschluss und ermöglichten die Gründung der WTO. Nach Covid-19 ist eine ähnlich bahnbrechende Reform die beste Lösung zur Sicherung des weltweiten Wohlstands.

Die Schweiz sollte hier wie in der Vergangenheit eine wichtige Rolle spielen und mit kleinen und mittleren Handelsstaaten eine mutige Reform fordern. Neben einer Stärkung des Streitschlichtungsmechanismus und Regeln für E-Commerce sind dabei folgende Anliegen zentral:

  • Ende des Trittbrettfahrens der Schwellenländer: Heute bestimmen z.B. China und Indien selber, ob sie Entwicklungsländer sind und von WTO-Ausnahmeregeln profitieren. Das ist stossend. Die USA schlagen vor, dass OECD- und G20-Mitglieder bei der WTO keine Entwicklungsländer sind. Das ist fair und zwingt Indien sowie China zu Reformen.
  • Härtere Bestimmungen gegen (Export-)Subventionen: Diese sind politisches Gold, aber volkswirtschaftliches Gift und am besten durch internationale Regeln zu beschränken. Aufgrund der Coronapandemie kommt die Gefahr vor allem aus den Industrieländern. Alle Staaten – auch China – hätten heute ein Interesse, dass die noch im Januar lancierten Vorschläge von Japan, den USA und der EU umgesetzt und eine durch Covid-19 verursachte Verstaatlichung der Wirtschaft sowie ein Subventionswettlauf verhindert werden. Die Vorschläge verbieten Subventionen für defizitäre Firmen ohne glaubwürdigen Restrukturierungsplan und für Firmen ohne Zugang zu langfristigen Finanzierungen durch unabhängige Quellen. Zudem wollen sie Transparenz bezüglich Subventionen schaffen.
  • Besserer Schutz für Investitionen: Globale Produktionsketten sind und bleiben zentral. Sie bedürfen gleich langer Spiesse und des Schutzes vor staatlicher Willkür. Auch hier hat China Reformen durchgeführt, weitere sind  angekündigt und nötig. In die falsche Richtung gehen hingegen die neuen Gesetze gegen ausländische (namentlich chinesische) Investitionen in Industriestaaten inklusive der Schweiz. Der geplante Abschluss eines griffigen Investitionsabkommens zwischen der EU und China mit besserem Marktzugang wäre ein Meilenstein und eine Vorlage für neue WTO-Regeln.

 

Die Schweiz wirtschaftlich öffnen

Eine WTO-Reform wäre in der gegenwärtigen Situation hilfreicher denn je. Es ist allerdings auch möglich, dass die Entwicklung in die andere Richtung geht: hin zu einer weiteren Blockade mit einer Entkoppelung der Weltwirtschaft in Handelsblöcke. Das wäre besonders für kleine, offene Volkswirtschaften wie die Schweiz schlecht.

Die einzige sinnvolle Strategie ist hier die forcierte Öffnung. Gerade bei der wirtschaftlichen Offenheit hat die Schweiz Nachholbedarf: Gemäss World Competitiveness Report liegt sie diesbezüglich nur auf Platz 87, hat den weltweit kompliziertesten Zollkodex und leistet sich viele technische Handelshemmnisse (Platz 40).

Nötig sind Reformen auf vier Ebenen. Erstens ist der Wegfall der Industriezölle zwingend und dringend. Die Industrie würde damit um jährlich 125 Millionen Franken entlastet und der administrative Aufwand massiv reduziert. Die Vorlage liegt beim Parlament. Eine dringliche Behandlung in beiden Räten und das Inkrafttreten auf 2021 sind der nötige Tatbeweis, dass Unterstützung für die Industrie kein Lippenbekenntnis ist. Es braucht in der Sommersession die Zustimmung beider Räte und ein Inkrafttreten auf 2021.

Zweitens sind die Chancen von Blockchain, Smart Contracts etc. rasch zu nutzen. Gemäss WTO kann der Welthandel damit in den nächsten zehn Jahren um eine Billion Dollar wachsen. Nötig dazu sind digitalisierte Zollabwicklung und E-Identität. Ebenso wichtig sind Blockchain und Photonics – die Verbindung von Optik und Elektronik – im Kampf gegen Fälschungen und im Engagement für Nachhaltigkeit. Hier können Schweizer Unternehmen einen wichtigen Beitrag leisten. Diese Technologien erleichtern die Nachverfolgbarkeit von Lieferketten. So können Konsumenten mit Gewissheit auf traditionelle Art gefangenen Thunfisch aus Indonesien oder von Kleinbauern produzierte Kokosnüsse kaufen. Solche Lösungen sollte der Bund in der Umsetzung von Handelsabkommen fördern, damit ökologisches und soziales Engagement unserer Konsumenten den Produzenten aus Schwellenländern noch direkter zu Wohlstand verhilft. Das nimmt Globalisierungsgegnern den Wind aus den Segeln.

Drittens ist der Zugang der Schweizer Exporteure im Milliardenmarkt für Infrastrukturgrossprojekte zu verbessern. Der Bund sollte Firmen schneller über Projekte informieren, die Schaffung von Konsortien unterstützen und deren Exporte bei der Schweizerischen Exportrisikoversicherung versichern.

Viertens ist der Marktzutritt zu sichern. Dazu gehört in erster Priorität das Rahmenabkommen mit der EU, wo 56 Prozent der MEM-Exporte abgesetzt werden. Zudem braucht die Schweiz Handelsabkommen. Eine Chance besteht bei Mercosur: Mit 300 Millionen Einwohnern ist das ein Riesenmarkt. Brandrodungen sind kein Argument gegen Mercosur: Der Handel wird Millionen Menschen den Aufstieg in die Mittelschicht ermöglichen, und diese wird – zusammen mit den Konsumenten in den Absatzländern – Druck für den Schutz der Umwelt machen. Der Abschluss ist unabhängig von der EU wichtig. Falls jedoch die EU ihr Abkommen mit Mercosur vor der Schweiz ratifiziert, droht uns ein Zollnachteil von bis 30 Prozent. Lehnt sie hingegen das Abkommen ab, haben Schweizer Firmen einen strategischen Vorteil.

Noch zwingender ist ein Abkommen mit den USA. Die Exporte der MEM-Industrie in die USA wachsen seit 2009 konstant und liegen heute bei 14 Prozent der Gesamtexporte. Ein Freihandelsabkommen soll alle Industriezölle und möglichst viele technische Handelshemmnisse beseitigen. Selten war eine US-Regierung so offen gegenüber der Schweiz. Doch anstatt diese Chance zu nutzen, scheint die Angst vor einer Blockade durch die Landwirtschaft – verantwortlich für 0,6 Prozent des BIP – Verwaltung und Politik zu lähmen.

1946 fragte Churchill in seiner Rede an der Universität Zürich, ob die einzige Lehre aus der Geschichte die Unbelehrbarkeit des Menschen sei. 1941 hatte er eine Grundlage für den Erfolg der letzten 75 Jahre gelegt. Heute braucht es keine neue Handelspolitik mit Verwässerungen und Kompromissen, sondern eine konsequente Rückbesinnung auf die Erfolgsrezepte aus der Vergangenheit sowie den Willen, frühere Fehler zu vermeiden. Setzen wir auf Wohlstand und Frieden statt auf Protektionismus und Konflikt!

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