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Auf geht’s, Afrika!

Ein Kontinent im Aufbruch

Inhalt

Auf geht’s, Afrika!

Ein Kontinent im Aufbruch.

 

Wie ist der Blick des Durchschnittseuropäers auf Afrika – distanziert, oberflächlich, ahnungslos? Überraschend wäre das nicht, denn gemeinhin erfährt man in den Medien im Vergleich zu Amerika oder Asien nur wenig über den Kontinent. Böse Zungen sagen gar, dass einige Europäer auf Afrikaner schauen wie die Insassen eines Safari-Jeeps auf wilde Tiere in der Savanne.

Dass das auch umgekehrt funktioniert, zeigte Walter Wippersberg in den 1990er Jahren in seinen bitterbös lustigen Meisterwerken «Das Fest des Huhnes» und «Dunkles, rätselhaftes Österreich» (in voller Länge auf YouTube verfügbar).

In diesen Parodien auf ethnologische Dokumentationen macht ein Filmteam des fiktiven kongolesischen Senders All African Television eine Expedition nach Oberösterreich und zieht intellektuelle Schlüsse über die Bewohner und ihre Bräuche aufgrund eigener Anschauung. In den an einem Bierzeltfest beobachteten Geschehnissen wie einem Schuhplattlertanz, der «von Nachbarstämmen übernommen zu sein scheint», sehen die afrikanischen Österreich-Forscher «ein kultisches Treffen von eminenter Bedeutung». Die Dementis der Oberösterreicher, die ihre Kulthandlungen (Bier trinken, ­Brathendl essen, tanzen) herunterspielen, werden zwar gezeigt, beeinflussen die Analyse der Forscher aber natürlich nicht.

Um nicht selbst allzu tief in die Falle der Fernanalyse zu treten, haben wir versucht, in diesem Dossier möglichst viele Menschen mit afrikanischen Wurzeln selbst zu Wort kommen zu lassen, als Autoren und Gesprächspartner: Maaza Mengiste, Mo Ibrahim, Gyude Moore, Germinal G. Van, Mbene Mwambene, Robel Debesay, Luc Rasson und Maman Bijou. Vor Ort aus Afrika berichten Florian Maier als Unternehmer in Niger und Anselm Pahnke, der den Kontinent mit dem Velo durchquert hat.

Als 2000 der «Economist» auf seinem Cover Afrika als «The hopeless continent» betitelte, glaubte kaum jemand an baldigen Fortschritt. 20 Jahre später stimmt das Bild hoffnungsvoller: Politische Stabilität und wirtschaftliches Wachstum breiten sich aus. Der Hunger ist fast ­überwunden, Technologien wurden übersprungen, Bildung verbreitet sich via Internet auch ohne Bildungssysteme. Eine junge Generation steht bereit, die Welt zu verändern. Und Europa tut gut daran, sich damit auseinandersetzen.

Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht

Die Redaktion


Für die Unterstützung dieses Dossiers danken wir dem Verein Zivilgesellschaft.
Redaktionell verantwortlich ist der «Schweizer Monat».

Tour de Force: mit dem Velo quer durch Afrika

Tour de Force: mit dem Velo quer durch Afrika

15 000 Kilometer in 414 Tagen von Kapstadt bis ans Rote Meer.
Mit einem Budget von 3000 Euro.

Das auf mich einprasselnde Sand-Peeling ist schmerzhaft für die wenigen Stellen der Haut, die ich nicht schützen kann, trotz Sonnenbrille und verschleiertem Gesicht sind meine Augäpfel von roten Fäden durchzogen. Der Wind bläst so stark, dass die verdunstende Feuchtigkeit meine Augen unterkühlt. Pausenlos rauscht es in meinen Ohren, ich beuge mich noch tiefer über die Lenkstange. Je stärker es mir entgegenbläst, desto kräftiger trete ich in die Pedale, links, rechts, links, rechts. Feurig schmerzhaft spüre ich die Kraft meiner Muskeln, höre, wie mein Atem schneller wird. Hörte ich auf zu treten, würde mein Fahrrad rückwärts gedrückt. Also immer weiter. Stunden, Tage, Wochen, Monate – Tag und Nacht umgeben von verbranntem Sand, stinkenden Kadavern und Geröllfeldern. Nur wenn ich in die endlose Ferne schaue, erscheint das Rauhe geglättet.

Ein Sandsturm fegt über den heissen Asphalt der Sudanesischen Sahara.

Viele Vorstellungen, die ich von Afrika hatte, waren fehlerhaft. Durch mein Studium der Geophysik war mir bewusst, dass die Kartografie durch die Mercatorprojektion verzerrt ist, Afrika also um einiges länger ist, als es auf Karten dargestellt wird. Eine Landkarte zeigt nicht das Land. Das gilt besonders für einen Kontinent, der oft sogar als Land bezeichnet wird. Dabei könnte man in den Kontinent Afrika die USA, Grönland, Indien, China, Spanien, Deutschland, Frankreich, das Vereinigte Königreich und die Schweiz packen und hätte immer noch Platz für einen Grossteil Skandinaviens.

Die Warnungen, dass es ein armer Kontinent sei und mein Vorhaben womöglich gefährlich, waren einer der vielen Gründe, die mich zu dieser Reise verleitet haben. Ich wollte aus meiner theoretischen Fantasie Erfahrung werden lassen. Durch die Oberfläche zum Kern dringen, dort ansetzen, wo etwas beginnt, bei der Ursache. Das Wissen aus der Schule und der Uni setzt sich im Kopf fest, die emotionale Erfahrung aber lebt im Geist und im Moment.

Deshalb habe ich mir das Rad als Fortbewegungsmittel ausgesucht, das Zelt als Nachtlager, den Benzinkocher als Nomadenküche. Ich habe gelernt, auf die Zeit zu verzichten. Einige Gebote habe ich mir selbst auferlegt, zum Beispiel kein Wasser zu kaufen und mein Trinkwasser nur von Brunnen und aus Flüssen zu schöpfen. Ich war auch ohne Versicherung, Medizin oder Recherche unterwegs. Weil ich den Menschen nah und nicht anders als die anderen unterwegs sein wollte.

Mein Tag beginnt mit einem warmen Haferbrei, gespickt mit getrockneten Früchten, bevor ich mein Zelt einrolle, die unbekannten Insekten und Gräser meines Nachtlagers inspiziere und mich dann auf den Sattel hieve. Durch die Lebensmittel- und Wasservorräte für mehrere Tage wiegt mein Rad über 70 Kilo. Auf meiner Karte sind etwa alle 250 Kilometer Brunnen eingezeichnet, Menschen begegne ich kaum noch. Ich bin das erste Mal in meinem Leben in einer Wüste unterwegs, und das Faszinierende an der Kalahari ist nicht die Szenerie, sondern die Stille. Vor allem auf weichen Sandflächen, wenn sogar das Geräusch meiner Reifen völlig verschluckt wird. Nach einiger Zeit überfällt mich die absurde Befürchtung, taub geworden zu sein – unwillkürlich klatsche ich in die Hände. Glück gehabt, mein Gehör funktioniert noch.

Immer schon hat Afrika eine besondere Faszination auf mich ausgeübt. Die Wurzeln von uns allen liegen dort, und doch wusste ich kaum etwas davon. In Europa und Asien wurden Ideen und Entwicklungen von West nach Ost und von Ost nach West ausgetauscht. Nie aber zwischen Nord und Süd. Nahezu der ganze afrikanische Kontinent entwickelte sich isoliert von der eurasischen Landmasse. Schon zu Beginn meiner Reise in Südafrika fiel mir an den wunderschönen Küsten auf, wie ungünstig sich diese für Häfen darstellten. Die wenigen grossen Flüsse waren mit Wasserfällen gespickt und für den Transport überhaupt nicht geeignet. Es gibt besondere geografische Gründe, warum Afrika technologisch oder politisch nicht so erfolgreich wie Westeuropa oder Nordamerika ist.

An der Grenze zu Malawi.

Sein und Haben

Ein kleiner Marktstand mit Mangos, Avocados und Papayas, ein Metzger, eine Schneiderin, ein Schuhmacher, ein Fahrradtaxifahrer. Afrika ist der Kontinent der Kleinunternehmen, rund 95 Prozent aller Firmen fallen in diese Kategorie. Um ihr tägliches Brot zu verdienen, kalkulieren die Menschen, mit denen ich in Kontakt komme, genau richtig. Sie verstehen es, anders mit Geld umzugehen, und nutzen es als Tauschmittel, das sie, viel öfters als bei uns, oftmals direkt am gleichen Tag wieder weitergeben. Viele Reaktionen zu meinem Kinofilm «Anderswo. Allein in Afrika» bezogen sich auf die freundlichen und offenen Menschen, das warme und herzliche Lächeln jener, denen ich begegnet bin. Eine Kinozuschauerin staunte, dass «es den armen Menschen so gut geht, obwohl sie doch nichts haben!». Doch hat Armut mit Besitz zu tun?

Im Norden Malawis war ich für ein paar Tage Gast bei Malaika und ihrem Mann Jabari, die in einer bunten Gemeinschaft direkt am Ufer des fischreichen Malawisees leben. Zu ihrer Familie zählen drei Kinder und fünf Hühner, ausserdem besitzen sie ein Boot, zwei grosse Töpfe, einige Körbe, eine Machete, ein Messer, ein Fischnetz und ein Lehmhaus mit zwei kleinen Räumen. Jeden Tag paddelt Jabari vor Sonnenaufgang mit einem Einbaum auf den See hinaus, und wenig später werde ich von Malaikas lachender Stimme geweckt. Gegen Mittag begleite ich den Sohn zum See hinunter, um am Ufer auf die Heimkehr von Jabari zu warten und beim Anlegen und Ausladen zu helfen. Wegen der vielen Flusspferde hat immer einer die Wasseroberfläche im Blick. Malaika verkauft den frischen Fisch am selben Tag auf dem Markt in Karonga. Ihre offene, präsente Haltung hat etwas Sorgenfreies und im Moment Geerdetes. Es ist eine natürliche Zeitlosigkeit ohne Lasten aus der Vergangenheit.

Ich bewunderte sie für diese Form der Schönheit weit mehr als jene, die sich mit Dingen schmücken. Erst nach meiner Rückkehr lernte ich durch den Vergleich mit dem Überfluss in der Heimat zu schätzen, wie schön es sein kann, wenig zu haben. Konzentriert man sich auf das Wesentliche, kann man lernen, sich selbst genug zu sein.

Ich tauche immer tiefer ins Herz Afrikas ein. Zunehmend vermeide ich Teerstrassen, möchte mich, sooft es geht, auf den geheimnisvollen Pisten des Hinterlandes bewegen. Über den wilden Westen Tansanias erreiche ich die kleinen Staaten Burundi und Ruanda, auch bekannt als Länder der 1000 Hügel. An den fruchtbaren Hängen bauen die Menschen Tee an. Soweit das Auge reicht, leuchten die saftig grünen Hügel durch den tropischen Dunst. Während in der Kalahari zwei Menschen pro Quadratkilometer leben, sind es hier, im am dichtesten besiedelten Gebiet Afrikas, 500. Zu jeder Mittagspause, beim Wildcampen oder auf dem noch so steilen Weg zum nächsten Pass bin ich von einer Traube jubelnder Kinder umringt. Auf den von Schlaglöchern übersäten Strassen wimmelt es von farbenfroh gekleideten Menschen.

Begleitet vom feuchten, aber milden Hochlandklima überquere ich in Uganda den Äquator. Ich bin an der Grenze zum Kongo auf einer Militärstrasse durch einen Nationalpark unterwegs, als ich mein Fahrrad kurz zurücklasse und auf der Suche nach Elefanten oder Giraffen durch den Busch streife. Plötzlich ein Aufschrei, und ich bin umzingelt von drei wandelnden Büschen: perfekt getarnten Soldaten. Offenbar bin ich einige Meter an ihnen vorbeigelaufen, ohne ihre Tarnung zu bemerken. Drei Kalaschnikows sind auf mich gerichtet, mein Herz klopft wie eine Buschtrommel. Jetzt bloss vorsichtig sein, keine falsche Bewegung. Zwei Stunden halten sie mich fest, kassieren mein Bargeld ein, aber lassen mich dank etwas Redekunst wieder laufen.

Ungewisse Sicherheit auf der Grenzstrasse zum Kongo.

Allmählicher Ausstieg aus der Armut

An einer der seltenen Wasserstellen begegne ich Xabu. Fünf Jahre hat er in Kapstadt und Johannesburg BWL studiert, doch wollte er zurück in die Natur. Zurück zu seinem Pferd, zu dem er eine Verbindung wie zu einem Bruder spürt, und zurück zu seiner Familie, seiner Heimat als San, eine Ethnie der Buschmänner. Seine aus Europa kommenden Professoren haben eine Sache in Afrika nie versucht: Empathie für die Situation und die Menschen vor Ort zu entfalten. «Man fällt hin, wenn man nach den Interessen und Ideologien der westlichen Welt strebt, ohne zu spüren, was vor Ort überhaupt vorliegt. Ich glaube, unser grösstes Problem ist, dass allgemein davon ausgegangen wird, wir hätten Probleme. Mit solch einer Projektion kannst du nicht laufen lernen und dich nicht selbständig entwickeln.»

In Deutschland glauben viele, dass sich die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt hätte. Es wird auf wachsendes Chaos in der Welt verwiesen, den Rückzug der Demokratie, machtgierige Politiker, Krieg und Vertreibung. Heute wird menschliches Leid überall auf der Welt mit der Handykamera festgehalten, und Minuten später erlebt die ganze Welt es mit. Das Elend nimmt uns immer intensiver gefangen und provoziert Angst. Hinzu kommt, dass Negatives meist plötzlich und unberechenbar über uns hereinbricht. Gutes dagegen braucht Zeit, positive Entwicklungen vollziehen sich auf weniger spektakuläre Weise. Auch deswegen werden Veränderungen zum Guten nicht so stark wahrgenommen – besonders unsere medial ermöglichte emotionale Anteilnahme an den Pro­blemen der Welt vermittelt uns das Gefühl, es ginge bergab.

Ich habe mich auf der Reise immer wieder mit Statistiken und Forschung auseinandergesetzt und bin begeistert von den Analysen und Veröffentlichungen wie denjenigen von Hans Rosling. Er kann anhand von belastbaren Daten sehr nachvollziehbar aufzeigen, dass es in fast allen Belangen aufwärtsgeht – die Forschungserkenntnisse aus den Sozialwissenschaften, die sich auf gross angelegte Längsschnittstudien stützen, stehen oft im Gegensatz zu unserem Bauchgefühl: Faktisch hat sich die extreme Armut in den letzten zwanzig Jahren nahezu halbiert, wovon in Umfragen lediglich sechs Prozent ausgehen. Allein durch eine bessere medizinische Versorgung werden jährlich Millionen Menschenleben gerettet. Auch die Zahl derer, die eines gewaltsamen Todes sterben, hat deutlich abgenommen. Auch in Afrika sind Kriege lange nicht mehr so lukrativ wie ein friedlicher Handel.

Stand heute geht es den Menschen auf dieser Welt insgesamt nach nahezu allen Massstäben besser als je zuvor. Die Welt verändert sich zum Positiven – doch das pessimistische Denken bleibt. Viel bedeutsamer als eine einzelne Hungersnot, sei diese auch noch so tragisch, ist der Rückgangstrend der extremen Armut auf der Welt.

«Den Menschen auf der Welt geht es heute gut» wirkt auf mich wie ein einsamer Ruf in der Wüste der Weltuntergangsstimmung – doch ist genau das nach dieser Reise mein Eindruck. Die Welt – und damit mein Kopf – birgt Schreckliches und Schönes. Doch erst wenn ich die theoretisch möglichen Negativszenarien meinen Blick nicht mehr verzerren lasse, kann ich die Wirklichkeit erkennen. Dann erlebe ich meine eigene Wahrnehmung als Wahrheitsberührung.

Ich bin in die arabische Welt vorgedrungen und umgeben von endlosen Sand- und Geröllfeldern. Alles hat sich verändert, überall ist es staubtrocken und leer. Trotz der Strapazen tauche ich ein in die tiefe Stille, den brausenden Wind und die Geborgenheit der Weite. Ich konnte mir niemals vorstellen, dass die Wüste ein solch grandioser Ort sein würde. Dabei fahre ich 3000 Kilometer gegen den Wind, davon 73 Tage auf ebener Strecke mit Schrittgeschwindigkeit. Die Strasse glüht in der Mittagshitze, und die grösste Gefahr sind die Busfahrer, die mich im Wüstenstaub leicht übersehen können. Durch das Rauschen des Windes kann ich nicht hören, wie sie von hinten heranrasen. Mein Rückspiegel ist meine Lebensversicherung. Immer wieder fährt mir der Schreck in die Glieder, wenn ich einen Bus übersehen habe und er nur wenige Zentimeter an mir vorbeischiesst.

Im Morgenlicht am Bunyonyi-See in Uganda.

Inzwischen schlafe ich ohne mein Zelt, lege mich abends einfach in den warmen Wüstensand und schiebe mein Rad vor dem Sonnenaufgang wieder auf die Strasse. Gegen 7 Uhr morgens bläst der Nordpassatwind in voller Stärke, manchmal schreie ich ihm entgegen, dann belächle ich ihn wieder für seine Feigheit. Nur den Gedanken ans Aufgeben lasse ich in keinem Moment an mich her­an. Schon gar nicht jetzt, so kurz vor Ende der Reise. Ich quere vom Sudan nach Ägypten, passiere die beeindruckenden Tempelanlagen von Luxor und verlasse den Nil in Richtung Osten auf meiner letzten Etappe dem Roten Meer entgegen.

Nach und nach realisiere ich: Ich bin einmal durch ganz Afrika gefahren. Ich rufe in die Berge und es hallt zurück, ich singe, lache und juble. Ich hatte anfangs nicht den Plan, hier oben anzukommen, doch jetzt bin ich stolz, es geschafft zu haben. Was für eine Lebenserfahrung: Ich konnte Afrika mehr als ein Jahr erleben – für nicht mehr als rund 3000 Euro. Ich habe ohne Schutz in der Natur geschlafen, mich ernährt wie die Einheimischen, an denselben Wasserstellen getrunken, an ihrem Leben teilgenommen.

Afrika, zu Beginn meiner Reise ein abstraktes Gebilde, hat sich mit Leben gefüllt. Mit Bildern, Gerüchen, Erlebnissen und ganz vielen Menschen. Nicht jeden Meter, den ich auch mit eigener Kraft zurückgelegt habe, konnte ich geniessen. Ich hatte Krankheiten, Pannen und Unfälle. Und natürlich habe ich Einsamkeit erlebt, Verzweiflung, sogar Angst. Aber ich habe immer erlebt, dass wildfremde Menschen mir helfen, mich zum Abendessen einladen oder mich einfach nur anlächeln. Und für mich selber habe ich gelernt: Wenn ich in eine her­ausfordernde Situation gerate, liegt es allein an mir, einen Weg herauszufinden. Und solange ich mir einen Weg vorstellen kann, kann ich ihn auch gehen. Oder fahren. Sogar, wenn er 15 000 Kilometer lang ist, 414 Tage dauert und durch 15 Länder führt.

Der grosse Bruder China

Die Chinesen drängen mit einer Agenda nach Afrika. Was treibt sie an? Und wie kommen sie an?

 

Die westliche Welt fühlt sich in ihrer Entwicklungspolitik oftmals von den Chinesen bedroht: Man wirft China eine «Schuldenfallendiplomatie» vor und unterstellt ihm unlautere Absichten bei Vergabe von Krediten. Afrikaner sehen das gelassener: Für afrikanische Regierungen und ihre Bürger ist China nur der jüngste in einer Reihe externer Akteure auf dem Kontinent.

Allwetterfreundschaft in drei Phasen

Als China begann, in Afrika zu investieren, geschah das eher aus politischen als aus wirtschaftlichen Gründen: In den frühen 1970er Jahren lieh China Sambia 400 Mio. Dollar, um den Bau einer Eisenbahnstrecke zwischen Sambia und Tansania zu finanzieren. China war damals auf der Suche nach politischem Goodwill: Das Reich der Mitte wollte unbedingt in die UNO aufgenommen werden. Viele der neuerdings unabhängigen afrikanischen Staaten stimmten schliesslich dafür, dass China dort Taiwans Platz einnehmen sollte. Sambia stellte diplomatische Verbindungen zu China her, als das Land gerade einmal fünf Tage unabhängig war. Dieses Narrativ vom «Allwetterfreund» und «wohltätigen Bruder» China prägt noch immer das chinesische Engagement in Afrika.

Die zweite Phase der Zusammenarbeit zwischen China und Afrika nahm ihren Anfang im Jahr 2000 anlässlich des ersten Forums für China-Afrika-Kooperation (FOCAC = Forum on China–Africa Cooperation). 44 afrikanische Länder entsandten Delegierte zur Konferenz, die zur wichtigen Plattform für chinesisch-afrikanische Beziehungen geworden war. Das koinzidierte mit Chinas Going-Global-Strategie und ermutigte chinesische Firmen – mit voller Unterstützung des Staates –, in neue Märkte vorzustossen. Chinas staatlich gelenkte Wirtschaft strebte nach Ressourcensicherheit und war daher bemüht, Zugang zur Wurzel der Wertschöpfungskette zu erhalten. Afrikas eigener Entwicklungsbedarf und die weitgehende Abwesenheit anderer grösserer Akteure machte die China-Afrika-Beziehung zur perfekten Paarung.

Ihr entschlossenes Handeln brachte den Chinesen den Vorwurf einer «Schuldenfallendiplomatie» ein, weshalb Xi Jinping 2018 im FOCAC ankündigte, keine reinen Prestigeobjekte mehr zu finanzieren – die Tage vom sprudelnden Geld aus China waren Geschichte. Es ist der Beginn der dritten Phase der chinesischen Investitionspolitik in Afrika: Von China als grösstem bilateralem Kreditgeber des Kontinents wird heute häufig – so zum Beispiel von Ghanas Finanzminister – entweder ein Schuldenerlass oder eine Aussetzung des Schuldendienstes gefordert.

Mit der Regierung verbandelt

Chinas Afrika-Engagement unterscheidet sich deutlich vom europäischen oder amerikanischen Ansatz. Westliche Länder trennen klar zwischen Staat und Privatwirtschaft, und die westlichen Hauptakteure in den Bereichen Handel und Gewerbe sind private Unternehmen. Die Ziele der Privaten stehen oftmals im Widerspruch zu den Interessen westlicher Regierungen. Im Fall der ersten chinesischen Unternehmen in Afrika gab es diese Unterscheidung nicht, da es sich fast ausnahmslos um staatliche Unternehmen handelte. Noch heute spielen staatliche Firmen eine überproportionale Rolle in Afrika. Selbst die wenigen chinesischen Privatunternehmen auf dem Kontinent sind für ihre Projekte auf staatliche Kreditgarantien angewiesen.

Westliche Firmen unterstehen, was korrupte Praktiken im Ausland angeht, meist den Gesetzen ihrer Heimatländer. Dadurch müssen sie sich daheim für in der Ferne begangene Taten verantworten. Ihre chinesischen Pendants sind weniger durch solche Regeln eingeschränkt, obwohl Xi Jinping kürzlich angekündigt hat, bei allen Belt-and-Road-Projekten Mitarbeiter zur Korruptionsbekämpfung einzusetzen. Chinesische und europäische Firmen haben für ihre Investitionen in Afrika jeweils unterschied­liche Gründe: Anders als westliche, rein private Unternehmen sind chinesische Staatsunternehmen nicht nur auf Gewinn aus. «Zentrale staatliche Firmen haben zwei Ziele: Gewinne erwirtschaften und Sicherheit erhöhen, unter anderem durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, sozialer Stabilität und Innovationen.»1

Hinter den langfristig und strategisch denkenden chinesischen Unternehmen (oft mit direktem Zugang zur Regierungsebene) stand zudem die finanzielle Schlagkraft der chinesischen Regierung mit ihren Institutionsbanken – insgesamt eine Mischung von unschätzbarem Wert. China führte das «Angola-Modell» ein – Rohstoffe gegen Infrastruktur –, in dessen Rahmen China zu niedrigen Zinsen Kredite anbot, die durch Rohstoffe abgesichert wurden. Solche Kredite finanzierten den Bau von Infrastruktur durch chinesische Firmen. Anstatt mühsame Due-Diligence-Prozesse durchlaufen zu müssen, kann ein chinesischer Infrastrukturkredit meist unkompliziert und zügig unter Dach und Fach gebracht werden.

Chinas Weigerung, sich durch Innenpolitik oder Staatsführung eines Landes in seiner Kreditvergabe beeinflussen zu lassen, macht China und chinesische Firmen zusätzlich attraktiv. Obwohl die Intransparenz solcher Verhandlungen und die Vergabebedingungen zu Missbrauch einladen, scheinen weder die Chinesen noch ihre afrikanischen Pendants an mehr Transparenz interessiert. Ein weiterer Punkt ist sicher auch, dass China anders als viele westliche Regierungen sein Engagement nicht von externen Kriterien, wie Achtung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, abhängig macht. Diese Kriterien gelten als «Einmischung in innere Angelegenheiten». Die genannten Unterschiede erklären sowohl, warum afrikanische Regierungen so empfänglich für chinesische Avancen sind, als auch Grössenordnung und Ausbreitungsgeschwindigkeit der chinesischen Präsenz in Afrika.

Imageschaden für China durch Rassismus

Chinas Engagement findet vor allem auf Regierungsebene und nur sehr eingeschränkt auf gesellschaftlicher Ebene statt. Selbst wo etwa Afrikanern Stipendien an chinesischen Universitäten angeboten werden, werden diese durch die Regierung gewährt. Trotzdem wird Chinas Einfluss auch in der breiten Bevölkerung Afrikas wahrgenommen: Laut dem Meinungsforschungsinstitut Afrobarometer nennen Afrikaner die USA und China an erster bzw. zweiter Stelle als Vorbilder für die Entwicklung ihrer eigenen Länder. Bemerkenswerterweise wird China in drei von fünf Regionen gleich oft oder öfter genannt als die USA2; Chinas Ruf ist also auch in der afrikanischen Bevölkerung mehrheitlich positiv.

Doch Reputationen sind wandelbar und reagieren auf aktuelle Ereignisse im Tagesgeschehen. Auch die jüngsten rassistisch motivierten Fälle von Diskriminierung gegen Afrikaner in Guangzhou werden ihre Wirkung auf Chinas Image in Afrika nicht verfehlen: Afrikanern war dort – vorgeblich, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen – der Zutritt zu Hotels, Restaurants und Geschäften versagt worden, einige wurden sogar aus ihren Wohnungen geworfen und mussten unter Brücken schlafen. Videoaufnahmen dieser Vorfälle sorgten in Afrika und bei Auslandsafrikanern für Empörung und führten dazu, dass afrikanische Länder offiziell Protestnoten bei der chinesischen Regierung einreichten. Ob der Imageschaden nachhaltig ist, bleibt abzuwarten.

Investitionen allein reichen nicht

Während der Westen Afrika meist durch die Linse von Entwicklungshilfe und humanitärer Unterstützung sah, näherten sich die Chinesen dem Kontinent über Handel und Gewerbe. Ausländische Direktinvestitionen (FDIs = Foreign Direct Investments) spielen daher eine grosse Rolle im Bemühen um mehr wirtschaftliche Chancen, höhere Produktivität und Armutsbekämpfung. In seiner Ansprache zum 40-Jahr-Jubiläum der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik bemerkte Jim Kim, der ehemalige Präsident der Weltbank, dass China in den letzten 40 Jahren mehr als 800 Mio. Menschen aus der Armut geführt habe, seinen Anteil an der Weltwirtschaft von 1,5 Prozent im Jahr 1978 auf 15 Prozent im Jahr 2007 erhöhte und nun kurz davor stehe, extreme Armut komplett zu beseitigen. Für diese Erfolge machte Kim Chinas Öffnungsbemühungen verantwortlich, die westliches und japanisches Kapital ins eigene Land brachten. Mit FDIs will man das auch in Afrika erreichen: China stellt sich als alternatives Entwicklungsmodell dar, das mit seiner Erfahrung afrikanischen Ländern einen Weg aus der Armut aufzeigen könnte.

FDIs können Arbeitsplätze schaffen und die Kapital- und Vermögensbildung in Afrika unterstützen. Doch obwohl sowohl Europäer als auch Chinesen bereits jahrzehntelang in Afrika investiert haben, blieben langfristige ökonomische Zielsetzungen bislang unerreicht. Afrika exportiert weiterhin fast ausschliesslich unverarbeitete Rohstoffe, eine ausgedehnte Wertschöpfung bleibt aus. Es scheint klar, dass noch so grosse Investitionen und Hilfsleistungen nicht ausreichen, wenn sie nicht von radikalen Reformen und Verbesserungen der Staatsführung begleitet werden. Ein Beispiel ist die Infrastruktur: Der Mangel an harter Infrastruktur behindert weiterhin das Wachstum, doch «weiche» Infrastruktur – für deren Schaffung und Erhalt ausschliesslich die afrikanischen Staaten zuständig sind – bleibt ebenso Mangelware. So sind zum Beispiel Zoll- und Grenzabwicklung nach wie vor unnötig willkürlich und unberechenbar. Das führt zu Kosten – Zeitkosten beim Transit, Transaktionskosten aufgrund unnötiger Verzögerungen, die den Handel wettbewerbsunfähig machen. Das Beharren des Westens auf besserer Staatsführung hat seine Vorteile, ebenso die einfachere, raschere Infrastrukturfinanzierung durch die Chinesen. Es ist die Aufgabe der afrikanischen Regierungen selbst, die Beiträge innerhalb eines Rahmenwerks zu kombinieren, das im Sinne aller beteiligten Länder ist.

Mo Ibrahim, zvg.

Bisher Erreichtes steht auf dem Spiel

Das Schicksal des Kontinents steht und fällt mit der soliden Regierungsführung seiner einzelnen Länder. Durch die Massnahmen gegen das Coronavirus drohen Rückschritte.

 

Als ich 2006 meine Stiftung gründete, beruhte das auf dem Willen, Afrikas riesiges, aber weitgehend ungenutztes Potenzial zu nutzen. Ein Mangel an solider Governance und politischer Führungsstärke hielt den Kontinent zurück.

Regierungsführung überwachen

Während es bei guter Leadership darum geht, Risiken einzuschätzen, die richtigen Prioritäten zu definieren und die notwendigen politischen Entscheidungen zu treffen, geht es bei guter Regierungsführung – also Good Governance – darum, diese politischen Entscheidungen zu dokumentieren und effizient umzusetzen. Good Governance bedeutet mehr als nur Transparenz und Demokratie: Sie besteht aus einem Bündel von politischen, sozialen und wirtschaftlichen öffentlichen Waren und Dienstleistungen, die alle Bürgerinnen und Bürger des 21. Jahrhunderts von ihrem Staat erwarten dürfen. In unserer heutigen, globalen Welt sind diese Erwartungen umfassender geworden: Eine gute Regierung muss heute Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Partizipation gewährleisten, die Menschenrechte respektieren und nachhaltige wirtschaftliche Chancen ermöglichen.

Wir müssen in der Lage sein, die Leistung und die Trends der Regierungsführung eines Landes auf der Grundlage solider Daten zu überwachen. Ohne Daten sind wir blind: Die Politik wird fehlgeleitet, und der Fortschritt auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung wird gebremst. Darum geht es beim Ibrahim Index of African Governance (IIAG): Wir wollen eine Übersicht bereitstellen, die es jedem Interessierten ermöglicht, die Leistungen und Trends der Governance in jedem der 55 afrikanischen Länder richtig einzuschätzen. Der IIAG, der vor mehr als zehn Jahren ins Leben gerufen wurde, ist heute der umfassendste Datensatz zur öffentlichen Regierungsführung in Afrika.

Fortschritte in Gefahr

Der Gesamtüberblick des IIAG zeigt deutlich: In den letzten bekannten zehn Jahren (2008 bis 2017) hat die Regierungsführung auf dem Kontinent insgesamt langsame Fortschritte gemacht. Immerhin drei von vier afrikanischen Bürgerinnen und Bürgern leben in einem Land, in dem sich die Governance in den letzten zehn Jahren verbessert hat. Viele afrikanische Regierungen haben proaktive Schritte unternommen, um Entwicklungen in Bereichen wie Gesundheit, Bildung oder Infrastruktur voranzutreiben. Wir haben vermehrt kraftvolle Bottom-up-Forderungen der Bürgerinnen und Bürger nach einem Regimewechsel und einer grösseren Rechenschaftspflicht ihrer Regierungen erlebt. In einigen Fällen hat das Volk sogar einen erfolgreichen Führungswechsel erzwungen, zuletzt zum Beispiel im Sudan und in Algerien. Zweifellos haben in Afrika endlich demokratischere Wahlen stattgefunden, und viele der alten Führer sind mehr oder weniger vorsätzlich zurückgetreten.

Die Einführung der panafrikanischen Freihandelszone, mit der ein Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen in 55 Ländern des Kontinents geschaffen wurde, ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer stärkeren kontinentalen wirtschaftlichen Eigenverantwortung. Das Projekt steckt zwar noch in den Kinderschuhen, wurde jedoch schon von 28 Teilnehmerstaaten ratifiziert. Die Aussichten einer Vollumsetzung sind vielversprechend: Der afrikanische Kontinent wird von einer neu gewonnenen Unabhängigkeit profitieren, wenn er die Durchgänge für Waren, Dienstleistungen und Menschen über Grenzen hinweg öffnet und die Handelsbeziehungen zwischen Nachbarländern vertieft.

Doch keine Zeit für Selbstgefälligkeit: Fortschritte müssen jederzeit verteidigt und verstärkt werden. Zwar sind zum Beispiel bewaffnete Konflikte zwischen afrikanischen Ländern seit Beginn des 21. Jahrhunderts seltener geworden, doch sie wurden durch verschärfte regionale Bedrohungen wie Terrorismus und transnationale kriminelle Netzwerke ersetzt. Konflikte um wichtige natürliche Ressourcen könnten vor dem Hintergrund des wachsenden demografischen Drucks und der sich verschärfenden Auswirkungen des Klimawandels, beispielsweise am Nilbecken, durchaus wieder aufflammen.

Das beispiellose Bevölkerungswachstum kann sich für Afrika als Fluch oder Segen herausstellen. Der Kontinent hat ein Medianalter von 19,7 Jahren, was ein riesiges Markt- und Arbeitskräftepotenzial darstellt. Es wird erwartet, dass die Anzahl an arbeitsfähigen Afrikanern 2050 um 900 Millionen Menschen höher sein wird als heute. Doch schwindende Aussichten für junge Afrikaner, die derzeit zwar besser ausgebildet, aber seltener erwerbstätig sind als ihre Eltern, schüren häusliche Unruhen und treiben die jungen Menschen zur Migration, im schlimmsten Fall laufen sie gar in die offenen Arme terroristischer oder krimineller Netzwerke. Afrikas Jugend mangelt es bereits heute an wirtschaftlichen Möglichkeiten und Perspektiven. Es ist ein Defizit, das den Frieden und die politische Stabilität in Afrika zu gefährden droht.

«Viele Afrikaner befürchten nun,

eher an Hunger als am Virus zu sterben.»

Das Hungervirus

Die Covid-19-Pandemie hat die Aussichten der Jugend weiter verschlechtert. Afrika steht am Scheideweg: Das Virus stellt den gesamten Kontinent vor eine der grössten Herausforderungen, die ich zu meinen Lebzeiten miterlebt habe.

Nachdem sie ihre Lehren aus früheren Ebola-Ereignissen gezogen haben, waren die Präventionsmassnahmen vieler afrikanischer Regierungen als Reaktion auf die Epidemie bemerkenswert. Weniger effizient waren die gleichen Regierungen, die wirtschaftlichen Auswirkungen des Coronavirus abzuschwächen, die in Afrika bereits weitaus schlimmer sind als die gesundheitlichen. Afrika kämpft mit einer tödlichen Kombination: Die Pandemie bescherte dem Kontinent nicht nur einen Zusammenbruch des Ölmarktes und des Tourismus, sondern bedrohte auch die KMU, die wichtigsten Arbeitgeber vor Ort. Die hohe Verschuldung vieler afrikanischer Regierungen verunmöglichte eine Unterstützung durch massive Konjunkturpakete, wie sie westliche Länder bereits auf den Weg gebracht haben. Die Lockdowns haben zu viele Menschen von ihren täglichen Niedriglohnarbeiten abgehalten. Viele Afrikaner befürchten nun, eher an Hunger als am Virus zu sterben – eine Gefahr, vor der auch die UNO schon gewarnt hat. Es liegt an der politischen Führung, ein Gleichgewicht zwischen der Rettung von Leben und der Rettung der Lebensgrundlagen zu finden.

Das importierte Coronavirus hat Afrikas Verwundbarkeit verschärft und seine Strukturen beschädigt. Wenn das Virus nicht richtig gehandhabt wird, könnten Jahrzehnte des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts rückgängig gemacht werden. Nach Angaben der Weltbank könnte Afrika zum ersten Mal seit 25 Jahren in eine Rezession geraten. Das Wirtschaftswachstum in Subsahara-Afrika würde sich infolge der Pandemie von 2,4 Prozent im Jahr 2019 auf –2,1 bis –5,1 Prozent im Jahr 2020 reduzieren – je nachdem, wie erfolgreich die Massnahmen zur Linderung ihrer Auswirkungen sind.

Die Krise bedroht auch die Demokratie und die Bürgerbeteiligung, einen grundlegenden Eckpfeiler einer soliden Governance. Mindestens neun afrikanische Länder (beispielsweise Äthiopien, Nigeria, Kenia oder Simbabwe) haben wegen Infektionsrisiken bereits Wahlen verschoben, einige davon sogar auf unbestimmte Zeit. Um freie und faire Wahlen in Afrika zu schützen, müssen die Regierungen und ihre internationalen Partner zusammenarbeiten.

Der Kontinent als Experimentierkasten

Afrika im 21. Jahrhundert: Wir sehen Fortschritte, sind aber noch lange nicht am Ziel angelangt. Die plötzlich auftretende Pandemie verkompliziert die Herausforderung. Um die Zukunft des Kontinents zu schützen, bedarf es heute mehr denn je einer soliden Governance und Führung. Wir müssen uns von erfolgreichen nationalen Massnahmen in ganz Afrika inspirieren lassen: Wo es Beispiele für gute Regierungsführung gibt, müssen diese aufgegriffen und übernommen werden.

Ich glaube nach wie vor an die Fähigkeit der wichtigsten afrikanischen Führungskräfte, in diesen schwierigen Zeiten die beste Regierungsführung zu bieten und für ihre Bürgerinnen und Bürger zu sorgen, ihre Rechte zu sichern und ihr Wohlergehen zu gewährleisten. Und vor allem vertraue ich fest auf die Schlüsselqualitäten der Jugend Afrikas: Engagement, Innovationsgeist, Dynamik und Widerstandsfähigkeit. Afrika gehört die Zukunft.

© Nicolas A. Rimoldi

Afrikaner in der Schweiz I

Maman Bijou
Fribourg / Demokratische Republik Kongo

 

Im Alter von 24 Jahren verliess Mbemba-Landu Makanzu Mankaka, heute als «Maman Bijou» bekannt, den Kongo und emi­grierte in die Schweiz, wo ihr Mann studierte. Als ihre Kinder zur Schule gingen, konnte «Maman Bijou» nicht untätig zu Hause bleiben: Sie eröffnete in Fribourg eine Boutique. Wer diese betritt, wähnt sich an der kulturellen Schnittstelle zwischen der Schweiz und Kinshasa. Hier ist das ferne Afrika ganz nah: Grüne Kochbananen, Yamswurzeln, Maniok, allerlei Gewürze und viele weitere afrikanische Lebensmittel, Stoffe und Schönheitsprodukte finden sich in den Regalen.

Seit 1989 importiert «Maman Bijou» afrikanischen Genuss: «Damals kannte man hier viele meiner Produkte nicht. Mittlerweile lieben die Schweizer Lebensmittel aus Afrika, unsere Kultur und die bunte Kleidung im Sommer.» Vermischung, davon ist «Maman Bijou» überzeugt, werde dafür sorgen, dass Rassismus in der Schweiz innerhalb einer Generation verschwinden werde. Fremdenhass sei sowieso ein individuelles Problem: Um ihn zu bekämpfen, müsse man nur das Unbekannte kennen- und lieben lernen, die Welt entdecken. «Einst hatte man Angst, die Afrikaner würden das Land übernehmen – ungleich den Chinesen heute, die das tatsächlich wollen. Aber auch sie sollte man lieben.» Herkunft ist für «Maman Bijou» irrelevant: «Wenn man mich ins Spital bringt und ich Blut brauche – wird man dann schwarzes Blut suchen? Nein, man gibt mir Blut. Bevor wir schwarz oder weiss sind, sind wir Menschen. Blut hat keine Hautfarbe. Gott hat keine Hautfarbe.»

Integration sei für ein prosperierendes Zusammenleben entscheidend. «Maman Bijou» liebt die Schweiz: «Wenn man den Gesetzen gehorcht, lebt man ruhig und frei. Die Schweiz ist ein Land des Rechts.» Hier finde man Rechtsgleichheit und Frieden, keine Unordnung. Sie bewundert die halbdirekte Demokratie: «Wenn etwas geändert werden muss, gibt es eine Abstimmung! Die Schweiz ist ein Vorbild für Europa.» Und die EU? «Wie Blocher will auch ich nicht in die EU.» Typisch schweizerisch!

Luc Rasson, zvg.

Afrikaner in der Schweiz II

Luc Rasson
Aarau / Südafrika

 

Luc Rasson kam 2016 in die Schweiz. Einer der Hauptgründe für seine Migration war das seit 2003 laufende, nichtweisse Südafrikaner bevorzugende Programm BEE (Black Economic Empowerment) der südafrikanischen Regierung: «Die Spitzenjobs in Südafrika werden an die schwarze Bevölkerung vergeben. Angesichts der Geschichte der Apartheid ist das nachvollziehbar, ich persönlich habe kein Problem damit. Aber die Stellen werden so nicht mit den geeigneten Leuten besetzt.» Nepotismus sei leider weit verbreitet, und daraus erfolge Missmanagement. Verantwortlich sei oft jemand, der dafür gar nicht geeignet sei. Die weisse Bevölkerung wandere ab, ein Braindrain entstehe: «Wer weiss und männlich ist, steht bei der Auswahl für gute Jobs ganz am Ende.»

Rasson unterrichtet als englischsprachiger Kunstlehrer an der Oberstufe in Gränichen mit einem Pensum von 25 Prozent, den Rest der Zeit kümmert er sich um seine drei Buben, schreibt und arbeitet als Freelancer im Bereich Business Development. Seine Frau traf er in Kapstadt, wo er als zweite Generation Südafrikaner aufgewachsen ist – seine Grosseltern stammen aus Frankreich und England und sind in den 1950er Jahren gemeinsam mit vielen anderen Europäern migriert. Rassons Frau ist Aarauerin, als Tochter eines Piloten verbrachte sie ihr bisheriges Leben aber zur Hälfte ebenfalls in Afrika.

Dass viele Afrikaner Afrika verlassen wollten, habe mit dem Scheitern so vieler afrikanischer Staaten zu tun. Viele von ihnen, ist Rasson überzeugt, würden sofort zurückkehren, wenn sich die Situation in ihren Ursprungsländern verbessere. Die migrationskritische Politik der Schweiz könne er nachvollziehen, auch, dass Schweizer Angst hätten, Migranten könnten eher Sozialleistungen beanspruchen, als sich gewinnbringend in der Wirtschaft einzubringen. Der grösste Unterschied zwischen dort und hier sei natürlich das Fehlen von sichtbarer Armut. Und die Effizienz. Dass man in der Schweiz in 15 Minuten zu einem Reisepass kommen kann und sich auf der Strasse aus «Gratis»-Kisten bedienen darf, erscheint ihm wie ein Wunder.

© Phillip Zurbach

Afrikaner in der Schweiz III

Mbene Mwambene
Bern / Malawi

 

«Ich gehe, wohin der Wind mich weht», sagt Mbene Mwambene. Dass er in Bern gelandet ist, sei Zufall. Der Malawier suchte nach einem Master-Studiengang in Theaterwissenschaften und wollte eigentlich nach Deutschland. Dann machte ihn ein Freund, der in Zürich studierte, auf die Kunstschulen in der Schweiz aufmerksam. So bewarb Mwambene sich 2015 um einen Studienplatz an der Hochschule der Künste in Bern – und bekam ihn. Inzwischen hat der 35-Jährige seinen Masterabschluss in der Tasche und arbeitet als freischaffender Theaterautor, Schauspieler und Regisseur. Er ist weiterhin in Bern stationiert, hat aber auch an anderen Orten im In- und Ausland Projekte.

Die Schweiz gefällt ihm, auch wenn die Integration in die Gesellschaft nicht immer einfach war und ist. «Manchmal fühle ich mich abgekapselt von meinen Freunden in Malawi, weil ich schon so lange in der Schweiz lebe, und zugleich abseits der schweizerischen Gesellschaft», sagt Mwambene. Das betrifft auch seinen Beruf: Das Theater gelte zwar als liberal und weltoffen. «Es kann aber auch ein sehr abgeschlossener Ort sein.» Personen und Ideen, die von aussen kämen, stiessen oft auf Skepsis.

Es liege in der Natur der Sache, dass Migration stets Fragen der Identität aufwerfe. Das sei eine Herausforderung für ­Mi­granten. «Die Schweiz ist eine strukturierte Gesellschaft. Als Einwanderer bist du immer der andere.» Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, mit dem Fremden, der ­Versuch, sich anzupassen, machten einen aber auch stärker, findet Mwambene. Umgekehrt bringe Migration dem Ziel­land nicht nur neue Fähigkeiten, sondern reisse auch die ­Mauern der Vorurteile nieder. «Wenn man nie jemand anderen sieht, bleiben die Vorurteile, die man vom anderen hat.» Mwambenes Traum ist es, in der Schweiz ein Theater aufzubauen, das den Multikulturalismus abbildet. Und damit einen Beitrag zu leisten, die Mauern der Vorurteile ­niederzureissen.

© Jannik Belser

Afrikaner in der Schweiz IV

Robel Debesay
Aarau / Eritrea

 

Mit dem Wechsel auf die englische Sprache nach fünf Gesprächsminuten taut Robel Debesay auf. Deutsch verstehen und lesen können ist eines. Aber eine Stunde lang über sein Leben und seine Gefühle sprechen? Das fällt dem Eritreer auch nach drei Jahren hier nicht leicht.

Robel Debesay kommt als Asylbewerber in die Schweiz. Nach einem abgeschlossenen Bachelor-Studium in Computerwissenschaften bieten sich in Eritrea nur zwei Möglichkeiten: Zwangsarbeit im Militär oder ein Aufenthalt im Gefängnis. «Ich will für meine Familie sorgen und sie finanziell absichern», sagt der heute 30-Jährige. «Wir Flüchtlinge kommen nicht freiwillig nach Europa, sondern weil wir zu Hause keine Perspektive mehr sehen.» Debesays Reise führt ihn während fünf Jahren über Sudan, Ägypten und Italien in die Schweiz. Hier angekommen, will er eine neue Existenz aufbauen, eine Arbeit finden. Leichter gesagt als getan: «Für uns Flüchtlinge ist es sehr schwer, an die nötigen Informationen oder Vermittlungsstellen zu kommen.» Doch Debesay gibt nicht auf und findet schliesslich sein Glück: Bei Powercoders, einer Coding-Academy für Flüchtlinge, darf er während einer dreimonatigen Ausbildungsphase seine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Das Highlight folgt am Schluss des Programms: Die Organisation verknüpft Absolventen mit Schweizer Unternehmen. «Jeder Flüchtling würde für so eine Möglichkeit sterben!», so Debesay. Er ergattert sich ein einjähriges Praktikum im IT-Bereich der UBS, wo er nach guten Leistungen sogar eine Festanstellung erhält. Die Schweiz nennt er sein Zuhause.

Damit mehr Migranten solche Erfolgsgeschichten gelingen, solle die Schweiz ihnen bei der Suche nach Arbeit Plattformen bieten, findet Debesay. Europäische Staaten sollen das Pro­blem bei der Wurzel anpacken und sich für bessere Regierungsführung in Afrika einsetzen. Umgekehrt könne die Schweiz auch einiges von den Migranten dazulernen, zum Beispiel in Sachen Lebensfreude. Ein leeres Klischee? Zur Verabschiedung umarmt mich Robel Debesay.

Ein Jahrhundertvertrag mit Afrika

Wie Deutschland und die EU eine neue Zusammenarbeit gestalten.

 

Nur 14 Kilometer trennen Europa von Afrika, über der Meerenge von Gibraltar kann man das Rif-Gebirge in Marokko sehen. Es ist höchste Zeit, dass wir unserem Nachbarkontinent auch menschlich, politisch und wirtschaftlich näherkommen. Die Aussichten dafür standen nie besser: Die afrikanischen Staaten wollen mit uns enger zusammenarbeiten. Afrikas Volkswirtschaften sind rasant gewachsen, bis 2050 wird seine junge Bevölkerung das grösste Arbeitskräftepotenzial der Welt stellen. Der Kontinent bietet Chancen, die in Europa noch viel zu wenig wahrgenommen werden.

Schwerpunkte einer neuen Zusammenarbeit

Es ist an der Zeit für eine neue Form der Zusammenarbeit mit Afrika – für einen Jahrhundertvertrag auf Augenhöhe. Die EU will die afrikanisch-europäischen Beziehungen mit dem Folgeabkommen für den 2020 auslaufenden Cotonou-Vertrag auf eine neue Grundlage stellen, Deutschland wird in seiner aktuellen EU-Ratspräsidentschaft dazu klare Akzente setzen. Im Zentrum einer neuen Partnerschaft müssen folgende Themen stehen:

Erstens: Ernährung.

Ziel eines neuen Vertrags muss es sein, die afrikanische Landwirtschaft produktiver und wettbewerbsfähiger zu machen. Dazu gehört auch, dass wir Europäer unsere eigene Agrarpolitik umsteuern: Die EU muss endlich die verbliebenen Zölle und Quoten vor allem für Agrarprodukte aus Nordafrika abschaffen.

Zweitens: Faire Handelspolitik.

Afrika ist weit mehr als ein Kontinent der Rohstoffe, bislang fehlt es allerdings an Wertschöpfung vor Ort. Statt zum Beispiel rohe Kaffeebohnen nach Europa zu exportieren, sollte die Verarbeitung von der Röstung bis zur Veredelung und Verpackung viel stärker vor Ort stattfinden. Das würde auch den innerafrikanischen Handel stärken. Die neue Panafrikanische Freihandelszone kann den entscheidenden Schwung bringen – sie ist mit mehr als 1,2 Milliarden Menschen die grösste der Welt. Europa sollte die Abschaffung der Binnenzölle in Afrika mit einem ehrgeizigen Fahrplan hin zu einem fairen Freihandelsabkommen unterstützen. Dabei muss sichergestellt werden, dass soziale und ökologische Mindeststandards, wie das Verbot von Kinderarbeit, bei der Produktion zur Norm werden.

Drittens: Private Investitionen.

Für Handel und Wertschöpfung braucht es Unternehmen, die in Afrika verantwortungsvoll investieren. Derzeit machen sich vor allem chinesische und russische Investoren die Gründerstimmung zunutze; europäische Unternehmen müssen Anschluss halten! Um Anreize für Investitionen afrikanischer und europäischer Unternehmen zu schaffen, hat Deutschland einen Entwicklungsinvestitionsfonds mit bis zu einer Milliarde Euro aufgelegt. Jede Investition setzt allerdings voraus, dass die wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmen­bedingungen stimmen: Bürokratische Hürden, schlecht funktio­nierende Institutionen, Korruption und Misswirtschaft behindern noch viel zu oft Investitionen. Die EU sollte starke Anreize für Reformen setzen – und Eigenverantwortung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und den Kampf gegen Korruption noch viel gezielter fördern. Deutschland geht mit seinem Marshallplan mit Afrika genau diesen Weg.

Viertens: Klima und Energie.

Ob wir die Erderwärmung stoppen können, entscheidet sich massgeblich in Afrika: 600 Millionen Menschen besitzen noch keine Steckdose. Bekämen sie alle Strom auf Basis von Kohle, müssten in Afrika hunderte Kohlekraftwerke gebaut werden. Keine noch so ambitionierte Klimastrategie in Europa könnte das kompensieren. Die Antwort muss daher eine ehrgeizige Technologieoffensive für erneuerbare Energien in Afrika sein. So schaffen wir Arbeitsplätze und leisten einen wichtigen Beitrag zur Energiewende. Das ist auch eine Investition in unsere eigene Zukunft. Gerade Unternehmen aus Deutschland oder der Schweiz können sich mit ihrer Kompetenz bei Wasser-, Solar- und Bioenergie gewinnbringend engagieren: In der marokkanischen Stadt Ouarzazate errichten wir etwa die erste grosstechnische Anlage, um mit der Sonne Afrikas günstig grünen Wasserstoff und Methanol zu produzieren.

Ein Jahrhundertvertrag dieser Grössenordnung lässt sich nicht von heute auf morgen umsetzen. Das Wichtigste ist der politische Wille auf beiden Seiten. Eines ist heute schon klar: Profitieren werden wir alle!

Versöhnung mit
dem Liberalismus

Viele Afrikaner sehen den Liberalismus als ein Produkt des Westens, das den Kontinent jahrzehntelang kolonisiert und unterdrückt hat. Ein Plädoyer für einen Sinneswandel.

 

Liberalismus – im Englischen meist «klassischer Liberalismus» genannt – wurde und wird bis heute in weiten Teilen Afrikas abgelehnt. Der Hauptgrund dafür ist, dass der Liberalismus – wie auch das ihm verwandte Wirtschaftssystem des Kapitalismus – als System der Unterdrücker, der europäischen Kolonialherren angesehen wird. Weitverbreitet ist besonders unter afrikanischen Staatschefs die Ansicht, dass der Liberalismus, dessen Fokus auf dem Individuum liegt, mit der afrikanischen Kultur, die das Kollektiv höher gewichtet, nicht kompatibel sei.

Der Liberalismus entstand zwar in Europa, wo er im 17. Jahrhundert durch Lockes «Zweite Abhandlung über die Regierung» auch populär wurde. Er ist aber in seinem Wesen keine rein westliche Ideologie. Er ist kein westliches Anhängsel, sondern ein Nebenprodukt der menschlichen Natur, das seinen Leistungsnachweis auch schon in nichtwestlichen Kulturen erbracht hat: Ein Beispiel ist Japan, wo ein Rechtsstaat westlicher Prägung ins politische System integriert wurde und der Lebensstandard infolge relativ grosser wirtschaftlicher Freiheit heute signifikant höher ist. Der Liberalismus kann auch ausserhalb des Westens fruchten! Warum sollte er nicht auch Afrika zu mehr Freiheit und Wohlstand führen?

Rechtsstaatlichkeit – Quelle politischer Stabilität

Obwohl der afrikanische Kontinent reich an Bodenschätzen ist, ist der Lebensstandard vielerorts niedrig. Die plausibelste Erklärung dieser Anomalie ist die des Fehlens von Systemen zur Sicherung von Privateigentum. Alle Bodenschätze der Welt sind wertlos, solange Menschen aus ihnen nicht einen Wert schaffen. Privater Besitz stimuliert Anreize, erschafft Kapital und generiert so Wohlstand. Südafrika zum Beispiel ist heute eines der wohlhabendsten afrikanischen Länder, seine Bürger geniessen vergleichsweise grosse politische und wirtschaftliche Freiheiten. Der Grund dafür ist simpel: Die südafrikanische Regierung hält sich aus wirtschaftlichen Aktivitäten weitgehend heraus und respektiert das Privateigentum.

Eine der wichtigsten Bedingungen für ein funktionierendes Wirtschaftssystem ist eine verlässliche Rechtsordnung, die wirtschaftliche und bürgerliche Freiheiten absichert. Rechtsstaatlichkeit ist ein Schlüsselelement des Liberalismus: Wo privates Eigentum nicht rechtlich gegen den Nachbarn oder das politische System geschützt ist, ist es nicht wirklich sicher.

Unglücklicherweise scheiterten die politischen Führer Afrikas der postkolonialen Ära daran, das Konzept der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der politischen Kultur und der politischen Systeme Afrikas zu entwickeln: In den meisten afrikanischen Staaten entstand ein Einparteienstaat, der willkürlich Gesetze erlassen und Eigentum einziehen konnte. Solche politischen Systeme wurden vor allem als Mittel errichtet, um jegliche Arten politischen Widerstandes der Massen gegen die herrschenden Autoritäten zu verhindern. Die meisten afrikanischen Staatenlenker erschwerten ihren Bürgern den Zugang zu Wissen, das sie in einem aufgeklärten Volk als eine potentielle Bedrohung der eigenen politischen Macht sahen. Den Bürger unter dem Joch des Staates zu halten war für ihren Selbsterhalt und die Ausweitung ihrer Macht wesentlich.

Die Selbstherrlichkeit afrikanischer Herrscher ist einer der Hauptgründe dafür, dass der Kontinent wirtschaftlich und politisch kaum Fortschritte macht. Fortlaufend untergruben illiberale Systeme die Rechtsstaatlichkeit. In Zaire zum Beispiel, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, wurde unter Mobutu durch einen Einparteienstaat despotisch regiert. Das Ausbleiben von Liberalisierungen der politischen Institutionen und das Fehlen eines Rechtsstaates führten vielerorts zu Staatsstreichen und politischer Instabilität: Beispiel dafür sind der Mord am liberianischen Präsidenten William R. Tolbert durch Samuel Doe in den frühen 1980ern oder der gewaltsame Sturz von Sylvanus Olympio im Togo der ’60er Jahre.

Rechtsstaatlichkeit ist ein essenzieller Faktor, der die Erschaffung wirtschaftlicher Prosperität und politischer Stabilität begünstigt. Ohne sie kann eine Gesellschaft nicht adäquat, weder politisch noch wirtschaftlich, funktionieren. Der Fall ist klar: Afrika braucht mehr Liberalismus und mehr Rechtsstaatlichkeit.

Ignazio Cassis. Bild: Schweizer Bundeskanzlei.

Auf Vertrauen bauen

Warum nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit keine Einbahnstrasse ist und weshalb die Schweiz in Afrika auf eine starke Wirtschaft und eine dynamische Jugend setzt.

 

Die klassische Entwicklungshilfe steht in der Kritik: Hilfsgelder kämen nicht dort an, wo sie gebraucht würden, oder sie werden gar mit negativen Auswirkungen wie Korruption und einseitiger Abhängigkeit in Verbindung gebracht. Dabei werden Wirkung und Nachhaltigkeit der modernen Entwicklungszusammenarbeit auf eine falsche Fragestellung reduziert. Anstatt sich in Diskussionen darüber zu verlieren, ob klassische Entwicklungshilfe Fluch oder Segen für das Partnerland sei, muss die Frage ins Zen­trum gestellt werden, welche Art der Entwicklungszusammenarbeit den heutigen globalen Gegebenheiten Rechnung trägt. Was früher Entwicklungshilfe genannt wurde, nämlich die einseitige Vergabe von Mitteln, gehört längst der Vergangenheit an. Moderne Entwicklungszusammenarbeit bedeutet Bewusstsein wechselseitiger Abhängigkeiten und Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Gerade die sich rasant entwickelnden afrikanischen Länder sind Beispiele dafür, wie Entwicklungszusammenarbeit im modernen Kontext als Wechselbeziehung gleichberechtigter Partner zu verstehen ist. Insbesondere auch deshalb, weil es nicht das eine Afrika gibt und damit auch nicht die eine Entwicklungszusammenarbeit. Innerhalb Afrikas unterscheiden sich die Pro­blemstellungen einzelner Staaten genauso stark wie die Voraussetzungen der Zusammenarbeit. Es gibt nicht ein homogenes Afrika, sondern 55 Länder mit teilweise grossen Unterschieden – auch innerhalb der Landesgrenzen. Wir tun daher gut daran, sowohl Afrika als auch das Thema der Entwicklungszusammenarbeit differenziert zu betrachten.

Regionale Stabilität dank lokaler Mediation

Als Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) führten mich meine Afrikareisen 2019 nach Südafrika, Mosambik, Simbabwe und Sambia, wo ich mir vor Ort ein Bild des Schweizer Engagements machen konnte. Reisen, die mir die Diversität und die Flexibilität unserer Entwicklungszusammenarbeit eindrücklich aufgezeigt haben. Dabei wurde deutlich, dass nicht alle Länder Afrikas das gleiche Bedürfnis haben, die Schweiz aber in der ganzen Region eine hohe Glaubwürdigkeit geniesst – nicht als Geldgeber, sondern als Vermittler, als Nothelfer und als Wirtschaftspartner.

Nehmen wir das Beispiel Mosambik: Die Glaubwürdigkeit der Schweiz und ihre neutrale Position – sowohl im historischen Kontext als auch in der geopolitischen Gegenwart – haben es uns ermöglicht, im dortigen innenpolitischen Konflikt als Vermittler zu agieren. In einem Konflikt, der über Jahrzehnte angehalten und Millionen von Todesopfern gefordert hat. Mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen dem Staatspräsidenten und dem Oppositionsführer vor einem Jahr fand dieser schliesslich ein Ende. Als Land, das keine Vergangenheit als Kolonialmacht aufweist, wird die Schweiz als unparteiisch wahrgenommen, was ihr eine vermittelnde Rolle in der Mediation von Konflikten erlaubt. Die neutrale Position ermöglicht es der Schweiz, den Austausch unter verschiedenen Parteien zu fördern und so einen Beitrag zu einer nachhaltigen Friedenssicherung zu leisten. Sicherheit und Ruhe innerhalb eines Landes tragen massgeblich zu regionaler Stabilität bei.

Von humanitärer Hilfe zur langfristigen Entwicklung

Neben der Mediationsrolle gehört insbesondere die schnelle, unkomplizierte und professionelle Hilfe in Notsituationen zum Markenzeichen der Schweiz. Nach zwei verheerenden Zyklonen im Frühjahr des vergangenen Jahres brachten Expertinnen und Experten des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe unverzüglich Hilfsgüter für Notunterkünfte und die Sicherstellung der Trinkwasserversorgung in die betroffenen Gebiete Mosambiks. Gerade im Anschluss an Naturkatastrophen ist diese wirksame und vor allem unbürokratische Hilfe der Schweiz von hoher Bedeutung für die lokale Bevölkerung. Darüber hinaus nutzten die zwei Schweizer Jungarchitekten Emilie Schmid und Mikhail Broger von der ETH Lausanne modernste Drohnentechnologie, um mittels innovativer Raumplanung aus einem Flüchtlingslager eine kleine Stadt zu entwickeln – aus einem Provisorium wurde dank Digitalisierung und Schweizer Innovation eine neue Heimat für tausende Menschen.

Auf meinen Reisen durfte ich vor Ort erfahren, wie innovativ und wirkungsvoll der koordinierte Einsatz verschiedener Instrumente der Schweizer Aussenpolitik sein kann. Ich habe aber auch gesehen, wie zentral es ist, dass die Wirtschaft als elementarer Bestandteil in eine nachhaltige Entwicklungspolitik einbezogen wird. Wirtschaftsvertreter können etwas, was Länder und Hilfsorganisationen nicht können: Arbeitsplätze schaffen. Mehr als 90 Prozent aller Stellen werden vom Privatsektor erzeugt. Solche Arbeitsplätze sind das A und O, wenn es darum geht, jungen Menschen vor Ort eine Perspektive zu bieten und die rasch wachsende Bevölkerung Afrikas in ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum ihrer Heimat einzubinden. Das wirtschaftliche Potenzial dafür ist in den meisten Ländern Afrikas vorhanden; die Frage ist, wie es uns gelingt, dieses vor Ort besser nutzbar zu machen.

«Wirtschaftsvertreter können etwas,

was Länder und Hilfsorganisationen

nicht können: Arbeitsplätze schaffen.

Mehr als 90 Prozent aller Stellen werden vom Privatsektor erzeugt.»

Langfristige Perspektive dank lokalen Arbeitsplätzen

Es ist sowohl im Interesse der afrikanischen Länder als auch der Schweiz, wenn Schweizer Firmen vermehrt in ausgewählten Ländern Afrikas investieren und so vor Ort Wertschöpfungsketten schliessen, neue Märkte eröffnen und Arbeitsplätze schaffen. Zahlreiche Schweizer Unternehmen tun dies bereits erfolgreich: In Südafrika sind über 100 Schweizer Firmen präsent, aber auch in Nigeria, Elfenbeinküste oder Kenia investieren Schweizer Unternehmen in die lokale Wirtschaftsentwicklung. Die Schweiz unterstützt vermehrt öffentlich-private Partnerschaften – vom Wassersektor über die Landwirtschaft bis hin zum Gesundheitswesen. So wurde in Kenia mit einem privaten Partner die Einführung anpassbarer Modelle für eine bezahlbare und qualitativ hochwertige Wasserversorgung auf Dorfebene gefördert. In Mosambik wurde in Zusammenarbeit mit einem lokalen Unternehmen ein wettbewerbsfähiges Marktsystem für die Landwirtschaft geschaffen, welches Kleinbauern ermöglicht, in verbessertes Saatgut zu investieren. Und in Somalia, wo bis zu achtzig Prozent der Gesundheitsversorgung durch kleine informelle Unternehmen geleistet werden, arbeitet die Schweiz in Zusammenarbeit mit Vertretern aus dem Privatsektor an Modellen, die die Qualität und Bezahlbarkeit der privaten Gesundheitsversorgung verbessern sollen.

Kenia schliesslich steht vor grossen Herausforderungen als Aufnahmestaat von beinahe einer halben Million Flüchtlingen. Um die Abhängigkeit der Flüchtlinge von externer Unterstützung zu reduzieren und um ihr Potenzial für die Wirtschaftsentwicklung entlegener Gebiete zu nutzen, testet die Schweiz aktuell eine Partnerschaft mit der Internationalen Finanzkorporation der Weltbankgruppe. Ziel ist es, Firmen des Privatsektors für das Gebiet des Flüchtlingslagers Kakuma zu interessieren und ansässige Firmen zu unterstützen, damit so Arbeitsplätze und Einkommen generiert werden können und ein verbessertes Angebot an Dienstleistungen und Produkten gefördert wird.

Aussenpolitik im Interesse der Schweizer Innenpolitik

Ich bin überzeugt, dass sich solche Investitionen für alle Beteiligten lohnen. Aus diesem Grund nimmt Afrika in der aussenpolitischen Vision des EDA (AVIS28) sowie in der daraus abgeleiteten aussenpolitischen Strategie des Bundesrates (APS 2020–2023) als geografischer Schwerpunkt breiten Raum ein. Noch stärker wird die Entwicklung Afrikas in der neuen Strategie der internationalen Zusammenarbeit (IZA-Strategie 2021–2024) ins Zentrum gerückt. Für die Schweiz als ein global vernetztes Land sind gesellschaftspolitische Sicherheit und wirtschaftliche Stabilität im Ausland in unserem ureigenen Interesse. Krieg, Hungersnöte und ­Naturkatastrophen führen zu Migrationsströmen in Europa, Korruption und wirtschaftliche Instabilität zu fragilen Handelsbeziehungen.

Die Schweiz tut also gut daran, in Afrika nicht nur den Partner in der Entwicklungszusammenarbeit zu sehen, sondern auch das innovative und wirtschaftliche Potenzial dieses jungen Kontinentes zu erkennen und sich als innovativer Wissenschafts- und Wirtschaftspartner einzubringen. Dank ihres Pragmatismus, ihrer Qualität und Effizienz sowie der langjährigen Zusammenarbeit mit lokalen Behörden, Institutionen und Unternehmen profitiert die Schweiz in Afrika von einem guten Ruf; die Schweizer Expertise wird geschätzt und bietet eine vertrauensvolle Basis für eine fruchtbare Zusammenarbeit. Das Vertrauen in die Schweiz ist in Afrika unser grösstes Kapital.

Entwicklungszusammenarbeit heisst zusammen arbeiten

Die wirtschaftliche und demografische Entwicklung in den afrikanischen Ländern und die langjährige humanitäre Tradition der Schweiz schaffen eine Basis dafür, dass die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit und Afrika auch in Zukunft eng miteinander verbunden sind – im Interesse aller Beteiligten. Gleichzeitig ist es an der Zeit, Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr als einseitige Unterstützung, sondern als Zusammenarbeit zu verstehen.

Entwicklungszusammenarbeit ist das gegenseitige Verständnis und Interesse, Voraussetzungen zu schaffen, lokales Potenzial vor Ort nachhaltig zu entwickeln und zusammen an diesem Ziel zu arbeiten. Afrika hat viel wirtschaftliches Potenzial, eine dynamische Jugend und eine heranwachsende Mittelschicht in den Städten, die grundsätzlich offen sind für unsere freiheitlichen Werte. Als wirtschaftlich starkes und innovatives Land sollten wir sie auf ihrem Weg unterstützen, damit sie ihre Lösungen vor Ort umsetzen können. Auch im Interesse der Schweiz.

Florian Maier, zvg.

Arm gefördert

Niger kommt wirtschaftlich nicht vom Fleck, und das liegt vor allem auch an der heutigen Ausgestaltung von Entwicklungshilfe. Ein Zwischenruf eines Schweizer Unternehmers vor Ort.

 

Niger ist ein Binnenland in Westafrika mit rund 1,2 Millionen km² Fläche. Davon sind rund 60 Prozent Wüste, 20 Prozent Kulturfläche und 20 Prozent Trockensteppe, die (zumindest saisonal) Viehzucht zulässt. Es ist eines der ärmsten Länder der Welt oder gar das ärmste. Das zeigt sich auch im Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen3: Im Gesamtranking des Index belegt Niger den 189. und damit letzten Platz. Nirgendwo ist die Fertilitätsrate höher: Eine Frau gebärt durchschnittlich sieben Kinder (in der Schweiz: 1,5). Mit einem Medianalter von 15,2 Jahren (Schweiz: 43,1) hat Niger die jüngste Bevölkerung der Welt.

Wirtschaftlich hinkt Niger den weltweiten Entwicklungen nach. Eine industrielle Basis fehlt dem Land komplett, nicht nur komplexe Produkte wie Medikamente und Autos, sondern auch Basisprodukte wie Speiseöl, Fruchtsäfte, Seife und Baustahl werden allesamt importiert. Exportiert werden hauptsächlich Uran, Erdölprodukte, Sesam und Gold. Im Jahr 2018 standen Exporten im Wert von 539 Millionen Dollar Importe von 1,15 Milliarden gegenüber, was in einem Handelsbilanzdefizit von 611 Millionen resultierte.4

Dass die Statistik nicht den gesamten Handel mit dem Ausland abbildet, ist ein offenes Geheimnis. Vor allem aus Nigeria werden im grossen Ausmass subventioniertes Benzin sowie Fertignahrungsmittel wie Bouillonwürfel, Coca-Cola oder Nudeln ins Inland geschmuggelt. Zu den verdeckten Exporten aus Niger gehören vor allem domestizierte Tiere (Ziegen, Schafe, Rinder) und deren Produkte (vor allem deren Häute, also Rohleder). Vieles ist unklar, doch eines steht fest: Aus Niger fliesst durch die Handelsgeschäfte mehr Geld heraus als hinein. Ein Ungleichgewicht, das irgendwie finanziert und gestützt werden muss.

Stetiger Finanzstrom als fataler Fehlanreiz

Ausgeglichen wird das Handelsbilanzdefizit durch Entwicklungshilfe aller Art. Eine kurze Autofahrt durch das Zentrum der Hauptstadt Niamey zeigt den Einfluss der internationalen Hilfsorganisationen: Anstelle von Handelsfirmen, Kleidergeschäften und Finanzdienstleistern prangen an den Villen in bester Lage die Schilder von Nichtregierungsorganisationen, UN-Unterorganisationen, nationaler und multinationaler Hilfswerke. Sie bauen Schulen, installieren Solaranlagen oder verteilen Nahrungsmittel.

Das Fehlen einer gesunden Privatwirtschaft macht sich auch bei einem Blick in die Staatsfinanzen bemerkbar: Direkte Steuereinnahmen werden mehrheitlich von einigen wenigen Minenfirmen und Telekomgesellschaften hereingeholt. Das reicht bei weitem nicht aus, um Dutzende Ministerien zu finanzieren. Durch die Anbindung der Währung an den Euro ist auch eine Finanzierung über die Notenpresse nicht möglich. Der Staat Niger ist also auf die internationalen Entwicklungsgelder als wichtige Einnahmequelle angewiesen.

Die grössten und sichtbarsten Projekte werden durch Entwicklungsbanken wie zum Beispiel die Weltbank finanziert. Sie vergeben ein günstiges Darlehen an den Staat Niger, womit dieser dann ein definiertes Projekt umsetzen kann. Im Jahr 2019 hat die Weltbank alleine in Niger 733 Millionen Dollar an Krediten vergeben5. Dieses Geld ist ein stetig fliessender, nicht versiegender Finanzstrom, auf den sich das ganze Land ausrichtet.

«Aller dans la politique»

Eigentlich gäbe es doch Hoffnung: Die junge Generation in Niger, die eine Anstellung sucht, ist oft besser ausgebildet als ihre Eltern. Die untere Mittelschicht schickt die Kinder in die Schule, um lesen und schreiben zu lernen, die obere Mittelschicht ins «Lycée» und auf die lokale Universität, die Eliten senden ihre Sprösslinge fürs Studium ins Ausland. Es gibt in Niger keinen Mangel an Ingenieuren, Finanz- und Projektmanagern oder Marketingspezialisten. Nur finden diese – da es kaum Unternehmen gibt – keine Arbeitsstelle. So erklärte mir etwa ein junger Mann, der nach seinen Studien in Frankreich zurückgekehrt ist, dass er keine Arbeit finde und es deshalb wie alle anderen mache: «Hast du studiert und keinen Job, gehst du in die Politik.»

Man nennt das «aller dans la politique» – eine Karrierewahl, die sich durchaus lohnt: Ältere, einflussreiche Staatsbürger, die schon lange «dans la politique» sind, werden als Krönung ihrer Karriere vom Präsidenten mit einem Ministerposten versehen. Dabei wird darauf geachtet, dass möglichst viele «grosse Familien»6 eingebunden werden. Das dient dem Machterhalt des Regimes gleich doppelt: Einerseits sind mächtige, potentielle Oppositionelle so ins Regime eingebunden. Andererseits können diese durch ihr Beziehungsnetz massgeblich Stimmen für die nächste Präsidentenwahl generieren. Stand Mai 2020 hat das Land einen Premierminister, 36 Ministerien und ein gutes Dutzend «Präsidiumsberater im Ministerrang».

Ministerien wollen stets zusätzliche Gelder für ihr Wirken finden – in anderen Worten: Es ist ihre Aufgabe, möglichst viele Entwicklungskredite für ihr Ressort zu erhalten. Das Ministerium «zur Förderung der Frau und zum Schutze der Kinder» oder das Ministerium «zur Förderung des jungen Unternehmertums» wurden wohl eigens dazu gegründet, um für entsprechende Kreditlinien besser aufgestellt zu sein. Projekte werden von Stäben und Abteilungen sauber geplant und so lange aufgeschoben, bis irgendein Drittstaat oder eine Nichtregierungsorganisation diese bezahlt. Aus dem «ordentlichen Budget» kann alles bezahlt werden, etwa ein Flughafenterminal exklusiv für den Präsidenten.7

Kann ein Projekt erfolgreich an Land gezogen werden, ist der Minister mit seinem Team für die Feinverteilung der Gelder, sprich für die Auftragsvergabe an die einzelnen Auftragsnehmer, zuständig. Eine tolle Gelegenheit, das eigene Beziehungsnetz zu pflegen: Zu überhöhten Preisen werden Aufträge an Freunde vergeben, die sich dann mit einer «Kommission» bedanken. Ganz dreiste Minister gründen über einen Strohmann die Firma, die den Auftrag erhält, gleich selbst. Als Faustregel werden zum Beispiel für Bauprojekte die vierfachen Materialkosten verrechnet: einen Teil für das Material, einen Teil für die übrigen Kosten, einen Teil als Gewinn und einen Teil als «Kick-back». Erzählt wurde mir das von einem Metallbauer, ein Bauunternehmer hat mir die Faustregel dann später bestätigt.

Natürlich gibt es auch Gegner dieses nepotistischen Systems. Doch wer sich wehrt, muss mit heftigem Widerstand rechnen: Alle, die in Niger Rang und Namen haben, profitieren direkt oder durch einen nahen Verwandten oder Freund vom System.

«Im Jahr 2019 hat die Weltbank in Niger

733 Millionen Dollar an Krediten vergeben.

Dieses Geld ist ein stetig fliessender, nicht versiegender

Finanzstrom, auf den sich das ganze Land ausrichtet.»

Süd-Süd-Hilfe

Etwas anders funktioniert die Süd-Süd-Hilfe, also die Entwicklungshilfe durch Schwellenländer wie die Türkei, Indien, die Golfstaaten und vor allem China. Es werden dabei die Unternehmen des Geberlandes involviert und Kredite vergeben, um die eigenen Unternehmen zu fördern. In einer Art Exportförderung soll das Geld direkt oder indirekt wieder ins eigene Land zurückfliessen.

In westlichen Medien wird oft erwähnt, dass diese Art der Entwicklungshilfe bei Potentaten beliebter sei, weil bei der Kreditvergabe weniger Fragen gestellt würden. Das stimmt aber nur bedingt: Ins Programm aufgenommen werden zusätzliche, oft sachfremde Vertragspunkte wie zum Beispiel Konzessionsvergaben, Verlustgarantien oder Joint-Ventures. Bei dieser Art von «Hilfe» stehen nicht die Nachhaltigkeit oder der Social Impact im Vordergrund, sondern wie viel Geld direkt in die Auftragsvergabe oder aber – indirekt über Gegengeschäfte – zurück ins Geberland fliesst.

Solche Deals sind dann natürlich nur wenig transparent. Da aber zeitnah mit Entwicklungshilfe Unternehmen desselben Landes plötzlich in Niger tätig werden, kann man einen Zusammenhang nicht ausschliessen. Einige Beispiele:

– Die Türkei baut und betreibt im Rahmen eines Entwicklungsprojekts ein Netz aus Mittelschulen. Die 2019 abgeschlossene Totalrenovation des Flughafens und ein Fünfsternehotel wurden sodann von einem türkischen Bauunternehmen, SUMMA, gebaut und werden seither in Konzession betrieben.

– Indien vergibt einen Kredit für ein Kongresszentrum, komplett mit Mahatma-Gandhi-Platz. Dieses wurde acht Monate nach dem Kongress der Afrikanischen Union auch fertiggestellt. Gleichzeitig baut ein indisches Konsortium ein anderes Fünfsternehotel und kauft ein heruntergekommenes Hotel (inzwischen herabgestuft auf 4  Sterne) dazu. Dieses Hotel wurde seinerseits 1979 mit Krediten der Europäischen Investitionsbank gebaut.8

Die chinesische staatliche Ölgesellschaft Zhongguo Shiyou (China National Petroleum Corporation) erwirbt im grossen Stil Förderrechte für Erdöl im Norden und Osten Nigers. Dazu gebaut werden eine Pipeline und eine Raffinerie. Gleichzeitig hilft China mit dem Bau zweier Brücken über den Fluss Niger in der Hauptstadt sowie einer modernen Ringstrasse, die rund um die Stadt führt und die zwei Brücken verbindet. Hinzu kommt ein modernes Krankenhaus, das sich auf einem 16 Hektar grossen Grundstück erstreckt. Ein Fünfsternehotel auf dem Firmengelände der Zhongguo Shiyou darf dann auch nicht fehlen. Gebaut wird das alles von einem halbstaatlichen chinesischen Baukonsortium.

Die meisten Nigerer freuen sich zwar, dass die Stadt so «verschönert» wird. Gegenüber den neuen Playern zeigt sich aber auch eine Skepsis: Amerikaner und Westeuropäer kennt man bereits, man spricht ihre Sprache und durchblickt die Gründe, wieso sie in Niger entwickeln. Inder und Chinesen dagegen waren bis anhin unbekannt. Man weiss noch nicht genau, was sie hier erreichen wollen.

Eine Zukunft ohne Entwicklungshilfe

Wie kommt Niger weg vom letzten Platz im Human Development Index? Die Entwicklungshilfe vor Ort fördert die Korruption und ist nicht nachhaltig. Um dieses Problem zu beseitigen, muss eine industrielle Basis aufgebaut werden, die einen massgeblichen Teil der wichtigsten im Inland konsumierten Produkte selber herstellt. Durch die tiefen Landpreise und Lohnstückkosten weisen viele Produkte im Inland einen absoluten und im Ausland einen komparativen Wettbewerbsvorteil auf; sie könnten also problemlos regional oder gar interkontinental exportiert werden. Dieser Aufbau muss durch private, profitorientierte Investitionen geschehen. Der bisher gegangene Weg von Entwicklungshilfe, die nicht profitorientierte Projekte und Staatsstellen unterstützt, hat versagt. Ein Blick nach Asien zeigt uns dasselbe: Nicht die Entwicklungshilfe, sondern die Industrialisierung hat Länder wie Südkorea und Malaysia von der Dritten in die Erste Welt befördert. Die UN haben ihre Millenniumsentwicklungsziele im wesentlichen dadurch erreicht, dass in China durch die privatwirtschaftliche Industrialisierung hunderte Millionen aus der Armut befreit wurden.

Chinesische KMU sind nahezu die einzigen, die diese Indus­trialisierung nun auch in Niger vorantreiben: Beispiele dafür sind eine Fabrik zur Fertigung von Türen und Fenstern, eine Werkstatt zur Reparatur und zum Import chinesischer Lastwagen, ein Ingenieurbüro für Solarlösungen, ein Hotel, das die Bedürfnisse der temporär anwesenden Techniker abdeckt, und natürlich auch chinesische Restaurants.

Europäische Unternehmen, sofern sie überhaupt präsent sind, verfügen höchstens über einen letzten Aussenposten zum Verkauf in Niger, etwa DHL, Air France oder Bolloré. Über Generalimporteure sind auch Kraftfahrzeughersteller wie Mercedes und Iveco in Niger repräsentiert. Schweizer Unternehmen sind vor allem durch ihre Produkte vor Ort, die von Grosshändlern (Commerçants) importiert und vertrieben werden. Nestlé betreibt ein Werk in der Elfenbeinküste, erhältlich sind auch Konsumgüter wie etwa Schokolade von Lindt und Bonbons von Ricola.

Gute Voraussetzungen für Investitionen

Dabei sind die Voraussetzungen für Investitionen sehr gut: Neue Gesetze erleichtern und schützen ausländische Direktinvestitionen. Eine Kapitalgesellschaft kann in 2 bis 3 Tagen gegründet werden, auch andere Formalitäten können rasch und unkompliziert erledigt werden. Man findet nicht nur ausreichend ausgebildete Leute für die meisten Tätigkeiten, sondern auch einen jährlich um 5 Prozent oder mehr wachsenden Markt. Land kann spottbillig erworben werden.

Lokal produzierte Produkte haben einen grossen Vorteil gegenüber Konkurrenzprodukten, die zuerst mit dem Schiff nach Cotonou oder Lagos gebracht und dann über hunderte Kilometer mit dem Lastwagen herangekarrt werden müssen. Die von mir mitgegründete Firma Invest-in-Niger versucht deshalb, Investoren für derartige Projekte zu finden. Aktuell zum Beispiel für eine Ölmühle, die die im Land weitverbreiteten Erdnüsse zu Speiseöl verarbeitet (in Konkurrenz zu importiertem Speiseöl mit aktuell rund 50 Prozent Marktanteil). Mit diesem Projekt erhalten rund fünfzig bis hundert Leute eine Arbeitsstelle sowie Hunderte von Kleinbauern ein Bareinkommen. Ein Entwicklungsprojekt ist es jedoch nicht: Da ein Produkt hergestellt wird, nach dem eine echte Nachfrage besteht, kann und soll die Gesellschaft Gewinne abwerfen. Denn eine nachhaltige Entwicklung entsteht nur, wenn sie beidseitig vorteilhaft ist.

Zeitbombe Demografie

Afrika hat jetzt die Chance, eine demografische Dividende einzufahren. Lässt man sie ungenutzt, treffen die Konsequenzen auch Europa.

 

Es ist absehbar, von vielen wird es aber verdrängt: Die Bevölkerung auf unserem Planeten wird im 21. Jahrhundert nicht nur weiter anwachsen, das Wachstum zeigt auch eine andere Dynamik. Während die OECD-Länder und zunehmend auch die Schwellenländer aufgrund anhaltend niedriger Geburtenraten demografisch stagnieren oder zu schrumpfen beginnen, zeigen die Prognosen für den afrikanischen Kontinent ein anderes Zukunftsbild: Bei einem angenommenen Wachstum von 2,6 Prozent pro Jahr wird sich seine Bevölkerung von aktuell 1,3 Milliarden Menschen in den kommenden 30 Jahren – also bis 2050 – verdoppeln; setzt sich das so fort, leben am Ende dieses Jahrhunderts 4 bis 5 Milliarden Menschen auf dem afrikanischen Kontinent (Abb. 1).

Wesentliche Ursache für die Bevölkerungszunahme ist der Rückgang der Kinder- und Müttersterblichkeit in den vergangenen Jahrzehnten. Gleichzeitig blieben die Geburtenraten insbesondere in Subsahara-Afrika nahezu unverändert, je nach Land waren es 4 bis 7 Kinder pro Frau. Unter diesen Bedingungen ist es herausfordernd, eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu entfalten, welche dauerhafte Perspektiven für die dort lebenden Menschen schafft. Wie gehen die 55 Staaten Afrikas, aber auch die übrige Welt damit um? Reichen die bisherigen Entwicklungsansätze oder braucht es neue Denkansätze und Strategien? Der «World Economic Outlook» des IWF weist zwar für viele ­afrikanische Länder ein hohes Wirtschaftswachstum aus, allerdings mit einem bescheidenen Ausgangsniveau und vielen Un­sicherheiten in der Prognose. Gängige Wirtschafts- und Handelspraktiken sind unter diesen ­Voraussetzungen kaum eine taugliche Strategie.

Demografie als Indikator für Entwicklungen

Die Zukunft eines Landes, einer Region oder gar eines ganzen Kontinentes ist neben seiner Bevölkerungsstruktur auch von seiner Geografie, den natürlichen Ressourcen sowie von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten abhängig. Auch innerhalb Afrikas sind diese Voraussetzungen von Land zu Land sehr unterschiedlich. Die Nachhaltigkeitsziele der UNO, der weltweit anerkannte Referenzrahmen für Entwicklung, verknüpfen zwar soziale, wirtschaftliche und ökologische Komponenten. Doch sie weisen einen bedeutenden Mangel auf: Die zentralen demografischen Veränderungen spielen darin eine untergeordnete Rolle. Bedeutet das, dass Aspekte der Demografie weniger entscheidend sind? Im Gegenteil: Demografische Analysen erlauben es recht zuverlässig, Bevölkerungsentwicklungen für die kommenden 20 bis 30 Jahre zu erkennen. Bevorstehende Aufgaben in Bereichen wie Gesundheit, Ausbildung, Ernährungssicherheit, Infrastruktur oder Migrationsdynamik werden plötzlich sichtbar.

Die arbeitsfähige Bevölkerung in Afrika (15 bis 64 Jahre) wird bis 2050 von derzeit 600 Millionen Menschen auf 1,5 Milliarden zunehmen. Bis zum Jahr 2100 wird sie sogar auf fast 3 Milliarden Menschen wachsen (Abb. 2 u. 3). Aber statistische Zahlen dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Diese vielen jungen Menschen sind als Folge der Digitalisierung und Vernetzung quasi «online» über die Lebensbedingungen in der übrigen Welt informiert und fordern gute Lebensbedingungen ein. Ohne Arbeitsangebote in den afrikanischen Ländern selber werden diese Push- und Pull-Faktoren immer wichtigere Treiber für die internationale Migration.

Laut einer Gallup-Umfrage denken 42 Prozent der Afrikaner im Alter zwischen 15 und 25 Jahren über das Auswandern nach. Migration verläuft normalerweise in einem ersten Schritt Richtung Hauptstadt und dann Richtung Ausland. Eine Rückkehr findet nur selten statt. Zu einer Abnahme der Auswanderung oder gar Rückkehr kommt es im besten Fall erst, wenn das wirtschaftliche Niveau eines Schwellenlandes erreicht ist.

Auch bei den über 65-Jährigen – also jener Generation, die mit zunehmendem Alter mehr Unterstützung benötigt – tut sich was: In den nächsten 80 Jahren wird diese Altersgruppe in Afrika quasi aus dem Nichts auf 600 Millionen Menschen anwachsen. Das ist mehr als die Einwohnerzahl der EU: 2019, also vor Austritt des Vereinigten Königreichs, betrug diese ungefähr 515 Millionen. Auch das wird nicht ohne Folgen bleiben. Tragfähige soziale Sicherungssysteme abseits tief verwurzelter Familienstrukturen gibt es in Afrika kaum.

Demografische Dividende: Chance und Herausforderung für Afrika

Die Geschichte der Menschheit lehrt, dass sich eine klare Trendbewegung in der Bevölkerungsentwicklung kaum umkehren lässt. Der Übergang von hohen zu tiefen Geburtenraten, von hoher zu niedriger Mortalität und hin zu einer ständig zunehmenden Lebenserwartung erfolgt langsam, aber stetig. Gegenwärtig sinken die Sterblichkeitsraten eindrücklich, die Geburtenraten aber nur langsam oder kaum.

Auf absehbare Zeit bleiben die afrikanischen Gesellschaften enorm jung, und so könnte eine «demografische Dividende» entstehen. Darunter wird ein einmaliger und zeitlich befristeter Impuls für zusätzliches Wirtschaftswachstum über einen Zeitraum von etwa 30 bis 40 Jahren verstanden. Ausgelöst wird dieser Impuls durch eine Bevölkerungsstruktur mit relativ vielen Arbeitskräften bei einer gleichzeitig abnehmenden Zahl sehr junger Menschen in der Erziehungs- und Ausbildungsphase. Hinzu kommt, dass sich noch keine nennenswerte Gruppe von immer länger lebenden und pflegebedürftigen Menschen gebildet hat.

Es entsteht ein Zeitfenster, in dem vorhandene Mittel gezielt und verstärkt in Humankapital und Infrastruktur investiert werden können. Zugleich weitet sich auch der Konsum aus und erzeugt eine Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Diese wirtschaftlichen Auswirkungen können die Entwicklung und den Wohlstand eines Landes nachweisbar fördern. Asiatische Staaten haben in den letzten Jahrzehnten vorgelebt, wie eine demografische Dividende erfolgreich etabliert und genutzt werden kann.

Wie kann es den 55 Ländern in Afrika gelingen, eine solche «demografische Dividende» einzufahren? Entscheidend sind die Rahmenbedingungen, damit eine solche Dividende überhaupt entsteht. Die derzeit hohen Geburtenraten müssen deutlich sinken. In einigen afrikanischen Ländern ist eine solche Neuausrichtung erkennbar, sowohl bei der politischen Führung wie auch in breiten Kreisen der Gesellschaft. Herkömmliche Vorstellungen werden zunehmend enttabuisiert und traditionelle Lebensweisen in Frage gestellt, besonders die Rolle der Frauen in der Gesellschaft verändert sich spürbar. Moderne Technologien halten Einzug und unterstützen gesellschaftliche Veränderungen. Doch selbst bei allem guten Willen ist diese Transformation langwierig und herausfordernd.

Voraussetzungen eines Gelingens

Die einzelnen afrikanischen Länder haben unterschiedliche Voraussetzungen zur Schaffung ihrer demografischen Dividende. Trotzdem gibt es eine Reihe von Bedingungen, damit diese überhaupt entsteht und «kapitalisiert» werden kann.

Verlässliche Institutionen sind eine Grundvoraussetzung. Sie sind eine Voraussetzung für gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, aber auch, um mit geeigneter Politik auf Entwicklungen einwirken zu können.

– Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und gelebten Traditionen ist von fundamentaler Bedeutung. Diese kann weder von aussen noch von oben kommen, wenn sie beständig sein soll. Das Überdenken von Familienkultur und Wertvorstellungen, die Stärkung der Rechte der Frauen sowie Investitionen in Bildung und Verbesserungen der Gesundheitsversorgung sind entscheidend.

– In vielen Ländern können die Menschen ihre «reproduktiven Rechte» nicht in vollem Umfang ausüben, d.h. nicht selbst über die Anzahl Kinder entscheiden. Wissen über Verhütung und Zugang zu sicheren, wirksamen und bezahlbaren Verhütungsmitteln sind noch immer eingeschränkt, ebenso die medizinische Betreuung während Schwangerschaft und Geburt.

– Zur gewinnbringenden Nutzung der demografischen Dividende sind die Förderung und Ausweitung von Bildung, Ausbildung und Qualifikation für Frauen und Männer unerlässlich. Diese müssen auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet sein und auch unternehmerisches Handeln fördern. Heute gibt es in Afrika fast neunhundert Universitäten, doch mehr als die Hälfte der Stu­dienabgänger findet keine Arbeit. Das Potenzial der demografischen Dividende wird so nicht ausgeschöpft.

– Die mit Abstand grösste Herausforderung ist das Schaffen von Arbeitsplätzender Schlüssel für eine demografische Dividende. Damit das gelingt, schätzt der Internationale Währungsfonds (IWF), müssen in Afrika auf absehbare Zeit jedes Jahr 18 Millionen zusätzliche Jobs geschaffen werden.

– Auch afrikanische Volkswirtschaften sind von der zunehmenden Digitalisierung betroffen, was der sehr jungen, IT-affinen Bevölkerung gute Chancen bietet.

– Schliesslich gehören vorteilhafte Handelsbeziehungen auf regionaler und internationaler Ebene zu den unabdingbaren Erfolgsfaktoren.

Aus der politischen Demografie stammt die Erkenntnis, dass die Altersstrukturen in einem Land erheblichen Einfluss auf dessen Stabilität und Friedfertigkeit haben. Ein überdurchschnittlich hoher Anteil junger Altersgruppen ohne Zukunftsperspektiven erhöht das Konfliktpotenzial und beeinträchtigt Regierungsfähigkeit, Stabilität und Entwicklungsperspektiven. Gelingt es den afrikanischen Ländern nicht, eine demografische Dividende zu schaffen und diese zu nutzen, droht eine humanitäre Notlage mit geopolitischen Auswirkungen. Soziale Unruhen und wachsende Migrationsströme wären die Folgen und würden weit über den afrikanischen Kontinent hinaus wirken.

Verantwortung und Interesse der Schweiz

Die Strategie der internationalen Zusammenarbeit 2021–2024 der Schweiz, die zurzeit im Parlament beraten wird, gibt den afrikanischen Ländern im Rahmen einer neuen geografischen Prioritätensetzung einen höheren Stellenwert. Auch wenn es kaum offen angesprochen wurde, haben demografische Überlegungen für diese Schwerpunktsetzung zweifellos eine Rolle gespielt. In der neuen Strategie wird auch die Migration als Schwerpunktthema festgelegt, die wesentlich als Folge demografischer Veränderungen entsteht, wenn es für Menschen im arbeitsfähigen Alter im eigenen Land keine wirtschaftlichen Perspektiven gibt.

Demografische Entwicklungen sind schwierig zu steuern und noch schwieriger zu kontrollieren. Doch wir können uns auf sie vorbereiten und lernen, besser mit ihnen umzugehen und schliesslich ihr Potenzial zu nutzen. Aus diesem Grund ist die Generierung und Verbreitung von Wissen, das auf demografischen Kennziffern basiert, wichtig zur Erarbeitung zukunftsfähiger Lösungen. Heute fehlt es noch an griffigen Instrumenten zur Abschätzung bevorstehender gesellschaftlicher Veränderungen und der Entscheidungsfindung im politischen Prozess. Es ist höchste Zeit, dass wir uns die Erkenntnisse aus der Demografie zunutze machen.

Nicht alle Wege führen
nach Europa

Viele afrikanische Migranten reisen via Niger und den Sudan nach Libyen und dann nach Italien und Spanien. Rund die Hälfte von ihnen verbleibt aber auf dem Kontinent.

 

Rechtsextreme und nationalistische Stimmen beschwören in Anbetracht der Migrationsströme aus Afrika gerne den Untergang Europas und warnen vor einem «grossen Austausch». Mit Corona ist plötzlich alles anders: Die meisten afrikanischen Länder haben vorübergehend ihre Grenzen geschlossen, um die Verbreitung der Pandemie einzudämmen. Die innerregionale Migration hat vorerst drastisch abgenommen, zehntausende afrikanische Migranten sind gestrandet. Es ist heute kaum vorhersehbar, wie die Migrationsströme in und aus Afrika während den nächsten Monaten aussehen werden. Was wir aber mit Sicherheit wissen: Das Thema der Eindämmung illegaler Einwanderung wird für die europäischen Regierungen wichtig bleiben.

Viele Massnahmen der Vergangenheit beruhten auf Missverständnissen über Migration von Afrika nach Europa: Oftmals werfen Politiker und Kommentatoren legale und illegale Migration in einen Topf. Sie übersehen dabei, dass zahlreiche Afrikaner ganz geregelt nach Europa reisen, zum Beispiel um zu studieren oder zu arbeiten.

Migranten verstehen

Migranten haben verschiedene Beweggründe – strukturelle wie persönliche. Wirtschaftliche Faktoren – Armut oder das Streben nach besseren Beschäftigungschancen – werden in den Schlagzeilen zwar häufig als Auswanderungsgrund genannt. Tatsächlich aber können sich die ärmsten Afrikaner die teure Reise von Afrika nach Europa kaum leisten; sie kostet mindestens einige Tausend Euro. Entsprechend muss die Entscheidung zum Auswandern als komplexe Entscheidung betrachtet werden, die unter anderem auf einer Kosten-Nutzen-Abwägung zwischen den Chancen im Heimatland und denen im Ausland aufbaut. Eine Studie zeigte 2019, dass viele afrikanische Migranten in Europa zuvor in ihrer Heimat angestellt gewesen waren – und das zu relativ guten Löhnen. Dennoch brachte sie die Aussicht auf bessere Perspektiven nach Europa.9

Die Entscheidung zum Auswandern wird noch von anderen Faktoren beeinflusst, etwa vom eigenen Wohlergehen und von Zuversicht in die Zukunft. Diese Wahrnehmungen hängen weitgehend davon ab, wie gut der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit, aber auch zu Infrastruktur wie Trinkwassersystemen, Sanitärversorgung oder Elektrizität ist. Studien in Ländern wie Äthiopien oder Ghana haben gezeigt, dass die Verbesserung solcher Dienste in ländlichen Gegenden zu einem Rückgang der Emigration beitrug. Ganz so einfach ist die Diskussion aber nicht: Verbesserter Zugang zu Bildung kann auch zu mehr Migration führen, da sich besser ausgebildete Menschen mit grösserer Wahrscheinlichkeit auf die Suche nach besseren Chancen machen.

Viele Auswanderer verlassen ihre Heimat aber gar nicht freiwillig: Hunderttausende fliehen vor autoritären Regimen (in Eri­trea oder Burundi), andere vor sporadischen Gewaltausbrüchen zwischen bewaffneten Gruppen (in Somalia oder der Demokratischen Republik Kongo) oder vor Verfolgung als ethnische, religiöse, soziale oder wirtschaftliche Minderheit (in Mali oder Kamerun). Die meisten Vertriebenen zieht es jedoch keineswegs nach Europa: Sie bleiben als Binnenflüchtlinge in ihrem Heimatland oder suchen in Nachbarländern Zuflucht. Obwohl also die Zahl der Asylbewerber aus Subsahara-Afrika in der EU-28 während des vergangenen Jahrzehnts zugenommen hat, war 2019 kein afrikanisches Land unter den Top-5 der Ursprungsländer der Asylsuchenden.10 Die überwältigende Mehrheit der afrikanischen Flüchtlinge verbleibt in Afrika: 2019 lebten in Subsahara-Afrika mit mehr als 6 Mio. Menschen knapp 26 Prozent aller weltweiten Flüchtlinge.11

Ein weiterer wichtiger Faktor sind bestehende Diaspora-Netzwerke, da Vorausgereiste ihren in Afrika zurückgelassenen Verwandten oftmals finanzielle Unterstützung bieten können und ihnen so die Nachreise ermöglichen. Ein breiter Zugang zu sozialen Netzwerken kann ebenfalls eine Auswanderung begünstigen, da Migranten dadurch leichter an Informationen gelangen und Flüchtende online Kontakt mit Schmugglern aufnehmen können.

Das Märchen vom Exodus

Es gibt zwar nicht die eine Route nach Europa, viele Migranten wechseln während ihrer Reise die Richtung oder sogar das Endziel. Migrationsrouten unterliegen einem ständigen Wandel, beeinflusst von Schmugglernetzwerken, Grenzschutzmassnahmen, Gefahren auf dem Weg sowie Beschäftigungschancen. Dennoch lassen sich grobe Hauptmigrationskorridore nach Europa identifizieren: Von Ostafrika führt der Weg nach Libyen (sowie, in geringerem Masse, Ägypten) durch den Sudan; aus West- und Zen­tralafrika hingegen gelangen die Migranten oftmals über Niger nach Libyen. Andere wichtige Transitländer auf dem Weg nach Europa sind Tunesien, Algerien oder Marokko.

Wir kennen zahlreiche Berichte über die Gefahren, denen die Migranten auf dem Weg nach Europa ausgesetzt sind. Da die Mi­granten aber meist papierlos reisen, haben sie kaum Möglichkeiten, ihre Misshandlungen anzuzeigen. Studien von UNO-Agenturen sowie von Menschenrechtsorganisationen gesammelte Zeugenaussagen zeigen, dass Migranten Opfer von Menschenhandel, Zwangsarbeit, Entführung oder Gewalt werden. Allgemein gelingt es Migranten oft nicht, ihre Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wasser und Obdach zu stillen. Und obwohl die Internationale Organisation für Migration sowie die Zivilgesellschaft versuchen, verwundbare Migranten mit Hilfsgütern zu unterstützen, bleibt diese Hilfe beschränkt und ist in den gefährlichsten Gegenden (etwa in der Wüste zwischen Niger und Libyen, wo Migranten sich verlaufen oder von bewaffneten Gruppen angegriffen werden können) nicht verfügbar.

Sobald sie in Europa angekommen sind, haben viele Migranten keine klare Vorstellung davon, wo sie sich überhaupt ansiedeln wollen. Ihre Entscheidung kann sich im Laufe der Zeit ändern, je nach Chancen und Beschränkungen – zum Beispiel in Abhängigkeit von bestehenden Diaspora-Netzwerken, wahrgenommener Offenheit des Gastlandes oder Beschäftigungschancen. Die meisten Afrikaner kommen zunächst in Italien oder Spanien an und machen sich von dort dann auf den Weg in andere europäische Länder. Akten mit Asylanträgen in der EU-28 sind eine wertvolle Quelle von Informationen hinsichtlich dieser Trends. Das Bild ist jedoch weitgehend unvollständig, da viele Migranten keinen Asylantrag stellen, sondern unmittelbar Teil der informellen Wirtschaft werden. Informationen zur Anzahl illegaler Einwanderer sind naturgemäss schwer zu erheben, und entsprechende Methoden sind oft unzuverlässig. Gemäss einer aktuellen Schätzung gab es 2017 in Europa zwischen 3,9 Mio. und 4,8 Mio. illegale Einwanderer, von denen 1 Million auf Bewilligung ihres Asylantrages warteten.12

Etwas gerät im medialen Fokus allerdings oftmals in Vergessenheit: Die Mehrheit der internationalen afrikanischen Migranten (53 Prozent, Stand 201713) bleibt auf dem eigenen Kontinent. Das gängige Narrativ einer flutartigen Exodusbewegung der Afrikaner nach Norden ist also nicht viel wahrer als ein Märchen: Nur eine Minderheit macht sich tatsächlich auf den Weg nach Europa.

Überzogene Versprechen vermeiden

Aus der Komplexität der Migrationsmotive und -routen folgt, dass einfache Massnahmen vonseiten der Politik nicht ausreichen werden, die Bewegungen einzudämmen. Und doch bleiben europäische Regierungen auf die Zahl spontaner Ankünfte an den Küsten Südeuropas fixiert und investieren erhebliches politisches Kapital in das Alleinziel einer kurzfristigen Verringerung.

Einige Massnahmen der EU scheinen zwar vielversprechend, doch bringen sie keine unmittelbaren oder nachhaltigen Ergebnisse. Obwohl beispielsweise die EU 2015 einen zweckbestimmten Treuhandfonds für Afrika aufgelegt hat, um an den Grundursachen der Migration anzusetzen, gibt es Hinweise, dass sich Mi­gration durch Entwicklungspolitik nicht schnell verringern lässt. Tatsächlich nimmt sie womöglich sogar kurzfristig zu, da sich mehr Menschen im Ausland nach besseren Chancen umsehen, wobei ihnen der neuerliche Zugang zu Ressourcen dabei hilft, ihre Reise zu finanzieren.14 Auch hat die Europäische Kommission die Schaffung zusätzlicher legaler Pfade für Migranten und Flüchtlinge aus Afrika angeregt sowie die Umsiedlung von Flüchtlingen unterstützt. Studien zeigen aber, dass zusätzliche legale Pfade nicht automatisch zu weniger Ankömmlingen führen. Zu guter Letzt haben europäische Regierungen beträchtlichen Aufwand betrieben, um Länder wie Libyen zu strengeren Grenzkontrollen zu drängen. Die heikle Lage in Tripolis zeigt, dass eine solche Strategie mit einem hohen politischen und moralischen Preis verbunden sein kann.

Es gibt keine einfache Lösung, um eine sichere, geordnete und koordinierte Migration zwischen Afrika und Europa zu erreichen. Europäische Regierungen wären gut beraten, keine luftdichten Grenzen zwischen den beiden Kontinenten zu versprechen und stattdessen auf eine Kombination kurzfristiger und langfristiger Lösungen zu fokussieren – von internationaler Zusammenarbeit über die Zerschlagung von Menschenhändlerringen bis hin zu einer solideren Rückführungs- und Reintegrationsstrategie. Auch sollten sie konsistente Anstrengungen unternehmen, die Lebensbedingungen in den Heimatländern der Migranten zu verbessern. Und auch die afrikanische Perspektive zählt in der Migrationsdebatte: Europäische Länder sollten weiter in die Beziehungen zu ihren afrikanischen Partnern investieren und Ansätze auf deren Bedürfnisse zuschneiden. Es ist der einzige Weg, eine nachhaltige Zusammenarbeit in Sachen Migration sicherzustellen.

Maaza Mengiste, fotografiert von Nina Subin.

«Seien Sie vorsichtig, wenn das Militär zu einer Stimme der Vernunft wird»

Aus New York City arbeitet die Schriftstellerin historische Ereignisse in Äthiopien kreativ auf. Ihr halbes Jahr in Zürich hat sie ausgerechnet während der Pandemie verbracht.

Ihr erster Roman, «Beneath the Lion’s Gaze», behandelte 2010 die kommunistische Ära unter Diktator Mengistu, der die marxistisch-leninistische Militärorganisation namens Derg anführte. Ihr zweiter, «Shadowking», erschien 2019 und behandelt die italienische Invasion in Äthiopien 1935. Weshalb der lange Unterbruch?

Die Erforschung der historischen Fakten dauerte fast acht Jahre. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist kompliziert und ich wollte, auch wenn das Buch Fiktion ist, nichts falsch darstellen. Ich habe auch in Italien recherchiert und dabei die von den Faschisten gespeicherten (und von ihnen bereits zensierten) Dokumente ausgewertet und dabei Italienisch gelernt. Diese Dokumente zeigten, wie Faschisten wollten, dass die Geschichte in Erinnerung bleibt. Natürlich habe ich auch mit italienischen Freunden gesprochen. Aber es war schwierig: Einer beschrieb das Thema Äthiopien als eine Mauer, die nicht einmal mit dem eigenen Grossvater überwunden werden kann.

Wie sind Sie denn vorgegangen?

Ich fing an, in Antiquitätengeschäften und auf Flohmärkten in ganz Italien nach Briefen, Tagebüchern oder Fotografien zu suchen. Gefunden habe ich vieles: Auf italienischen Flohmärkten gibt es fast immer einen Faschistentisch, auf dem dann beispielsweise Mussolini-Statuen stehen. Ich fragte die Händler stets, ob sie etwas über die Kolonialzeit im Angebot hätten. Einige Anbieter halfen mir und informierten mich auch danach, wenn sie etwas erhielten, das mich interessieren könnte; häufiger aber schickten sie mich weg. Dann habe ich halt einen italienischen Freund gebeten, an den gleichen Tisch zu gehen und nach Fotos zu suchen. Sie haben das dann gekauft für mich, und so habe ich viele meiner Informationen erhalten. Fotos mit Bemerkungen darauf waren für meine Forschung sehr wichtig.

Sie haben auch in Äthiopien recherchiert. Was haben Sie dort gefunden?

Die Italiener führten Unterlagen, machten Fotos, besassen Kameras. Die Äthiopier haben mündliche Überlieferungen, das Familiengedächtnis. Meistens erhielt ich meine Informationen aus zweiter oder dritter Hand. Ich musste mir die Geschichten ansehen, sie mit diesen Archivmaterialien vergleichen, sie mit Fotos und Tagebucheinträgen vergleichen und versuchen, daraus eine vollständigere Geschichte zu erstellen. Viele Erinnerungen und Geschichten, die ich erzählt bekommen habe, waren Geschichten von Heldentum und Trotz, von Tapferkeit, meistens über Männer. Natürlich gab es das, aber über die Demütigungen des Krieges habe ich keine einzige Geschichte gehört.

In «Shadowking» haben Sie einen fiktiven Rahmen geschaffen, aber man merkt, dass viel persönliche Geschichte drinsteckt.

Ich wollte Fragen der Intimität untersuchen, die zwischen Menschen auftreten, die Feinde sein sollen. Was passiert, wenn sie interagieren, wie entwickeln sich ihre Beziehungen? Es geht mir um die Grauzonen des Krieges, um jene Bereiche, die nicht vollständig sauber geschnitten sind. Der Charakter von Ettore, einem jüdischen Fotografen, basiert auf Geschichten von italienischen Juden, die in Äthiopien mit dem italienischen Militär kämpften, aber wegen der antisemitischen Gesetze zurückgerufen wurden. Oft wurden sie in Lager gesteckt und schliesslich nach Auschwitz geschickt. Wie ist es, Teil einer Armee zu sein und rassistische Gesetze durchzusetzen, aber in der nächsten Minute zu sehen, wie sich die Gesetze gegen sie wenden? Wie fühlt sich das an? Ich wollte diese Ideen von Loyalität und Verrat in meinem Buch diskutieren.

Im Roman zieht eine Gruppe von Frauen in den Krieg. Wie viele Frauen kämpften denn tatsächlich gegen die Italiener?

Ich fand Zeitungsberichte von einer oder zwei Gruppen von Frauen, die in die Armee eingetreten sind. Ein Historiker erzählte mir, dass es eine bedeutende Anzahl kämpfender Frauen gab.

Wird die afrikanische Gesellschaft nicht stark von Männern dominiert?

Es gibt in ganz Afrika matrilineare Kulturen mit langer Tradition. In Äthiopien kämpften nicht nur Frauen im Krieg, es gab auch Kaiserinnen, die das Land regierten: Es war eine Frau, die 1896, im ersten Kampf gegen Italien, 40 000 Männer führte. Der Fortschritt kommt langsam: Als meine Mutter die High School besuchte, waren die Ehen der meisten Frauen arrangiert. Meine Generation war die erste, die heiraten kann, wen sie will. Und jetzt hat Äthiopien eine Präsidentin, und auch der Oberste Gerichtshof wird von einer Frau geleitet.

«Es gibt in ganz Afrika matrilineare Kulturen

mit langer Tradition.»

Sie wurden 1971 in Addis Abeba geboren, und ihre Familie musste während der äthiopischen Revolution fliehen. Viele Dinge aus dieser Zeit sind in Ihrem ersten Roman enthalten. Können Sie mir etwas über die kommunistische Ära erzählen? In dieser Zeit sollen über 1 Million Menschen in Äthiopien gestorben sein.

Niemand kennt die genauen Zahlen. Aber ich kenne keine einzige äthiopische Familie, die nicht betroffen war. Diese Revolution hat Äthiopien völlig verwüstet. Während der Herrschaft der Derg wurde systematische, alle betreffende Gewalt ausgeübt. Was derzeit in Ägypten und Syrien passiert, geschah 1974 in Äthiopien: Es gab Leute, die plötzlich verschwanden, geheime Inhaftierungen, geheime Lager.

Was haben Sie daraus gelernt?

Mein Rat ist: Seien Sie vorsichtig, wenn das Militär in einem Land zu einer Stimme der Vernunft wird. Weil es für Stabilität und Ordnung steht, neigen Menschen in chaotischen Situationen dazu, ihm Macht zu übertragen. Doch Armeeangehörige wissen nicht, wie sie zivile Regierungen aufbauen sollen. In Äthiopien führte das zu einer Diktatur.

Nach Ihrer Zeit in Addis Abeba lebten Sie in Nigeria und Kenia, nun aber in New York City.

Ja, in Queens. Die meisten New Yorker sagen, dass NYC nicht die USA sei. Ich habe das nie ganz verstanden – bis Trump gewählt wurde, jetzt verstehe ich es besser. New York ist sehr international, es fühlt sich europäischer an als andere Orte.

Sie haben Ihr halbes Jahr als Writer in Residence im Literaturhaus Zürich während der Pandemie verbracht. Was haben Sie über die Schweizer Gesellschaft erfahren?

Die Schweizer vertrauen ihrer Regierung, ihrem System. In den ersten ein oder zwei Wochen, als nicht klar war, wie schlimm es werden würde, gerieten auch die Schweizer etwas aus der Fassung. Doch sie fingen bald an, sich zu entspannen und die Regeln zu befolgen. Die Ruhe hier in der Schweiz stand im Gegensatz zur Panik, Wut und Frustration, die ich über die Situation in den USA hörte. In New York und den Vereinigten Staaten sind die Menschen, insbesondere seit Trump gewählt wurde, unruhig, wütend und frustriert. Deshalb sind die Leute jetzt auf den Strassen. Es sind Proteste, die sich wirklich anders anfühlen als in anderen Jahren.

Wie zufrieden sind Sie mit der aktuellen äthiopischen Regierung?

Für mich ist das eine komplizierte Frage. Premierminister Abiy Ahmed hat ja bekanntlich den Friedensnobelpreis gewonnen: Er hat alle politischen Gefangenen, die während der Herrschaft des alten Regimes in Äthiopien Ende der 1990er Jahre eingesperrt wurden, freigelassen; er hat die Presse geöffnet, die freie Meinungsäusserung wieder ermöglicht. All dies geschah in den ersten drei Monaten, in denen er an die Macht kam. Ich ging zurück nach Äthiopien und sagte meiner Mutter, dass ich möglicherweise zurückkommen müsse, wenn die Dinge in den USA wegen Trump gefährlich würden. Nun gibt es auch wieder Spannungen in Äthiopien, aber das ist nachvollziehbar: Es ist unmöglich, ein System, ein Land in nur drei oder vier Jahren zu ändern.

Viele afrikanische Länder haben riesige Geldbeträge von westlichen Ländern erhalten. Doch sie entwickeln sich sehr langsam, wenn man sie beispielsweise mit China oder Südkorea vergleicht. Warum ist das so?

Abiy Ahmed schrieb kürzlich in der «New York Times», dass die europäischen Länder den afrikanischen Ländern einen Schuldenerlass anbieten sollten. Stellen Sie sich vor, welches Potenzial sich freisetzen könnte, wenn die afrikanischen Nationen nicht mit der Rückzahlung dieser Schulden belastet wären. Die Beziehungen Europas zu Afrika waren nie ausgewogen. Europa hat von afrikanischen Arbeitskräften und Ressourcen profitiert.

Wie sieht die Zukunft aus?

Was auf dem gesamten Kontinent passiert, darüber habe ich nur begrenzte Kenntnisse. Aber mir scheint, Afrika mache Fortschritte. Was ich beurteilen kann, ist die Welt der Künste, und da sind mir zuletzt sehr viele brillante Arbeiten afrikanischer Künstler aufgefallen. Überhaupt ist Afrika ein unglaublich lebendiger und kreativer Kontinent und aus meiner Sicht überhaupt kein hoffnungsloser Fall.

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